Drei weiße alte Männer mit rabenschwarzen Stimmen singen einander in Grund und Boden, zweieinhalb Stunden lang. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Warum? Kaum drei Minuten sind vergangen in Giuseppe Verdis später Oper Simon Boccanegra, da wird der Preis, um den es hier geht, erstmalig beim Namen genannt.

In sanften Wellen spült das Meer einen Ohrwurm an Land. Er kräuselt sich in feiner Achtelbewegung hoch aus dem Orchestergraben. So geht das los. Vielleicht ist es nicht das Meer, vielleicht sind es die Nornen, die da einen Schicksalsfaden spinnen. Vielleicht ist das Würmlein auch in Wahrheit eine Klapperschlange. Jedenfalls: Diese Melodie nimmt sofort gefangen. Sie kommt in der ganzen Oper nicht wieder vor. Nur am Anfang, da lockt sie zwei finstere Gestalten herbei, Paolo (Bass), trifft sich nachts auf der Gasse mit Pietro (Bariton). Pietro fragt: »…Il premio?« Paolo raunt zurück, pausendurchweht: »Oro, possanza, onore«. Darauf Pietro, etwas lauter, mit fester Stimme, auch der Kontrabass spielt jetzt mit: Okay, dafür verkaufe er gern die Liebe des Volkes. 

Reichtum, Macht, Ruhm: Diese Formel ist der probate Untertitel zum Stück. Wer danach strebt, reißt sich und alle anderen mit den Abgrund. Verdi verschwendet keine Zeit. Sein Simon Boccanegra ist dicht komponiert, es gibt keinerlei Konvention darin, keine überflüssige Note, auch keine altmodischen Cabaletten, nicht einmal richtige Arien. Allerdings viel vollendeten Belcanto und durchkomponierte Diskurse, große Emotionen und zitierfähige Wahrheiten. Auch das von Boito für die Zweitfassung überarbeitete Libretto ist knapp konzentriert aufs Wesentliche. Eine politische Oper: Sie erzählt von Aufstieg und Fall des ersten Dogen der Stadtrepublik Genua. Es geht um die Geburtswehen der modernen Demokratie, um Bürgerkrieg und Verrat, falsche Freunde, gescheiterte Allianzen und die Mobilisierung des Mobs. Zugleich ist der Stoff historisch dokumentiert. Dieser Simone, Plebejer, Seefahrer und Korsar, hat wirklich gelebt. Er hat viel Gutes getan, genug, um zur Legende zu werden. Anno 1363 wurde er vergiftet. 

Im Jahr 2000, in der bahnbrechenden Boccanegra-Inszenierung von Peter Stein, traten Pietro und Paolo, die den widerstrebenden Boccanegra gemeinsam ins Amt pushen, vor den geschlossenen Vorhang hinaus, sie sangen ihren kurzen Dialog im Pianissimo ins Halbdunkel des Saals, machten das Publikum zum Komplizen. Man hat gleich kapiert, worum es geht. Man kann sicher viel einwenden gegen Steins vereinfachtes, theateraffines Kostümfest, es wurde vielfach nachgespielt und ist heute noch immer an der Wiener Staatsoper zu besichtigen. Aber Stein hat damit auch den Durchbruch für das bis dato als hölzern verpönte Stück erzielt. Seither wird es nicht mehr nur alle Jubeljahre gezeigt, es hat den Weg in den aktuellen Repertoirekanon gefunden. Selbst kleinere Theater, in Hagen oder Lübeck, setzen es heute selbstverständlich auf den Spielplan. Am letzten Wochenende gab es gleich zwei Neuinszenierungen: erstmalig am Samstag am Aalto-Theater in Essen, inszeniert von Tatjana Gürbaca; am Sonntag, zum dritten Mal, an der Deutschen Oper in Berlin, inszeniert von Vasily Barkhatov.

Almas Svilpa (Jacopo Fiesco) bei der Essener Inszenierung • Foto © Matthias Jung

In Essen treffen sich die beiden Dunkelmänner auf einer gut beleuchteten, viel frequentierten Baustelle. In Berlin trinken sie Schampus, mitten im Gewusel einer Cocktailparty, Paolo trägt ein Designer-Sakko, Pietro etliche Militärorden an seiner Galauniform. Zum Verständnis der Szene tun beide Bildideen wenig, die Sänger sind auf sich gestellt. In Essen wirken sie – Heiko Trinsinger als Paolo, Andrei Nicoara als Pietro – in ihrem scharf und hart auftrumpfenden Parlando schier austauschbar. In Berlin ist Michael Bachtadze als Paolo stimmlich dominant, er bringt auch ein Quentchen mehr an schwarzen Bösewichtfarben mit ein. Beide Regieteams, das der Gürbaca ebenso wie das von Barkhatov, schreiben freilich die Charaktere um, sie erfinden die Geschichte neu. Der Renaissance-Polit-Thriller wird naheliegenderweise mit Fragen der politischen Gegenwart übermalt. Schließlich: Es gibt Parallelen. Nicht nur im vierzehnten Jahrhundert gingen Politiker über Leichen. Das Scheitern demokratischer Utopien am Faktor Mensch, damals, gemahnt an das Zerbröseln demokratischer Strukturen heute. 

George Petean (Simon Boccanegra), Attilio Glaser (Gabriele Adorno) und Maria Motolygina (Maria/Amelia) in Berlin • Foto © Bettina Stöß

Um das deutlich zu machen, orientiert sich Barkhatovs Bühnenbildner (Zinovy Margolin) an der sichtbetonklaren Herrschaftsarchitektur der Berliner Republik. Sein Dogenpalast besteht aus zwei Riesenräumen, die per Drehbühne lautlos rotieren: eine repräsentative Bibliothek, mit diversen Sitzgelegenheiten; ein kahler Sitzungssaal mit Rednerpult. Beides lässt sich beobachten von der umlaufenden gläsernen Galerie aus, auf der, je nachdem, einzelne Demonstranten auftauchen oder Beerdigungsprozessionen stattfinden, wenn wieder einmal ein Regierungsangehöriger das Zeitliche gesegnet hat. Kalt und schick schaut das aus. In diesem cleanen Ambiente könnte man ebensogut auch Tosca spielen oder Boris Godunow oder Richard III. Der Chor bleibt weitgehend unsichtbar, das Volk ist nur Manipulationsmasse, es tobt draußen vor der Tür. Aufstände werden über Videos und Fernsehbilder von Innen kontrolliert. Sie zeigen, unter anderem, die schockierenden Nachrichtenbilder vom Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021.

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Auch Tatjana Gürbaca erinnert an diesen Choc. In dem überraschend bunten Haufen der militanten Achtundsechziger-Demonstranten, die in ihrer nüchtern-grauen Boccanegra-Inszenierung den »Ratssaal« stürmen, ausgestattet mit Megaphonen, Spruchbändern, Baseballschlägern und Fahnen, läuft auch jener halbnackte Trump-Anhänger und Bison-Maskenträger mit, der damals international eine gewisse Berühmtheit erlangte. Ansonsten verzichtet die Regie in Essen auf Aktualisierungsmätzchen, Videos und Lichtspielerei. Sie setzt auf Personenführung. Von dieser einen Massenszene abgesehen zeigt Gürbaca in einem schon fast klaustrophobisch reduzierten Kammerspiel hautnah das Leid und Glück der handelnden Personen. Was vor allem bedeutet: Die Sänger sind bei ihr gut aufgehoben.

Daniel Luis de Vicente (Simon Boccanegra) und Jessica Muirhead (Amelia) in Essen • Foto © Matthias Jung

Klaus Grünberg baute ihr dazu ein Labyrinth aus grauen Plastikwänden, hässlich, aber praktisch: ein Nirgendwo und Überall. Jedes einzelne Modul dieser mobilen, aufklappbaren Ziehharmonika-Kulisse hat je eine Tür, ein ovales Fenster sowie Scharniere an den Seiten. Es lassen sich Korridore daraus basteln, auch Gefängniszellen. Die Fenster sind geeignet zum Belauern und Beobachten. Nur ein einziges Mal, nämlich, wenn Simon Boccanegra seine Friedensrede hält vor den zerstrittenen Genueser Ratsherren, wird auch die Hinterbühne mit einbezogen. Außerdem hat Gürbaca diese parabelhafte Ortlosigkeit zeitlich eindeutig definiert. Ihr Boccanegra ist ein Angehöriger der Achtundsechzigergeneration, er lebt in der Flowerpower-Ära.

Heiko Trinsinger als Paolo Albiani, Daniel Luis de Vicente als Simon Boccanegra, Andrei Nicoara als Pietro und der Opernchor in Essen • Foto © Matthias Jung

Kostümbildnerin Silke Willrett schwelgt in krassen Mustern und Schockfarben. Paolo, der intrigante Berater des Dogen, der ihn am Ende vergiftet, trägt einen abscheulich schrillen Bratenrock, Sgt.-Pepper’s-Band-würdig; Boccanegra selbst, ein solider, starker Bariton (Daniel Luis de Vicente) stolpert in einem überlangen, mit Ethnomustern verzierten Filzmantel herum; nur der alte Doge, Fiesco (Almas Svilpa) bleibt grau in grau. Und der junge Patrizier Gabriele Adorno (Carlos Cardoso), der erst Boccanegras erbittertster politischer Gegner ist und sich kurz vor Schluss wandelt zu seinem Schwiegersohn und Nachfolger, trägt riesige grün-blaue Pril-Blumen auf seiner Kinderpluderhose, was besonders albern aussieht, weil dieser wunderbare Sänger von eher zierlicher Statur ist. 

Jessica Muirhead (Amelia), Carlos Cardoso (Gabriele) und Daniel Luis de Vicente (Simon Boccanegra) in Essen • Foto © Matthias Jung 

Klein, aber stark! Cardoso, diesen Namen muss man sich merken. Er ist Mitglied des Essener Ensembles, singt wie ein junger Gott. Sein messingfarben schimmernder Tenor überstrahlt alles. Die Höhensicherheit, die Farbenvielfalt und Makellosigkeit seiner Technik wird nur noch übertroffen von der Glut seiner lebendigen Darbietung. Cardoso ist ein Theatertier, man glaubt ihm aufs Wort, dass die schöne Amelia (blühend, voluminös: Jessica Muirhead) der Mittelpunkt seines Lebens ist. Dass er sie retten, für sie töten wird. Das ist der private Nebenschauplatz der politischen Intrigenwirtschaft. Amelia heißt eigentlich Maria, ist Enkelin des Fiesco und Tochter des Boccanegra, ging erst als Baby verloren, wurde dann von Fiesco, der sich Pater Andrea nennt, betreut, schließlich glücklich wiedergefunden und dann abermals von Paolo entführt. Pure Gartenlauben-Kolportage: Ein junger Tor und ein liebes Mädchen fallen um ein Haar patriarchalischen Machtgelüsten zum Opfer. Doch weil mithin ein Sopran und ein Tenor beteiligt sind, gibt es musikalisch wundersam helle Märchenstellen in dieser trostlosen Männeropernfinsternis. Wie Peter Stein, Kenner des bürgerlichen Trauerspiels, so richtig im Programmheft zu seiner Wiener Inszenierung sagte: Bei Verdi »durchdringen sich Politisches und Privates in einer typisch opernhaften, aber doch auch sehr humanen Weise«.

Dies gilt es zu beachten, egal, wie oder von wem dieser grandiose Opern-Thriller heutzutage aktuell aufgemöbelt wird. Gürbaca zeigt das Scheitern des guten Menschen Boccanegra mit Empathie und einer Prise Pathos. Der utopische Augenblick im ersten Akt, wenn es der Doge mit seiner verzweifelten Petrarca-Rede schafft, die harten Herzen von Volk und Ratsherren zu wenden, wenn auch nur vorübergehend, wird durch ein Einfrieren der Bewegung überhöht. Wie ein Erinnerungsfoto für die Nachwelt, so stellt Gürbaca diese gute Botschaft in goldenem Licht heraus. Und das Essener Ensemble lässt dazu vielstimmig, in traumhaft weiten Bögen, den Wunsch nach Frieden und Liebe aufsteigen in den Schnürboden. Es wäre nach alledem gar nicht nötig gewesen, dass am Ende, wenn Boccanegra stirbt, ein Kindlein im Nachthemd auftaucht, möglicherweise Baby Amelia, ihm die Hand reicht und ihn hinausführt ins Paradies. 

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Barkhatov, in Berlin, traut weder dem Himmel etwas zu noch Giuseppe Verdi. Er bessert nach. Hat dem knappen Prolog Verdis noch ein weiteres Vorspiel vorgeschaltet, um in stummer Pantomime zu  Klängen aus der eigentlich ausgemusterten Erstfassung zu zeigen, wie einst die Mutter dieses Babys noch selbst ein Baby war. Immer wieder flackern später Wiederholungen der Idylle über den Familienfernseher, oder sie werden, aufgebläht zu körnigen VHS-Rückblenden, über die ganze Bühne projiziert: als falsches Bewußtsein, das sich fortpflanzt, von Generation zu Generation. Vor allem aber wird der Humanismus des Boccanegra als Demagogengewäsch entlarvt. Bereits sein jubelndes Wiedersehens-Duett mit der Tochter wird nachträglich als ein fürs Fernsehen gefakter Werbegag dargestellt. Erst geht auf Bühne und im Orchester das Licht aus. Dann läuft ein weißer Neon-Morsestreifen quer über die Rampe. Und als es hell wird, sind alle zurückgekehrt auf die Position, die sie vor dieser Szene einnahmen: Als habe die nie stattgefunden. Genau so verfährt die Regie mit Boccanegras Friedensrede und mit allen anderen Stellen, die von Menschlichkeit, Vernunft und Güte dieses Herrschers künden. Sie werden per Blackout rückwirkend gelöscht. Superklug. Handwerklich beeindruckend. Leider etwas unmusikalisch. 

George Petean als Simon Boccanegra in Berlin • Foto © Bettina Stöß

Wenn zwei große schwarze Stimmen, wie die von George Petean (Boccanegra) und Liang Li (Fiesco), sich im Dunkeln begegnen und in Terzen tanzen, lösen sich auch die schlauesten Bilder ganz von allein in Luft auf. Der Witz bei der Sache ist nämlich, dass Barkhatov das Glück hat, mit herausragenden Sängermusikern arbeiten zu dürfen, wie man sie an einem großen, teuren Haus wie der Deutschen Oper Berlin erwarten kann. Glanzvoll die russische Sopranistin Maria Motolygina als Gast, in der Partie der Amelia. Es ist ihr Debut. Eine Überraschung der junge Dirigent, Jader Bignamini, auch diesen Namen sollte man sich merken. Er ist spezialisiert aufs italienische Fach, genau wie sein bewährter Kollege Giuseppe Finzi in Essen. Aber anders als Finzi, der kraftvoll routiniert durch die Partitur pflügt, sind bei Bignamini auch sensible lyrische Farben zu hören sowie feinste dynamische Zwischenstufen, die das Stück bis zum Bersten mit Leben erfüllen. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.