Der Dirigent Eduardo Strausser berichtet aus Venezuela.
»Hier redet man nicht schlecht über Chávez« steht auf einem Schild, das Reisende begrüßt, sobald sie die Passkontrolle am Flughafen Caracas passiert haben. Ich nehme den Satz eher beiläufig zur Kenntnis, zu sehr erfüllt mich die Vorfreude auf eine Woche voller Musik und Entdeckungen. Am 19. Januar hatte ich Berlin verlassen und war mit Stopover in Paris nach Venezuela geflogen, um mir das Sistema Nacional de Orquestas y Coros Juveniles e Infantiles de Venezuela, weltweit bekannt unter dem Namen »El Sistema« näher anzusehen und ein Konzert mit deren Aushängeschild, dem Orquesta Sinfónica Simón Bolívar, zu dirigieren.
Als ich fast ein halbes Jahr zuvor die Einladung des Simón Bolívar erhielt, nahm ich sie sofort an. Ich freute mich auf die Gelegenheit, mit jungen Venezolanern zusammenzuarbeiten und einen Einblick in die Lebenswirklichkeit des Landes zu bekommen. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Aufenthalt ausgerechnet mit dem historischen Moment zusammenfallen würde, in dem Millionen von Venezolanern auf die Straße gehen, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen.
Am Flughafenausgang treffe ich Valeria, die mich die Woche über begleitet. Sie selbst ist als Musikerin im El Sistema groß geworden, bis sie sich entschied, die Bratsche gegen einen Job in der Verwaltung des Projekts einzutauschen. Heute ist sie fast 30 und empfängt mich mit einem Lachen im Gesicht. Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel fange ich an, ihr all die Fragen zu stellen, die sich in den letzten Monaten bei mir angestaut haben. Valeria beantwortet sie der Reihe nach, aufmerksam und geduldig. Fast jede Antwort beendet sie mit: »Das Leben geht weiter.«
Das Luxushotel, in dem ich untergebracht werde, könnte so auch in jeder anderen Hauptstadt der Welt stehen. Von meinem Fenster aus sehe ich die Berge, die die Stadt vom Karibischen Meer trennen. Um das Hotel herum hält eine hohe Mauer das Stadtleben vom Hotelleben am Pool fern. Ich stelle fest, dass mir die gute geografische Lage von Caracas vorher gar nicht bewusst war. Vielleicht waren es die ganzen Negativschlagzeilen über Venezuela, die alles andere in den Hintergrund rücken ließen.
Mir wird empfohlen, das Hotel aus Sicherheitsgründen nicht zu verlassen. Nein, auch nicht zum Essen, im Hotel gebe es zwei Restaurants. Nach mehr als 14stündiger Anreise muss ich also meine erste Mahlzeit in der venezolanischen Hauptstadt in einem Hotelrestaurant mit asiatischer oder »internationaler Küche« einnehmen. Beim Essen begegne ich zum ersten Mal einer Auswirkung der Krise: Aufgrund der galoppierenden Inflation gibt es auf der Speisekarte keine festen Preise. Stattdessen werden sie fast jeden Tag neu angepasst.
Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich zum ersten Mal von El Sistema hörte. In den Neunzigern tourte das Simón Bolívar Orchester durch Brasilien. Das Programm gab es damals bereits über zwanzig Jahre. Es wolle, so hieß es, benachteiligte Kinder mithilfe der Musik eine Integration in die Gesellschaft ermöglichen. Alle Welt redete davon, dass dieses »Erfolgsmodell« unbedingt auf andere Ländern übertragen werden müsse.
Ich war damals mitten in die Pubertät, und dass Musik auch zu einem Werkzeug sozialer Gerechtigkeit werden könnte, war mir noch nicht bewusst. Erst zehn Jahre später lief mir El Sistema wieder über den Weg. Ich studierte mittlerweile in Zürich und besuchte dort ein Konzert des Orchesters. Es war ein emotionaler Knock-out. Selten zuvor hatten mich Musiker so bewegt wie diese Hundert Venezolaner, die mit derart großer Disziplin und Begeisterung spielten, dass die Zeit stillzustehen schien.
Wieder ein Jahrzehnt später bin ich auf dem Weg zur ersten Probe mit genau jenem Orchester, das vor zwanzig Jahren meine Phantasie beflügelt und mich während meines Studiums in der »Alten Welt« so beeindruckt hatte. Die Proben und das Konzert mit Bruckners Siebter Symphonie finden im Centro Nacional de Acción Social por la Música statt, dem Hauptsitz von El Sistema, der meistens nur »la Sede« genannt [span. für »(Haupt)Sitz«] wird. Es ist ein großer Gebäudekomplex, der den Verwaltungsbereich, Unterrichts- und Proberäume, eine Bibliothek, Kammermusiksäle, eine Cafeteria und den Konzertsaal Simón Bolívar beherbergt, der neben einer außergewöhnlich guten Akustik auch eine Orgel der Bonner Firma Orgelbau Klais besitzt. Die Bestuhlung des Saals und der Eingangsbereich von la Sede wurden vom großen venezolanischen Op-Art Künstler Carlos Cruz-Diez gestaltet.
Valeria erzählt mir im Auto, dass das Orchester mittlerweile größtenteils aus neuen Mitgliedern besteht, einige davon so jung, dass sie mit Bruckners Musik nie zuvor in Berührung gekommen seien. Ist so eine starke Rotation für das Orchester normal?, frage ich nach. Nein, erklärt sie. Die meisten Musiker der ersten Generationen hätten das Land aber aufgrund der akuten Krise verlassen, so wie, nach Angaben der Vereinten Nationen, über 3 Millionen weitere Venezolaner in den letzten Jahren. Wem sich die Gelegenheit bietet, der geht. Die Musiker von El Sistema bilden da keine Ausnahme.
In vielen Spitzenorchestern Europas und der Vereinigten Staaten spielen mittlerweile Musiker, die in dem Programm groß geworden sind und ausgebildet wurden. Die meisten davon, erzählt mir Valeria, schicken regelmäßig Dollar-Devisen, damit ihre Familien daheim in Venezuela ein halbwegs würdevolles Leben führen könnten. Der Dollar ist die offizielle Parallelwährung des Landes. Bei einer jährlichen Inflationsrate von mehr als 2.000.000 Prozent und einer vollständigen Entwertung der venezolanischen Währung Bolívar wird selbst ein einfacher Kaffee in Dollar angeboten.
In der Probenpause komme ich mit den jungen Musikern des Orchesters ins Gespräch. Mich überrascht, dass jeder eine dezidierte Meinung zur politischen Situation des Landes hat, und diese mit fester Überzeugung verteidigt. In fast allen Haltungen scheint eine große Unzufriedenheit durch über den Mangel an menschlicher Würde und das unmenschliche Verhalten der Eliten, mit dem die Bevölkerung konfrontiert ist.
Der größte Teil des Orchesters kann sich an die Zeit und das Leben vor dem Chavismus gar nicht erinnern. Die Unter-Zwanzigjährigen wurden geboren, nachdem Hugo Chávez 1999 an die Macht kam. Allerdings haben die Orchestermitglieder im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern und Jugendlichen Venezuelas die Möglichkeit, auf ihren Reisen ins Ausland andere Wirklichkeiten weit weg vom Alltag in ihrem Heimatland kennenzulernen. Sie sind über das Internet mit anderen Jugendlichen verbunden und tauschen Nachrichten darüber aus, was im Rest der Welt passiert. Die Zensur der Medien, welche die Regierung Maduro verhängt hat, trifft sie nicht, solange sie sich über Instagram informieren. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht herausgefunden habe, scheint Facebook in Venezuela nicht so beliebt wie Instagram zu sein. Die Zahl der Fotos und Stories, die die jungen Venezolaner für Instagram produzieren, ist wiederum wahnsinnig groß.
Auch die Proteste organisieren sich teilweise über die App. Aus den Instagram Stories einiger Musiker erfahre ich auch, dass an diesem Mittwoch, dem 23. Januar, eine Großdemonstration anberaumt ist. Für die Veranstaltung werden so große Tumulte vorhergesagt, dass die Proben schon zwei Tage im Voraus abgesagt werden. Jorge, der Fahrer, der mich zu den Proben bringt, erzählt mir voller Begeisterung, dass er viele Jahre auf den Moment gewartet habe, seine Stimme auf der Straße mit denen zu vereinen, die ebenfalls unzufrieden sind angesichts der sozialen Ungerechtigkeit im Land.
Neugierig, wie ich bin, verabrede ich mich mit ihm nach der Probe für den nächsten Morgen, um gemeinsam zur Demonstration zu gehen. Ich kehre aufgeregt zum Hotel zurück, im Bewusstsein, am nächsten Tag Zeuge eines historischen Moments zu werden, von dem kaum jemand außerhalb Venezuelas Notiz nimmt. Nach dem Abendessen erhalte ich eine kurze Nachricht von Valeria: »Morgen keine Demonstration mit Jorge.«
Am Morgen nach der Demonstration wache ich auf und lese die Schlagzeilen der wichtigsten Onlineportale. Die Proteste hatten gewaltige Ausmaße angenommen. Ein Abgeordneter, der Parlamentspräsident der aufgelösten Nationalversammlung, hatte sich auf der Kundgebung am Mittwochmorgen zum Interimspräsidenten erklärt. Die neue Regierung werde bereits von verschiedenen Ländern, allen voran den USA, anerkannt.
Ich blicke aus dem Fenster und sehe ein Menschenmeer, das durch die Straßen an meinem Hotel vorbeizieht. Derweil säubert ein Hotelangestellter in aller Ruhe den Pool von Laub. Ich schaue nach oben und sehe die Berge, die die Stadt vom Karibischen Meer trennen. Es scheint mir, als würde das ganze Land kochen, während ich an einem isolierten Ort ausharren muss. Ich mache den Fernseher an, um zu sehen, was die lokalen Medien berichten. Das einzige, was ausgestrahlt wird, ist eine Gymnastik-Sendung. Sie läuft den ganzen Morgen über ohne Unterbrechung.
Am nächsten Tag proben wir wieder, und ich bin immer glücklicher und beeindruckter, nicht nur vom künstlerischen Ergebnis, sondern auch vom politischen Engagement der jungen Venezolaner und ihrem Wunsch, ihr Land zu verändern. Und tatsächlich sieht es danach aus, als wäre ein Wandel möglich. Jorge, der Fahrer, ist am euphorischsten. Es sei an der Zeit, »Venezuela dem Volk zurückzugeben«, meint er zu mir. Dafür bedürfe es keiner Intervention eines anderen Landes. »Die Amerikaner haben doch nur ein Auge auf unser Erdöl geworfen.« Ich frage ihn, ob er da nicht etwas übertreibe. »Die Amerikaner haben in Libyen, im Irak und in Afghanistan im Namen der Freiheit und der Demokratie interveniert«, antwortet er mit Bestimmtheit. »Wie geht es diesen Ländern heute?«
Die Woche vergeht wie im Flug, und das Konzert noch viel schneller. Die Hingabe der Jugendlichen für die Musik Bruckners macht aus der einstündigen Sinfonie einen flüchtigen Moment. Nach dem Konzert gehe ich mit den Musikern in die Casita Azul, eine einfache, aber sehr beliebte Bar, wo sich die jungen Orchestermitglieder nach den Konzerten für gewöhnlich treffen. Schnell werde ich dem Besitzer der Bar vorgestellt, denn wir teilen dieselbe Muttersprache. Er ist ein Portugiese im fortgeschrittenen Alter, der einst vor den Faschisten in Europa nach Venezuela floh. Ich frage ihn, wie es um das Land steht. »Das Leben geht weiter«, antwortet er. Und vom anderen Ende der Bar winkt Jorge, um mich zu einem Bier einzuladen. ¶