Es war für uns Klassiknerds einer dieser ikonischen Momente zu Zeiten der Harald-Schmidt-Show in Good Old Sat1. Harald Schmidt – der ehemalige Organist, der mit Playmobilfiguren Wagners Ring des Nibelungen erklärte, der Anne-Sophie Mutter 2009 in seiner Show am Klavier begleitete und 2020 im Podcast Am Tresen diesen Moment als den aufregendsten seiner Karriere bezeichnete – trat auf und erzählte unvermittelt irgendetwas über Franz Schubert, dem Schmidt an der Seite Herbert Feuersteins bereits in den 1990er Jahren in der Sendung Schmidteinander mittels des Absingens des Erlkönigs die Ehre erwiesen hatte. An der besagten Stelle sagte Schmidt so etwas wie: »Schubert, das ist auf dem Klavier immer so …« Dabei machte der Moderator mit den nach unten abgespreizten Fingern eine mehrfach hackende Bewegung und formte onomatopoetisch und haptisch-gestisch den von ihm so in der Erinnerung abgespeicherten Rhythmus des Beginns des ersten Satzes von Schuberts Klaviersonate D-Dur D 850 – »Taaa, ta, ta, ta, ta, ta!« Ganz sicher weiß ich noch, dass das mit dem besagten Sonatenbeginn rhythmisch nicht kongruent war. Dennoch glaube ich, dass er genau diesen Sonatenbeginn meinte. Und die Schizophrenien diesbezüglich kennen kein Ende.
Denn wir reden von der für Franz Schubert typischsten und zugleich untypischsten Klaviersonate überhaupt. Komponiert wurde die profunde, ideenreiche, tollkühne, ja: herrliche Sonate D-Dur D 850 im August 1825 in den Hohen Tauern, in Gastein. Dort – im Salzburger Land – befand sich Schubert anlässlich eines Sommeraufenthalts. Und von dieser Reise künden in unserer heutigen Zeit stolz diverse touristische Internetseiten. Als sei Schubert zu Lebzeiten der »Goethe des Komponierens« gewesen.
Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Ein »Schubert war hier!« interessierte damals fast niemanden. Und speziell dessen Klaviersonaten galten auf dem Wiener Notenmarkt nicht gerade als Renner, ja Schuberts Sonate D-Dur war sogar erst sein zweites Werk dieser Gattung, das damals im Druck erschien. Eine Fülle früherer Sonaten hatte Schubert zuvor bereits zu Papier gebracht, doch seine entsprechenden Arbeiten erfüllten wohl nicht den Anspruch eher virtuos-salonmäßigen, tendenziell der Zurschaustellung fingerfertigen Abschnurrens von hübschen Girlanden dienenden Klavierspiels. Denn komponierende Tastenlöwen wie Henri Herz und Ignaz Moscheles standen schon in den Startlöchern pianistisch-verlegerischen und wirtschaftlich-publikumsseitigen Erfolgs.
Doch wir müssen die Stimmung nicht trüben! Nein, Schubert erlebte den Sommer 1825 frohgemut und beseelt, angesichts galanter Landschaften und offenbar schönen Wetters. Unter anderem war der damals 28-Jährige zusammen mit Freund, Haupt-Interpret seiner Lieder und Hofopernsänger Johann Michael Vogl Gast bei der Salzburger Kaufmannsfamilie Paurnfeind in Gastein. In genau diesen Tagen übersandte er in einem Brief an einen Freund die Worte: »Bald hätte ich vergessen, Dir zu sagen, dass ich in Salzburg und Gastein gewesen, deren Gegenden die kühnsten Phantasien überflügeln«. Die Einladung nach Gastein hatte wohl ursprünglich Ladislaus Pyrker ausgesprochen. Pyrker war als katholischer Bischof Patriarch von Venedig und zugleich als Dichter auf der Suche nach Komponisten, die Zeit und Muße hatten (und sicher das Geld dafür auch gerne nahmen), seine eigenen dichterischen Texte zu vertonen. Auf diesem (Gasteiner) Wege entstanden die beiden Pyrker-Vertonungen Das Heimweh D 851 und Die Allmacht D 852 sowie die »Gasteiner Sinfonie«, über welche man hinsichtlich ihrer Zuordnung lange spekulierte – und die man erst spät als »deckungsgleich« mit der Großen Sinfonie C-Dur identifizierte. Außerdem schrieb Schubert die D-Dur-Sonate, die von der Deutsch-Verzeichnisnummer her – anders als »die Große C-Dur« (D 944) – völlig korrekt auf den Entstehungseinklang mit den Pyrker-Liedern verweist. In einem dieser Lieder (Das Heimweh) heißt es unter anderem: »Ach, der Gebirgssohn hängt mit kindlicher Lieb’ an der Heimat. Wie den Alpen geraubt hinwelket die Blume, so welkt er ihr entrissen dahin.« Wie passend als Bild, analog zu dem einstigen alpinen Live-Panorama Schuberts.

Untypisch virtuos, ja, sich offen zum (auch) technischen Eindruck-Schinden »bekennend« und doch typisch in den schlussendlich wie zeitlos, entspannt ausspannenden Dimensionen ist diese Schubert-Sonate. Mit einem prankigen Akkord – logisch: in der Grundtonart des Ganzen – legt Schubert los (Allegro vivace). Auf den zupackenden Beginn folgt wiederholendes Klopfen des Akkords in etwas anderer Lage und variierter Akkordgestalt. Aus dieser vermeintlich »starren« rhythmischen Struktur bricht Schubert – lebendig, furios, fast dämonisch drohend – schnell aus: Er verkleinert die Notenwerte, dreht Schleifen, die mephistophelisch schon bereits Ausschnitte von Moll-Tonleitern streifen. Nach einer Steigerung, die den klopfenden Anfang der Sonate wieder aufnimmt, bringt Schubert zwei bereits »benutzte« Rhythmus-Module zusammen, setzt sie nebeneinander, lässt die Musik kurzzeitig sogar ländlerisch wirken und wirbelt unsere Ohren doch gleichzeitig mächtig im Sonatenhauptsatz-Rührtopf spannenden Klavierspiels umher. Krasse Einbrüche folgen, die nicht nur durch Akzentuierungen überraschen, sondern auch in völlig unerwarteten Tonarten triolisch in den Keller hinabrollen.
Schuberts Virtuosität ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Anlass und Material, Stimmungen blitzschnell kippen zu lassen. Diese virtuosen Schleifen sind gar nicht so leicht zu spielen. Schubert moduliert viel, ändert größtenteils nichts an den Noten, gleicht bei der Rundfahrt durch den Quintenzirkel bei bestimmten »Griffen« von aufgesplitteten Akkorden nicht an, wie es Liszt häufig gemacht hat. Technisch einfach zu realisieren ist dieser Satz nicht. Und das ist ebenfalls selten, denn eine ganze Reihe von Schubert-Klaviersonaten ist für passable Pianist:innen größtenteils vom Blatt spielbar. Die späten Sonaten ausgenommen.
Die früheste Aufnahme, die wir hören, stammt von Artur Schnabel, der die D-Dur-Sonate am 26. und 27. Januar 1939 im Abbey Road Studio in London einspielte. Schnabel galt als hektischer Virtuose, als Liniengestalter, als radikaler Tempomacher, dessen krasse Beschleunigungen häufig zu technischen »Unklarheiten« führten – die der grundsätzlichen Klarheit der Interpretation aber seltsamerweise nie etwas anhaben konnten. Wir kennen Schnabel auch und vor allem für seine Beethoven-Interpretationen.
Da hätten wir fast mehr Hektik erwartet, oder? Schnabel zischt zwar den ein oder anderen Lauf weg, aber diese typische Schnabel-Emphase hören wir nicht (ganz). Dennoch hat das hier »Zug«. Und nach ungefähr 40 Sekunden verschärft sich die Lage dann auch. Schnabel kürzt hier und da ab, schneidet quasi zusammen. Interessant – und wie immer bei ihm: hörenswert.
Sviatoslav Richter geht ab. Live, natürlich. Es ist eines dieser Ritte, bei denen Richter alles riskiert. Sympathisch, dass das meistens dann vorkam, wenn Publikum dabei saß. Vor allem die plötzliche Lautheiten sind beeindruckend. Durch die Tempogestaltung, durch das (auch innere) »Dranbleiben« macht das den Eindruck großer Zusammengehörigkeit. Kompaktheit und innere Strukturverwebung bei gleichzeitig fast irrem Tempo.
Hört man unmittelbar danach Emil Gilels, so will man partout wieder Richter zurück. Gilels, der eben ein wesentlich »gesetzteres« Tempo wählt, knüpft hier aber ebenfalls Zusammengehörigkeitsbande, indem er zunächst keine Tempomätzchen aufführt, sondern rhythmisch absolut geradlinig spielt. Nur der Part ab Takt 8, in dem Schubert das Klopfthema einstimmig in die linke Hand überführt, nimmt bei Gilels ein wenig an Fahrt auf. Gute Dramaturgie. Das Sforzato in Takt 12 allerdings wirkt viel zu harmlos.
Der inzwischen fast vergessene Clifford Curzon geht filigraner zu Werke. Bei ihm kommt das Wienerische durch. Ausgerechnet! Das erfüllt nicht die »Anfordernisse«, die ich an diesen bulligen ersten Satz habe. Aber ich respektiere diese Art des schlanken Klavierspiels. Und das Sforzato in Takt 12 fehlt bei Curzon nicht. Ab Takt 16 inszeniert der 1982 mit 75 Jahren verstorbene Pianist ein feines Getrappel im Leisen. Das Drohende ab Takt 26 kommt durch diese trockene Art witzigerweise nicht abhanden, im Gegenteil. Bemerkenswert.
Das ist die Aufnahme, mit der ich aufgewachsen bin. Und ich mochte sie damals schon nicht. Mir kam das zu viel zu bequem vor. Und für das rhythmische End-Wegschleudern der Triolen in Takt 3 empfand ich fast Ekel. Denn hier macht es sich ein Pianist viel zu einfach. Und das eigentlich ohne großen Grund. Das ist technisch alles nicht allzu bequem. Verkürzt man aber so früh bereits Notenketten, so sagt man dem Publikum durch die (braune) Blume: »Ich mache das, weil ich es kann, weil ihr mir das über viele Jahre schon habt durchgehen lassen.« Ein bisschen so wie bei »Rich Kids«: sich einfach Dinge erlauben, die uncool sind – und dann noch so tun, als könne man ernsthaft stolz darauf sein. Das Tempo ist auch viel zu behäbig, wobei man darauf hinweisen muss, dass die Handschrift Schuberts nur ein Allegro, kein Allegro vivace vorsah. In der Druckausgabe schließlich stand schließlich Allegro vivace, wiewohl das Allegro aufgrund der Alla-breve-Angabe den Eindruck macht, als zügig verstanden werden zu wollen.
Alfred Brendel verschläft den Beginn fast ein wenig. Ganz merkwürdig. Irgendwie reintellektualisiert, aber uninteressant, »wienerisch«, aber im falschen Bezirk. Warum bitte arpeggiert Brendel den ersten Klang der zweiten Hälfte von Takt 7? Arpeggien dürfen immer eingebaut werden, nicht nur bei Barockmusik. Aber hier passt das nicht. Hier lenkt es ab von dem Drive, den diese Musik doch bitte vermitteln möge. Oder? Die leisen Stellen gelingen Brendel aber gut. Und wird es wieder laut, da schäumt er ganz kurz fast über – und da würde es jetzt vielleicht interessant werden. Zumal Brendel die Markierungen in den Meereswogen vor der Überleitung zum zweiten Thema ganz eigentümlich hinhörenswert gestaltet; so wie auch die Handübergreif-Spielchen danach. Kleine Entschleunigungen, große Beschleunigungen – und dynamisch einfach aufregend. Hier ziehe ich meinen Hut.
Allein der Flügel von Mitsuko Uchida klingt viel heller als bei den alten Herren zuvor. Die Musik rollt hier ganz angenehm weg. Eine klassische Interpretation, die man jungen Pianistinnen und Pianisten vielleicht anempfehlen könnte, weil hier nicht so viele Sperenzien am Start sind. Man spürt auch die ausführliche Beschäftigung mit Mozart. Uneitles Spiel, mit kleinen kristallinen Süßheiten, die aber nie sentimental tönen (was immer auch ein bisschen schade ist).

Die Überleitung bringt Sommer-Ländler-Fragmente hier, winterliche Sturm-Triolen dort. Mehrmals platzt die Musik, den besagten Donner-Beginn zerfurcht zitierend, uns unangekündigt entgegen. Schubertsche Erschreckungen. Ein leichter, lockerer Lauf – uns auch in der hellen Tonart jetzt vielleicht an das »Forellenquintett« erinnernd – fungiert als Übergang zum nun tatsächlich eintreffenden Dorftanz. Schubert singt das Motto für uns einprägsam im Unisono vor, in der Gleichzeitigkeit beider Hände. Einfache Spaziergangsfröhlichkeiten, die wiederum flugs variiert werden. Bald rauschen helle Bäche, bald zwitschern Vögel hoffnungsvolle Frühlingserinnerungen, bald flattern enthusiasmierte Libellen.
Zuvor füllt Schubert diesen zweiten Themenkomplex noch mit einer weiteren Idee an. Bevor er die besagten forelligen Neu-Anläufe startet, entschleunigt er! Un poco più lento. Für mehrere Takte haut er einfach G- und C-Dur-Akkorde ins Elfenbein des Klangreichtums. Hier steht eine Landschaft ganz für sich da. Ein Gefühl (für jemanden), das immer da sein wird – egal, ob man dafür bespuckt oder ausgelacht wurde. Es ist ein Natur-Moment, im Fortissimo, mit viel (sogar vorgezeichnetem!) Pedal.
Bei diesem zweiten Themenkomplex gibt sich Schnabel (Minute 00:53) ganz trocken und vergnügt und unterschwellig lustig gewaltbereit. Die besagte G-Dur-C-Dur-Stelle schnoddert er ins Gebälk und decrescendiert hernach irgendwie sehr schön zurück. Das Schnoddrige führt bei Schnabel aber nicht zu einem Eindruck der Nicht-Besonderheit. Im Gegenteil.
Richter (Minute 00:48) behält seinen Drive total bei. Der besagte G-C-Einbruch erfolgt fast nebenbei und dennoch eindrücklich, gewalttätig. Es ist bei Richter eben nur ein krasser Moment der Radikalität, des Krieges, der völlig selbstverständlich in den Steinway geballert wird. Nicht umsonst wird Richter immer der beste Prokofjew-Interpret bleiben!
Gilels (Minute 00:55) spielt das zweite Thema schön leise und bescheiden. Und ohne Pedal! Erst bei der Pedal-Stelle drückt Gilels aufs Gas. Aber nur ganz wenig. Wunderschön ist dabei die mit Abstand radikalste Ritardando-Überleitung zum »Forellenteil«. Und dort glitzert es dann ganz herrlich. Einerseits (neben Uchida) die »unauffälligste« Interpretation, aber dann und wann eben durch die vermeintliche Unauffälligkeit komplett radikal, kernig und knusprig.
Clifford Curzon (Minute 00:56) nimmt das zweite Thema recht spitzfingrig und fein. Die G-C-Emphase macht den Anschein, als wolle Curzon vor allem die jeweils unteren Töne bis zum heißen Erdkern durchbohren. Und das ist absolut nicht falsch, denn auch dort ließen sich ja spektakuläre Naturphänomene beobachten.
Wilhelm Kempff (Minute 01:03) trödelt etwas langweilig vor sich hin, arpeggiert gelegentlich Zweiklänge. Die »Naturstelle« inszeniert er nicht spektakulär, dafür aber – gebe ich zu – interessant und geschmackvoll. Natürlich konnte dieser »große Romantiker« Klavier spielen. Aber die Betulichkeit, mit der Kempff später die ausführlichen Triolenstrecken mit Langeweile abschmeckt, ist einfach nicht my cup of tea.
Alfred Brendel (Minute 01:04) entschleunigt früh und nimmt fast gar kein Pedal, kommt es zu eben jener G-C-Stelle. Das säuselt so angenehm alles weg wie ein Sonntagnachmittag 1987 im 1. Bezirk. Fesch, pseudo-freundlich, etwas gelangweilt und (uninteressant) dekadent.
Mitsuko Uchida (Minute 01:00) zieht wenigstens zuvor noch gewisse Tempolinien durch, um den G-Dur-C-Dur-Moment fast dem Wahnsinn zu überantworten. Ich verstehe die Stelle zwar anders, aber so stellt sich ja die extrem interessante Frage: Kann man bei der Naturanschauung wahnsinnig werden? In jedem Fall respektiere ich diese großen Bögen bei Uchida. Die können was.
Der zweite Teil dieses ersten Satzes – die Durchführung, der Ort für Bespiegelungen, Verschränkungen, Variationen und Hinterfragungen – liefert uns wieder einen kleinen Schockmoment ins Haus. Eine für unsere Ohren herrlich »deplatzierte« Tonart (B-Dur statt D-Dur)! Doch Schubert überrascht uns weiter – und das in einer hörer:innenzugewandten wie spannungsvollen Weise. Pochende Hornquinten tönen stolz-wütend, signalartig knatternd, satisfaktionsfähig aus diversen Gefilden der Klaviatur. Schubert bringt tatsächlich so gut wie jede mögliche Tonart mindestens einmal im Verlaufe dieses wahnsinnigen, explosiven Satzes Klaviermusik! Doch wir müssen weiter, zum zweiten Satz.

Freilich beschenkt uns der Komponist mittels des zweiten Sonatenteils (Con moto) mit einem Stück Ruhe und Geborgenheit. Der warme »Männerchorgesang« ist dabei nicht nur »lieblich«, sondern voller kleiner rhythmischer Spielchen und sinfonischer Klangentfaltungen. Große Landschaften, mächtige Steigerungen, Felsblöcke aus Klaviertasten scheinen auf. Hat Anton Bruckner diesen Satz gekannt? Wir können es mit guter Gewissheit annehmen.
Das ist schön, wie Schnabel das spielt. Inniglich, mit Befolgung der dynamischen Angaben. Manchmal kommt ein Crescendo – wie das in Takt 5, das bei ihm schon in Takt 4 beginnt – etwas zu früh. In Takt 25 flüstert Schnabel sehr fein. Dann und wann mischt er kleine Accelerandi ein – und gewinnt so an Binnenspannung. Hebt dann der Teil mit den Komplementärrhythmus-Augenblicken an, geht Schnabel ziemlich ab. Er zieht das Tempo straff an – und eskaliert bald auf eine Weise, die wir von ihm kennen; eine Seite, die wir an ihm lieben.
Richter nimmt jeden Takt für sich. Das steht zwar nicht in den Noten, ist aber unfassbar berührend. Hier gilt, wie häufig, wenn Richter langsame Sätze spielt, eine Triggerwarnung: Vorsicht, Schönheit, Weinen.
Einen verblüffend ähnlichen Ansatz wählt Emil Gilels für den zweiten Satz. Sehr ähnliches Tempo, nur zwischendurch Mini-Beschleunigungen, die man aber kaum spürt. Wunderbar, aber nicht so schön wie Richter.
Nicht unähnlich geht Clifford Curzon zu Werke. Aber intellektueller und auch etwas parfümierter, allerdings in trockener Umgebung. Sein Pianissimo ist dafür absolut vorzeigbar.
Gefühlt doppelt so schnell hakelt sich Wilhelm Kempff durch die »con-moto«-Landschaft. Ja, das »con moto«: Man kann es so verstehen. Muss man aber nicht. Hat aber etwas, diese »deutsche Strenge«.
Die für mich unauffälligste Aufnahme. Absolut okay. Aber ich weiß schon, wie mich das als Jugendlicher aufgeregt hat. Dass Alfred Brendel halt kein wirklicher Zauberer ist. Zu akademisch, zu auf sich selbst bezogen in den Überleitungen. Da kommt der pädagogische Zeigefinger heraus. Den will ich einfach hier nicht sehen. Und vor allem nicht hören.
Hier nimmt jemand die Artikulationsanweisungen Schuberts sehr ernst. Zu ernst! Das hat dann etwas Manieriertes. Mit einer Wanderführerin, die mich ständig – zwar leise, geschmackvoll und gut erzogen – auf die Besonderheiten der Natur aufmerksam macht, gehe ich aber nicht ein in das Himmelreich.

Im dritten Satz (Scherzo. Allegro vivace – Trio) treibt Schubert witzigste, aber – geht es gen Piano oder Pianissimo: todtraurige – Rhythmus-Scherze. Wieder erleben wir jene immer irgendwie auch wohlig-akkordischen Attacken; das Dreinfahrende, doch nie Militärische oder wirkliche Grobe. Die etwas sehr männlich-kernige Volksfest-Attitüde ist nur ein Vorwand, um uns immer wieder zu überraschen; so beispielsweise mit recht plötzlichen Verortungs-Variationen, die an die uns schon bekannten Frühlings-Triolen des ersten Satzes zu gemahnen scheinen. Wieder steht Stämmiges neben höchst Sensiblem, Trappelndes neben lyrischem Auffächern von Tongruppen und liedbegleitungsartigen Rhythmusmotiven. Doch versucht man, den 3/4-Takt dieser umgebenden »A-Teile« zu spüren! Schubert wirft einen genüsslich aus der Bahn, indem er immer wieder die dritte Zählzeit ansteuert, markiert und so in einen Selbst-Sog aus Rhythmus-Irritationen gerät, der erst im – erneut Bruckners wohlig-erhabene Blechbläser-Sinfonie-Choräle erstaunlich »vorwegnehmenden« – Akkord-Mittelteil »endet«. Damit »endet« es natürlich nicht. Denn der »A-Teil« kommt natürlich noch einmal wieder.
Herrlich, wie Schnabel kleine »Atmer« zwischen die Akkorde einfügt. Das hat Pranke, das atmet Stofflichkeit. Die Triolengirlanden nivelliert er allerdings dergestalt, dass plötzlich alles nach Trillern, nach Verzierungen klingt. Kein anderer Pianist jemals stand sich auf so aufregende Weise im Wege wie Schnabel!
Ganz schön angetrieben präsentiert sich Sviatoslav Richter. Bei ihm leuchten die Triolen etwas mehr. Und es scheppern die Akkorde! Hier zeigt sich Richter wieder als guter alter Radikalinski!
Etwas zurückgenommener im Tempo: Emil Gilels. Die Triolen zirpt er uns leise, mit ganz wenig Pedal entgegen. Als ob wir es mit Rameau oder anderen Barock-Franzosen zu tun hätten. Kommt es zu den fortwährenden Punktierungen, verspielt sich Gilels ab und zu. Das kennen wir von ihm. Und das ist nie schlimm. Vor allem, wenn man so nähmaschinenartig und dennoch merkwürdig »menschlich« spielt.
Noch sachlicher: Clifford Curzon. Noch zirpiger als bei Gilels grillen die Heuschrecken ihr veganes Schubert-Steak im Zeichen der Triolen-Zwischenschieber. Die »Ländler-Stelle« versieht Curzon mit einigen Ritardandi. Das kommt erst einmal nicht so gut – und doch beginnt diese Interpretation bald Interessantes zu erzählen.
Trocken und etwas unlustig beginnt Kempff den dritten Satz – und verspielt sich erst einmal: Der erste D-Dur-Akkord in Takt 2 ist unsauber. Nicht schlimm, aber irgendwie schon ein bisschen daneben. Die mit Abstand uninteressanteste und unmotivierteste Interpretation.
Interessant, das Brendel das Scherzo am scherzoartigsten nimmt. Mit lockeren Handgelenken und einer gewissen Flinkheit. Dazu singt er ein wenig mit – und das klingt etwas unheimlich. Ganz im Gegensatz zu seiner Interpretation, der mittels dieser Gelassenheit alles Dämonische ausgetrieben wird.
Wiederum ganz anders: Mitsuko Uchida. Irgendwie angestachelt – und ein bisschen sauer. Kein schlechter Ansatz. Ihre Akkordattacken kommen wirklich »näher«, grollen knatschig durch die Takte. Anschließend verzögert Uchida immer die dritte Zählzeit des jeweiligen Taktes; das ist ein bisschen verkünstelt.

Mit dem vierten Satz »endet« das Ganze nicht. Mit dem Rondo (Allegro moderato) sind die Meisten in sieben bis acht Minuten »durch«. Aber ein »Ende« ist es nicht. Es könnte immer so weitergehen. In dieser Sonate, in der der Komponist uns mittels einfachster Melodielinien und Begleitmechanismen aus seinem Schubertschen Kinderherzen erzählt und wunderbarste Intimitätseinblicke gewährt.
So ganz Ernst nimmt Emil Gilels die Notenwerte nicht immer. So müsste beispielsweise der zweite Klang im vierten Takt eigentlich etwas nach oben hin »abreißen«, aber leider ist die Achtel genauso lang wie die vorherige Viertel. Jedenfalls bei Gilels. Überhaupt stakst sich Gilels etwas uninspiriert durch diese nicht einfach zu gestaltende Landschaft. Merkwürdig.
Clifford Curzon war zum Zeitpunkt seiner Aufnahme dieser Schubert-Sonate erst 57 Jahre alt. Er klingt aber, muss man so sagen, in seiner Interpretation des dritten Satzes 20 Jahre älter. Das ist ein wenig betulich, überkorrekt – und eben wenig »mitnehmend«.
Im Gegensatz zu den anderen nimmt Wilhelm Kempff für die D-Dur-Tupfer des Beginns komplett Pedal! Das ist in seiner Spieldosenwirkung eigentlich ganz schön, aber wird auch schnell langweilig und pauschal.
Brendel dagegen lässt sich die Tupfigkeiten in der Begleitung natürlich nicht entgehen. Dafür nervt sein atonales Mitsingen und Stöhnen so kolossal, dass ich es bereue, mir teure Noise-Cancelling-Kopfhörer gekauft zu haben.
Ebenfalls trocken stupst Mitsuko Uchida (deren Namensaussprache wir vor Jahren hier so schön klärten) ihre D-Dur-Schnippsigkeiten ins Schwarz-Weiß. Das ist von einer Stillheit, die mich extrem überzeugt. Vor allem beherrscht Uchida die Kunst durchgehenden Leisespielens. Ihre Mozart-Erfahrungen gehen sich hier voll aus. Und das hätte ich überhaupt nicht gedacht!
Im Direktvergleich mit Uchida geht Richter fast brutal vor. Aber gerade diese »Brutalität der Kinderwelt« hat natürlich Einiges für sich. Wie Richter das tatsächlich vorgeschriebene Fortepiano in Takt 27 in seiner Plötzlichkeit herausholt: ein Wachruf!
Artur Schnabels Staccato-Begleitklänge klingen erst einmal ganz trocken, getupft. Die kleinen Crescendi-Decrescendi-Inseln dehnen sich kurz im Takt aus. Schnabel baut sich hier eine schlichte Szenerie – und nimmt die 16tel-Läufe auf den nächsten Seiten flink und wunderbar süß; fast wie Mendelssohn. Die schnoddrigen Akkordzwischenschübe: mutig, trocken, radikal. Eine herrliche Interpretation; gerade auch wegen der rhythmisch beschleunigenden Teile. Hier steht eben doch gar nichts so »wienerisch« still wie vielleicht angenommen … Man höre also Schnabel und Richter und schließe sich dafür eine gute Zeit lang in einen Raum der Stille ein. ¶