Gestern vor genau 100 Jahren starb die Komponistin, Pianistin und Organistin Ika Peyron in Stockholm. Wenige Wochen vor ihrer Geburt am 1. Juli 1845 im schwedischen Timrå (am Bottnischen Meerbusen, fast genau in der Mitte des Landes) stachen drei Expeditionsschiffe von England aus in Richtung arktisches Archipel in See: Am 19. Mai 1845 begann die letzte Expedition des britischen Polarforschers Sir John Franklin (1786–1847). Alle Beteiligten starben, Franklin selbst schon im Juni 1847, die anderen spätestens irgendwann 1848. Eine der legendärsten Expeditionen der Geschichte – und die vielleicht tragischste.

Völlig ohne Tragik werden sich die frühesten Jahre von Ika Asp auch nicht abgespielt haben, trotz des behüteten, schönen Heimatorts in der Region Västernorrland. Schließlich wuchs Ika bei ihrem Pflegevater Anton Asp und dessen Frau auf. Asp arbeitete als Kaufmann – und konnte es sich leisten, seiner Pflegetochter beispielsweise Klavierunterricht zu finanzieren, wiewohl er angeblich selbst eine mögliche Berufslaufbahn von Ika eher im medizinischen Bereich verortet sah. Ikas Mutter war Anna Maria Lundström, die – wie man erfährt – als einfache Magd arbeitete. Man könnte spekulieren, dass Ikas Mutter von Asp selbst oder einem ihm nahestehenden Freund schwanger geworden war. Lundströms finanzielle Mittel reichten vielleicht nicht aus, um ein – zudem uneheliches – Kind im christlich–konservativ geprägten Schweden alleine aufzuziehen.

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Die junge Pianistin und Komponistin, die eigentlich Albertina Fredrika mit Vornamen hieß, aber schon früh »Ika« genannt wurde, studierte in Stockholm Klavier bei diversen Lehrerinnen und Lehrern. Vom Komponieren und der Organisation von Konzerten mit  ihren Werke nahm sie aber wohl immer wieder Abstand, aus Angst, als Komponistin verlacht und gedemütigt zu werden. 1865 heiratete die zwanzigjährige Ika Asp den dreizehn Jahre älteren Carl Ludvig Peyron (1832–1915) und nahm dessen Nachnamen an. Ludvig Peyron war ein erfolgreicher Kaufmann und zugleich Abgeordneter im Parlament. Außerdem war er als Generalkonsul in Hamburg tätig. Ika Peyron widmete sich in den folgenden Jahren fast ausschließlich der Erziehung ihrer drei Söhne.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts reagierte man vermeintlich toleranter, ging es darum, dass eine Frau sich »erdreistet« hatte, eigene musikalische Werke vorzulegen. Dergestalt konnte sich Ika Peyron tatsächlich freier, unbeschwerter dem Komponieren zuwenden. Gleichzeitig unterrichtete sie Klavier und engagierte sich in dem schwedischen Kulturverein »Nya Idun«, der 1885 von und für Frauen gegründet wurde. 1862 war das männliche Pendant »Idun« ins Leben gerufen worden, um in Stockholm wohnhafte Männer im Zeichen von Wissenschaft, Wissen und Kunst zusammenzubringen. Die »Idun« akzeptierte nur Männer als Mitglieder; demgemäß war die Gründung der rein weiblichen »Nya Idun« ein wichtiger Schritt der damals bereits sich im Aufbruch befindenden Frauenbewegung in Schweden.

Ika Peyron verstarb am 15. März 1922 in Stockholm. Sie wurde 76 Jahre alt und hinterließ fast 100 Kompositionen, darunter Kammermusik, Musik für Klavier solo, Stücke für Orgel – und eine eindrückliche Reihe von Liedern.


Ika Peyron (1845–1922)
Nattskyar (Nachtwolken). Nocturne op. 10 (1886)

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1886 entstand Peyrons Klavierstück mit dem programmatischen Titel Nattskyar (Nachtwolken). Die damals 41–Jährige komponiert ein Stück ganz im Sinne damaliger, nachtumwölkter Moll-Préludes für das Klavier. Vielleicht denkt man ein wenig an das h–Moll–Prélude op. 28 von Frédéric Chopin (1836–1839), denn auch bei Peyron ist vor allem die linke Hand auserkoren, Bedeutsames mitzuteilen. Schon auf der zweiten Zählzeit schärft Peyron allerdings ihren h–Moll–Akkord durch kurzzeitiges Ausweichen auf die übermäßige Quarte interessant an, um schnell wieder die Quinte der Grundtonart zu erreichen. Die chromatische Ausweichung innerhalb repetierter Akkord–Reihen macht Peyron jedoch mit der vierten Zählzeit – nun streckt sich die Quinte der Tonika kurz zur leitereigenen Sexte – zum Prinzip.

Unter dem wankelmütigen, tief versunkenen Akkord–Teppich regt sich jedoch lohnenswertes Leben. Ein im Piano durchaus sanft erregtes Motiv lässt im dritten Takt an die Tür pochend von sich hören, um hernach erst einmal sich wieder zurücksinkend unten dem Grundton hinzugeben. Im fünften Takt bricht Peyron die Akkordstruktur durch die Einbindung von Pausen auf. Und so finden im wärmsten Tenor der linken Hand jetzt auch hoffnungsvollere Dur-Töne Gehör. Romantische Klaviermusik, wie sie im Buche steht. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.