Musikunterricht ist so mit als Erstes hinten runter gefallen. Wer denkt auch an Oboen, wenn die Welt untergeht? Es gab in Berlin schon sehr bald nachdem die Philharmonie und alle anderen Theater geschlossen wurden, eine Anweisung an die Musikschulen, dass der Unterricht einzustellen sei. Auch meine Musikschule in Berlin-Schöneberg beendete komplett den Betrieb. Jippie, kein Üben mehr, dachte ich zunächst faul, aber schon bald vermisste ich, vermissten viele andere, die wöchentliche Routine – und vor allem vermisste ich meine Lehrerin!
Kurze Zeit später hatte das Videokonferenzwesen schon weit um sich gegriffen. Wie man aus den eigenen Homeoffice-Erfahrungen wusste, war der Ton meistens schlecht, die Bildqualität oft pixelig und man fiel sich eigentlich dauernd versehentlich ins Wort wegen der Übertragungsverzögerungen. Alles vermeintliche Ausschlusskriterien für erfolgreichen Musikunterricht!
Es kam aber anders, vor drei Wochen kam eine E-Mail von Frau Graw, meiner Geigenlehrerin. Sie biete jetzt auch Unterricht per Skype an, ob ich nicht Lust hätte? Hatte ich. Das war mir sofort klar. Alles, was irgend Normalität simulierte, war gewünscht, auch wenn ich daran zweifelte, dass wir weit kommen würden. Also stellte ich mein Notebook ins Bücherregal und wir legten los.
»Ich bin sehr glücklich, dass ich allen meinen Schülern schon sehr früh beibringe, wie man seine Geige selbst stimmt, alle Kollegen, die das nicht gemacht haben, tragen jetzt Trauer«, sagt Frau Graw am Telefon. Wir stimmen dann gemeinsam und ich bin überrascht, dass man auch über Skype hören kann, wenn eine Saite nicht hundertprozentig sauber gestimmt ist. Quinten scheinen sich gut zu übertragen. Heimlich hatte ich gedacht, bei der Skype-Stunde vielleicht mit unsauberem Spielen durchzukommen. Aber die Ohren von Frau Graw hören alles!

In Deutschland gibt es (Stand 2017) rund anderthalb Millionen Musikschüler:innen – nur zehn Prozent davon sind Erwachsene. Mit diesen ganzen Kindern muss jetzt musikalisch irgendetwas virtuell passieren, denn mit Sicherheit sind alle Eltern froh um jede Stunde, in der ihnen der Nachwuchs mal abgenommen wird. Die Erfahrungen von Frau Graw sind bei Stunden mit Kindern gemischt: Oftmals hat nicht jedes Familienmitglied einen Laptop. Würden die Kinder aber in das Mikro eines iPhones geigen, komme gar nichts Schönes mehr an, meint sie. Und Unterrichten in Gruppen geht erst recht nicht.
Ein tête-à-tête aber geht. Und so geigen wir beide in unsere Bildschirme. Es stellen sich mehrere Probleme. Das erste: Ich sehe Frau Graw nur von der Seite. Das liegt, wie ich später erfahre, an ihrem Setup. Sie hat ihren Fernseher mit dem Laptop verkabelt, damit sie die Schüler und besonders deren linke Hand gut auf dem großen Fernsehschirm sehen kann. Guckt sie aber in diesen Fernseher, sehe ich sie nur von der Seite, das irritiert.
Dann fällt uns auf: Wie machen wir das jetzt mit den Noten? Normalerweise bringt sie mir neue Stücke mit. Das geht jetzt nicht. Was spielen wir also Neues? Einer spontanen Eingebung folgend greifen wir zum katholischen Gesangbuch. Das findet sich in unser beider Regalen. »Nummer 257?« – »Alles klar!«
So kommen wir erst zu Lobe den Herrn und dann zu Großer Gott wir loben dich. Das passt auch zu Ostern, wunderbarerweise können wir auf die Art auch noch b-Tonarten auf der Geige einführen, womit ich dann jetzt den nächsten Monat zu tun hätte.
Was ich nicht zu denken wagte: Technik lernen geht erstaunlich gut über den Bildschirm. Der geschulte Blick erkennt gnadenlos jeden Stellungsfehler jedes Fingers und benötigt dafür gar nicht die direkte Anschauung, die richtige Kameraperspektive genügt.

Ein Problem, sagt Frau Graw, stellt sich aber bei Schülern, bei denen es schon um Tongestaltung geht. Das sei via Skype sehr schwer zu vermitteln. Weicher, wärmer, schöner undsofort, das sind Feinheiten, die sich über die Videotelefonie nicht gut erklären lassen. »Ich fühle mich ein bisschen wie vor 30 Jahren, als ich angefangen habe zu unterrichten«, erklärt mir Frau Graw. Damals habe sie noch nicht für jedes Problem und jede schlechte Intonation eine Lösung gehabt. Heute schon, aber nicht alles davon lasse sich per Skype vermitteln. Und ganz eklig sei die Verzögerung: Man höre eine Melodie, aber die Fingerbewegungen des Schülers passten eigentlich noch gar nicht dazu.
Es ist anstrengend, das finde ich auch. Der Smalltalk fehlt irgendwie und auch die nonverbale Kommunikation. Beim normalen Unterrichten macht man oft Pausen, das ist auf Skype eher nicht so. Was sollte man dann auch machen? Still vor der Kamera stehen? Sie kenne jetzt viele Schlafzimmerschränke, sagt meine Lehrerin.
Wohl die meisten Lehrkräfte der Berliner Musikschulen dürften mittlerweile irgendwie versuchen, den Unterricht virtuell zu ihren Schülern bringen. Dahinter stecken auch finanzielle Überlegungen. Sehr viele Musiklehrer:innen sind selbstständig. Und werden auch nur bezahlt, wenn sie tatsächlich unterrichten. Deshalb ist es jetzt besonders wichtig, Ersatz für den ausfallenden richtigen Unterricht zu finden. Andererseits steht auch zu vermuten, dass einige Familien vielleicht den Unterricht ganz abbestellen, weil sie jetzt durch Kurzarbeitergeld weniger Einkommen zur Verfügung haben.
An meiner virtuellen Stunde freut mich besonders, dass ein Mechanismus noch funktioniert, den ich auch sonst sehr genieße: dass man alles andere vergisst. Was auch immer so los ist, beim Geigen muss man aufmerksam sein. Über die 60 Minuten Violinspiel denke ich nicht daran, schnell zu checken, ob es schon wieder 10 neue Meldungen zum Coronavirus gibt. Diese Ablenkungsfunktion ist jetzt vielleicht wichtiger denn je.
Während des Unterrichts merke ich natürlich nicht, dass meine Lehrerin mehr strapaziert wird als sonst. Das erzählt sie mir später. Kopf, Nacken, Schultern, alles tue weh. Das Unterrichten über den Bildschirm sei viel anstrengender als das von Mensch zu Mensch. Wir einigen uns darauf, dass sich andere Instrumente vielleicht leichter fernunterrichten ließen – Klavier zum Beispiel, da muss man nicht auch noch mit dem Ohr am Lautsprecher horchen, ob die Tonhöhe korrekt ist. Anderes ist womöglich aber noch schwieriger! Kürzlich erzählte mir der englische Dirigent Justin Doyle, dass er versuchen muss, an der Berliner Musikhochschule via Zoom Chordirigieren zu unterrichten. Congratulations dazu!
Ich bin sehr dankbar, dass der Musikunterricht noch da ist. Ich schaffe es wegen des ganzen Coronastresses nur nicht mehr, mich dauernd aufs Üben zu konzentrieren. Das fällt bei mir hinten runter. Ich denke also nicht, dass in dieser Zeit alle Schüler rasend besser werden, weil sie aus Langeweile nur noch üben, üben, üben. Was ich mir wünschen würde: Dass wir Duette spielen. Wenn das technisch möglich wäre. Vielleicht fühlte man sich dann doch irgendwie nah umfangen, etwas, das es im wirklichen Leben jetzt ja nicht mehr gibt. ¶