Die ukrainische Stadt Charkiw unterhielt schon immer gute Beziehungen zu Deutschland. Schon ab dem Zeitpunkt der feierlichen Eröffnung der Universität von Charkiw 1805 befand sich viel deutschsprachiges Personal unter den Lehrenden, so der von Goethe geförderte Benediktiner Johann Baptist Schad (1758–1834). Von 1940 bis 1942 war der vor den Nationalsozialisten geflohene Dirigent Kurt Sanderling (1912–2011), später Leiter des heutigen Konzerthausorchesters Berlin, Chefdirigent der Philharmonie Charkiw. Und seit 1990 ist Charkiw die Partnerstadt von Nürnberg. Auch den Komponisten und Pianisten Sergei Bortkiewicz zog es – »obwohl« Ur–Charkiwer – nach Deutschland. Aber wer war Bortkiewicz eigentlich – und wie klingt seine Klaviermusik?
Sergei Bortkiewicz kam am 28. Februar 1877 in Charkiw zur Welt. Seine Eltern waren polnischer Abstammung – und Sohn Sergei zunächst Angehöriger des damaligen russischen Kaiserreiches. Die ersten musikalischen Studien absolvierte Bortkiewicz von 1896 bis 1899 am Konservatorium von Sankt Petersburg, wo der niederländisch–russische Pädagoge Karel van Ark (1839–1902) und der manchmal scherzhaft »faulste Komponist der Musikgeschichte« genannte Anatoli Ljadow (1855–1914) seine Lehrer waren. Bis 1902 war Bortkiewicz unter anderem Student von Salomon Jadassohn (1831–1902) in Leipzig und kam somit – man höre das heroische c–Moll–Klavierkonzert des 1902 in Leipzig verstorbenen Jadassohns – auch mit den sich noch lange haltenden Ausläufern deutscher Romantik in Berührung: »spätromantisch« auf dem Beipackzettel »eigentlichen« Musikgeschichtsschreibungsfortschritts, doch eigentlich (noch) »hochromantisch« klingend.
Dann aber verliebte sich Bortkiewicz offenbar in (die Stadt) Berlin. Hier lebte er von 1904 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Sein Geld verdiente er sich vornehmlich als Klavierlehrer am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium, das ab 1908 in der Genthiner Straße 11 in Berlin–Tiergarten beheimatet war. Zwischen Reichpietschufer (Richtung heutiges Bundesverteidigungsministerium) und Magdeburger Platz, ganz in der Nähe des heutigen Schwulen Museums.
Bortkiewicz schrieb sich vor allem selbst Klaviersolowerke »in die Hand«. Ansonsten brachte er einige Lieder zu Papier, ein paar Kammermusikstücke – sowie die Symphonien No. 1 (»Aus meiner Heimat, 1935) und No. 2 Es–Dur (1937). Mit bereits 31 Jahren veröffentlichte Bortkiewicz 1908 sein Opus 7: Die Zwei Klavierstücke sind schlicht gearbeitet. Aber in ihnen steckt mehr als die vorgebliche Sprödheit, die sie vielleicht zunächst ausstrahlen. In dem ersten Stück – Melodie – hören wir eine dreimalige, schlichte, klagende Anrufung im Akkord–Verbund, während eine typisch romantische Klavierbegleitfigur in der linken Hand auf Chopin und Ähnliches verweist. Den Anrufungen folgt eine Verdichtung durch elegisch singende Sexten. Doch derweil diese Sexten sich in ihrer ganz alltäglichen Romantik–Normalität hinzumischen, piekst Bortkiewicz in die linke Hand einen rhythmischen Kontrapunkt, der sich wie selbständig im Kleinen weiterentwickelt. Nach wenigen Sekunden verharrt der Komponist kurz in einer a-Moll-e–Moll-Wechsel-Schleife. Der rhythmische Kontrapunkt links wird zum interessanten Fast-schon-Ostinato. Durch den Verbleib in Moll (Wechsel: a-Moll/e-Moll) tönt uns etwas zutiefst »Russisches« entgegen. Schön gearbeitet. Schlicht. Wissend. Kein bisschen überheblich. Traditionell.
1908 – zum Zeitpunkt der Niederschrift von Opus 7 also – wohnte Bortkiewicz noch in Berlin. Sechs Jahre später zerstörte der Erste Weltkrieg zahlreiche Pläne und Hoffnungen. Am 1. August 1914 erklärte Deutschland Russland den Krieg. Bortkiewicz wurde – als Angehöriger des Russischen Reiches – zusammen mit seiner Frau in Berlin erst unter Hausarrest gestellt und später nach Russland ausgewiesen. Nun lebte er wieder in Charkiw – und arbeitete dort als Musiklehrer und (recht erfolgreicher) Pianist. Doch die Februarrevolution 1917 brachte eine erneute Umkehr. In den Wirren des Bürgerkriegs ging es für das Ehepaar Bortkiewicz über die Krim nach Konstantinopel und schließlich nach Wien.
Der berühmteste Kriegsversehrte der Musikgeschichte – der Pianist Paul Wittgenstein (1887–1961), der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte – wurde in den 1920er Jahren auf Bortkiewicz aufmerksam. Bald schrieben die großen, bekannten Komponisten ihrer Zeit Linke-Hand-Werke für Wittgenstein. Nach Korngold (1922–23) folgten später Prokofjew (1931), Ravel (1934) und viele andere. Mit seinem 1923 verfertigten Klavierkonzert für die linke Hand op. 28 war Bortkiewicz also fast »früh dran«.
Mit einem dramatischen Anlauf legt das Klavierkonzert los. Streicher nagen sich schicksalsdräuend fest. Schnell folgt der nächste Drama-Aufschwung. Die abfallenden Motive werden imitatorisch durchs Orchester geschickt. Tschaikowsky steht mit einigermaßen unübersehbarer Leibesfülle im Raum. Das ist russische Musik, wie sie in den Noten steht. Keine Vorerzählung, sondern sogleich rein in die Materie, rein in die dunklen Märchenbücher des Landes. Leid, Klage, größte Gefühle. Und nicht viel später setzt auch schon brodelnd das Solo-Klavier ein. Natürlich hört man zuerst nicht, dass hier nur eine Hand am Werke ist. Denn die quantitativ dominante Verortung im unteren Milieu der Klaviatur baut Bortkiewicz ähnlich geschickt ein wie Ravel in seinem späteren Schwesterstück. Und auf Grundlage der tiefen, auch mal warm-hymnischen Ergehungen des Klaviers darf sich selbstredend das Orchester hinzugesellen, um in großen, weiten Linien an die dämonisch–dunklen Liebesgefilde Rachmaninows zu gemahnen.
1925 – zwei Jahre nach Entstehung des Linke-Hand-Konzerts – hatte Bortkiewicz die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. 1928 trieb es ihn nach Wien. Doch die alte Liebe Berlin rief ihn wieder zu sich. Bortkiewicz wirkte hier als Pianist und Komponist bis 1933. Als Russe galt er bald erneut als Persona non grata, erwirkte aber, ab 1935 wieder in Wien arbeiten zu dürfen. Alles lief in diesen Jahren auf Sparflamme. Verarmt musste er sich Geld von Freunden leihen – und verdiente sich selbst welches dazu, indem er beispielsweise die legendären Briefe von Tschaikowsky an seine Lebensfreundin Nadeschda von Meck vom Russischen ins Deutsche übersetzte.
Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg berief man Bortkiewicz zum Leiter einer Meisterklasse am Wiener Konservatorium. Schon zu Lebzeiten gründete man eine Bortkiewicz–Gesellschaft, um Noten, Briefe und andere Schriftstücke des Künstlers vorauseilend zu verwahren. (Der Verein löste sich leider 1973 auf.) 1949 diagnostizierte man bei Bortkiewicz’ Frau eine schwere Depression. Doch Bortkiewicz komponierte und dirigierte fleißig weiter. Trotz all der traumatischen Erlebnisse von Vertreibung, Flucht und Krankheit blieb Bortkiewicz offenbar ein Optimist – und hatte ein paar gute letzte Jahre.
Bortkiewicz Hochzeitslied (Epithalame/Chant nuptile) ist eines der schönsten, inbrünstigsten, warmherzigsten Kompositionen für die linke Hand überhaupt (hier die Noten). Ein Alterswerk aus dem Jahr 1947 – in der völlig verrückten, höchstens aus obligatorischen Gründen in Bachs Wohltemperierten Clavier mal verwendeten Tonart Cis–Dur. Nicht also im romantisch-erdig-saftigen Des-Dur. Nein, Cis-Dur musste es sein! (Witzig, dass sich auch Korngold im Zeichen seines Linke-Hand-Konzerts ebenfalls für diese Tonart entschieden hatte.)
Mit mächtigsten Cis-Dur-Klängen bereitet die linke Hand alleine das Klangbett. Mit dem Daumen muss am Ende des dritten Taktes nun das Hauptthema markiert werden. Dazu ist eine spezielle Handstellung (und später zumindest eine möglichst große Hand und etwas Training) nötig, um diese Töne herauszuschälen, ohne, dass sie sofort penetrant tönen. Und die herrliche – ehrlich verliebte – Melodie-Harmonie-Gestaltung Bortkiewicz’ gelingt hier deshalb so hervorragend, weil der Komponist immer wieder schneidend dissonante Akkorde einbindet, die freilich im grundsätzlich sehr harmonisch eindeutigen Kontext wunderbar herausleuchten. Als wirkliche kleine Anbetungen der Liebsten. Ein Flehen. Vielleicht auch ein Händeringen nach Oben, zu einem (hoffentlich guten) Gott. Keine Liebe ohne Ringe(n). Nicht umsonst entstand das noch heute in manchen christlichen Gesangbüchern stehende, ja, sogar zum »Großen Zapfenstreich« gehörende Lied Ich bete an die Macht der Liebe auf ukrainischem Terrain.

Letztlich sollte ein akutes Magenleiden und eine nicht ausreichend hilfreiche Operation im Herbst 1952 das Ende des Lebens von Sergei Bortkiewicz bedeuten. Am 9. März 1960 starb seine Frau. Die Ehe war kinder- aber nicht freudlos geblieben. Sergei Bortkiewicz selbst war seiner Frau am 25. Oktober 1952 vorangegangen. Beide liegen vereint auf dem Wiener Zentralfriedhof. So richtig überlebt hat Bortkiewicz‘ Musik nicht. Tschaikowsky, Mussorgsky, Rachmaninow und ein bisschen Skrjabin. Neu abgemischt und herrlich zubereitet. Hier ließe sich viel wiederentdecken. ¶