Ein Wochenende aus LICHT mit Stockhausen in Amsterdam.
Beim Holland Festival wurde vergangenes Wochende unter dem Titel aus LICHT erstmals gut die Hälfte von Karlheinz Stockhausens Opernzyklus Woche aus Licht zusammenhängend aufgeführt. Im Rahmen des Marathonprojekts mit über 600 Mitwirkenden kehrte dabei auch das legendäre Helikopter-Streichquartett nach Amsterdam zurück, wo es vor fast einem Vierteljahrhundert aus der Taufe gehoben worden war. Doch die Highlights waren vor allem andere Teile aus Stockhausens opus magnum – und dessen zumindest teilweise Gesamtheit.
Am Anfang war die Idee, und die Idee war verlockend: erstmalig den gesamten Licht-Zyklus von Stockhausen mit seinen sieben Tagen der Woche vollständig aufzuführen. Doch bald wurde den Machern um Pierre Audi klar, dass sich der bislang in Gänze unaufführbare Zyklus auch bei diesem Anlauf aus finanziellen, logistischen und organisatorischen Gründen nicht stemmen lassen sollte. Und so wurde aus der Woche aus Licht immerhin ein langes Wochenende aus LICHT mit gut 15 der insgesamt 29 Stunden des Gesamtwerks, verteilt auf drei Tage. Der zweite Durchlauf findet derzeit unter der Woche statt, ab dem 8. Juni kann auf das Karussell noch einmal aufgesprungen werden.
Niederländischer Kraftakt
Laut den Veranstaltern hatte es Gespräche mit potentiellen Partnern wie etwa der Ruhrtriennale gegeben, aber letztlich blieben die Niederländische Nationaloper Amsterdam, das Holland Festival und das Königliche Konservatorium Den Haag allein zu dritt, immer in enger Kooperation mit der Stockhausen-Stiftung. Und sie hatten neben der sich selbst gestellten, gigantischen Aufgabe auch einige Widerstände vor Ort zu meistern. So gab es gegen das kostspielige Vorhaben gar eine Petition, bei der sich Traditionalisten in Stellung gebracht hatten.
Doch das aufwändige Großprojekt konnte schließlich dank vereinter Kräfte und dem Setzen auf den Nachwuchs realisiert werden. Entscheidend war dabei nicht zuletzt die finanzielle Unterstützung zahlreicher Förderer, Sponsoren und Mäzene sowie eines Crowdfundings, dessen Erträge in eine eigens für aus LICHT gegründete Stiftung flossen. Darüber hinaus waren und sind die Veranstalter zwingend auf Einnahmen aus Eintrittsgeldern angewiesen, man mag ihnen den auch finanziellen Erfolg nur wünschen. Denn künstlerisch waren die Highlights aus Licht insgesamt sehr überzeugend.

Komprimierte Woche
Die Verteilung auf drei Tage erfolgt in Amsterdam mit kleinen Ausnahmen in der Reihenfolge der Entstehung der Werke, die sich auf eine Spanne von 26 Jahren zwischen 1977 und 2003 erstreckt (auch Wagner hat für seinen Ring des Nibelungen in etwa so lange gebraucht): Als Vorabend ist der gekürzte Donnerstag dran, der Michael-Tag, darauf folgt mit Teilen aus Samstag und Montag ein Fokus auf Luzifer und Eva, umrahmt von elektronischer Musik des Freitag, bevor der letzte Tag Teile des Dienstag, Mittwoch und Sonntag umfasst.
Im Welttheater Licht geht es um alles: um das Göttliche und das Menschliche, um den Ursprung, die Zeit, Konflikte und Liebe, und es gibt sogar ein Welt-Parlament. Dabei wird inhaltlich munter aus verschiedenen Mythologien, Religionen und der eigenen Biographie geschöpft. Im Zentrum der Formelkomposition stehen die Figuren Eva, Luzifer und Michael, die jeweils sängerisch, instrumental und szenisch verkörpert werden.
Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt
Den Amsterdamer Licht-Tagen vorangestellt werden jeweils Videos mit Kindern diverser niederländischer Grundschulen, die sich zuvor mit dem Stoff und den Figuren des Licht-Zyklus befasst hatten. Der Umgang mit dem sagenhaften Material scheint den Kindern beim Malen, Spielen, Nacherzählen und Erklären der Inhalte viel Vergnügen bereitet zu haben. Die Idee der Dingsda-Filme von Pierre Audi und seinem Dramaturgen Klaus Bertisch passt jedenfalls gut zu Stockhausen und seiner Licht-Mythologie, in der das Erhabene und das Komische oft Hand in Hand gehen. Ein bisschen Karneval geht immer, und ohnehin ist Stockhausen Zeit seines Lebens ein großes Kind geblieben, das sich das Tagträumen nicht austreiben ließ. Der kindliche Enthusiasmus, sich eine eigene Welt zusammenzufantasieren, ist dem Komponisten in dem im Rahmenprogramm gezeigten Dokumentarfilm zur Entstehung des Helikopter-Quartetts sehr schön anzusehen.

Jugend musiziert
Insofern greift auch der Ansatz gut, einen wesentlichen Teil dem musikalischen Nachwuchs anzuvertrauen. Von den insgesamt über 600 Mitwirkenden sind knapp 200 Musikstudenten (der jüngste davon mit erst 16 Jahren stammt aus der Begabtenförderung) oder solche, die ihre Ausbildung gerade erst abgeschlossen haben. Während für einige solistische Parts zwangsläufig Spezialisten engagiert wurden, kamen vor allem bei den orchestralen Teilen viele Jüngere zum Einsatz. Bei den musikalischen Vorproben waren dabei zunächst nicht wenige irritiert ob der Komplexität der Noten und begegneten der ihnen fremden Musik mit einer eher konservativen Haltung, wie der Ausbildungskoordinator Renee Jonker berichtet. Doch die anfängliche Skepsis wurde von den meisten rasch überwunden und wich der Begeisterung für die teilweise enorm packende Musik, wie etwa im spektakulären Samstags-Gruß oder in Luzifers Tanz.
Jochem Valkenburg, der Leiter der Musiksparte beim Holland Festival und einer der treibenden Kräfte des Projekts, hält derweil eine Wiederholbarkeit der Produktion oder gar ein vollständiges Gastspiel für nahezu ausgeschlossen. Schließlich sind die Zusammensetzung und die kostengünstige Einbindung der jungen Mitwirkenden einmalig. So wird es wohl in jedem Fall eine »once in a lifetime experience« für das Publikum und alle Beteiligten bleiben, wie er lachend anmerkt: »Das haben wir in der Bewerbung nicht übertrieben formuliert.«

Master aus LICHT
Renee Jonker erläutert im Hintergrundgespräch auch detailliert die Ausbildung, die er in enger Zusammenarbeit mit der Stockhausen-Stiftung und dem Konservatorium Den Haag koordiniert hat. Für das Projekt wurde dort eigens ein zweijähriger Masterstudiengang eingerichtet, in dem 14 Instrumentalisten und Sounddesigner ab September 2017 eine auf Stockhausen spezialisierte Ausbildung genießen durften, jeweils in Kombination mit anderen Fächern wie z.B. Barocktrompete oder Jazz und zudem reichlich Theoriehintergrund. Dieser Master in zeitgenössischer Musik mit konkretem Praxisbezug wurde international ausgeschrieben und sollte eine neue Generation von Stockhauseninterpreten und -solisten ausbilden. Der kostenpflichtige Studiengang (mit Studiengebühren von je nach Herkunft 2.000 bis 5.000 € pro Jahr, teilweise durch Stipendien finanzierbar) zog großes Interesse auf sich, wurde von außen aber auch kritisch beäugt. Manche fragten sich, ob sich so ein »Master aus LICHT« wirklich lohnen würde, ob die Investition in diese Ausbildung nicht zu spezifisch gerate angesichts der doch überschaubaren Anzahl an möglichen Engagements. Kurzfristig fällt die Antwort eindeutig positiv aus, waren die jungen Stockhausen-Azubis als Solistinnen und Solisten doch teilweise überragend gut.

Henne oder Ei?
»Ist das nicht ein bisschen wie das Problem mit der Henne und dem Ei?«, fragt sich Posaunist Stephen Menotti, der vor drei Jahren im gefeierten Donnerstag aus Licht am Theater Basel noch Luzifer gespielt hatte und diesmal passend dazu Luzifers Armee in der bedrohlichen Invasion-Explosion des Dienstag anführte. Wird es genug Engagements für die neuen Stockhausen-Solisten geben? Oder ermöglicht nicht gerade erst die zweite und dritte Generation ein nachhaltiges Fortleben der Licht-Heptalogie?
Nach Stockhausens Tod 2007 haben sich vor allem seine ehemaligen Lebensgefährtinnen Suzanne Stephens-Janning und Kathinka Pasveer um die werktreue Verbreitung und Pflege seiner Kompositionen sowie den durch die Stiftung verwalteten Nachlass gekümmert. Die beiden, die zeitlebens auch als Interpretinnen eng mit Stockhausen verbunden waren, haben daher beim Masterstudiengang als Lehrkräfte mitgewirkt, ebenso wie der Trompeter Marco Blaauw, der Komponist und Posaunist Mike Svoboda oder der Sounddesigner (und Stockhausen-Sohn) Simon Stockhausen. Sie alle waren als Mentoren und Motivatoren wichtig, um nun die nächste Generation auf den Weg zu bringen und den Staffelstab bestimmter Partien allmählich weiterzugeben. Ob das langfristig gelingt, wird die Zeit zeigen.

Weißt du, wie das wird?
Bei der Einstudierung von aus LICHT hat allein Kathinka Pasveer etwa 460 Proben betreut und mit fast jedem beteiligten Musiker einzeln gearbeitet. Sie betont, dass für sie dabei insbesondere die Wiederbelebung der Stücke des Montag sehr wichtig war, der seit der Uraufführung 1988 praktisch nicht mehr gespielt wurde. Für die Mädchenprozession wurde eigens ein Projektchor aus diversen Kinder- und Jugendchören zusammengestellt.
Die große Frage ist generell, was passiert, wenn die Generation von Musikern, die noch mit Stockhausen direkt zusammengearbeitet haben, nicht mehr da sein wird. Die meisten Werke des Licht-Zyklus haben sicherlich das Potential, sich dauerhaft und zeitlos zu etablieren. Für lebendige szenische Interpretationen wird dabei langfristig die Loslösung von der werktreuen Kontrolle durch die Stiftung von Vorteil sein. Ein Vergleich mit der Interpretationsgeschichte von Wagners Ring, der zunächst exklusiv an Bayreuth und die Erben gebunden war, lässt auf eine zunehmende Öffnung hoffen.
Ein großer Schritt in diese Richtung war zuletzt 2016 der von Titus Engel und Laura Berman initiierte Basler Donnerstag, bei dem die Regisseurin Lydia Steier unter Aufsicht der Stiftung schon eine relativ große Freiheit genießen durfte. »Es war ein bisschen so wie das Autofahren mit der Mutter«, sagte sie dazu in einem Interview. Dennoch kam es über die progressive Inszenierung zu einem Streit mit einigen Mitgliedern der Stiftung, der den großen Erfolg bei Publikum und Presse konterkarierte.
Erlebnisraum Gashouder
Eine solche Gefahr bestand in Amsterdam nicht, da es sich hier eher um eine mise en espace als eine durchgehende Inszenierung von Regisseur Pierre Audi und Dramaturg Klaus Bertisch handelte. Einige Teile waren quasi-konzertant oder halb-szenisch angeordnet, andere hingegen vollwertig ausgestattet (Kostüme: Wojciech Dziedzic) und dabei »frei assoziierend den Vorgaben von Stockhausen folgend«, wie es Klaus Bertisch formuliert. Letztlich musste alles von der Stockhausen-Stiftung freigegeben werden, wofür vor allem die zentrale Einbindung von Kathinka Pasveer half. Sie war zudem als Zeremonienmeisterin und musikalische Leiterin hinter dem Mischpult omnipräsent, auch während der Vor- und Nachspiele mit elektronischer Musik aus dem Freitag und Mittwoch, die zu den Randzeiten angeboten und erstaunlich gut besucht wurden.
Der überwältigenden Wirkung der Musik kam die reduzierte Inszenierung Pierre Audis insgesamt sehr zugute. Vor allem die Verteilung und Bewegung der Mitwirkenden im Raum des gigantischen Gashouder der Westergasfabriek, das mit wechselnd angeordneten maximal 1.200 Plätzen bespielt wurde, wirkte stark. Sehr beeindruckend war auch die Klangtechnik mit ringsum in der Luft verteilten Lautsprecherbatterien, und nicht zuletzt das variable Bühnen- und Lichtdesign von Urs Schönebaum mit unzähligen LED-Bögen, -Linien, Moving Lights und Laserflächen. Auch der Einsatz von Live-Video auf den großen Leinwänden gelang exzellent, nur einige der Dauerprojektionen, gelegentlich an alte Bildschirmschoner erinnernd, hätte man vielleicht weglassen dürfen. Für die installativen Vor- und Nachspiele verwandelte sich der Raum in eine Kathedrale aus Klang und Licht, die man als Besucher gar nicht mehr verlassen mochte.

Außenwette als unique selling point
Die einzige Enttäuschung stellte letztlich das mit Spannung erwartete Helikopter-Streichquartett aus dem Mittwoch dar, zumal just dieses Stück neben der zugehörigen Dokumentation auch als Stockhausen’s Dream betitelte Filminstallation von Frank Scheffer im Kino der Westergasfabriek zu erleben war. Während jedoch im Original, also der Uraufführung durch das Arditti Quartet beim Holland Festival 1995, die Spannung ob der Pioniertat schier mit Händen zu greifen ist, wirkte die wiederholte Wiederaufführung eher wie ein lauer Aufguss.
Das liegt einmal daran, dass die in das Gashouder übertragene Aufführung nur über vier Leinwände zu verfolgen war, auf denen die Musikerinnen des Pelargos Quartet jeweils einzeln gezeigt wurden. Das war zwar technisch hochwertig umgesetzt, wirkte aber steril und wurde nach ein paar Minuten auch musikalisch langweilig; zumal im Gegensatz zur Filminstallation hier der anwesende Originalkünstler fehlte, der dort auf einem fünften Bildschirm in der Mitte bei seinem kindlichen Staunen zu bewundern ist. Wenn so eine Performance erstmalig gelingt, mag das große Kunst werden, aber eine Mondlandung kann eben nur einmal eine Pioniertat sein. ¶
