Der Kompositionswettbewerb ist entschieden. Trotz einer hohen Hürde durch die Zugangsvoraussetzungen von RicordiLab – die Bewerber/innen sollten bereits vier eigene Werke vorweisen können, die von professionellen Ensembles aufgeführt oder gar beauftragt worden sind – haben sich 217 Komponist/innen aus 45 verschiedenen Ländern bei der Jury mit ihrem Beirat, bestehend aus der Komponistin Liza Lim, dem Dirigenten Kristjan Järvi, dem Journalisten Gillian Moore und Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon beworben. Shiori Usui, Steffen Wick und Sarah Nemtsov sind die Gewinner/innen, die nun erst einmal drei Jahre lang vom G. Ricordi & Co. Bühnen und Musikverlag GmbH, Berlin verlegt, unterstützt und gefördert werden. Außerdem warten Aufführungen mit und bei den Wettbewerbspartnern Basel Sinfonietta, Southbank Centre London und dem Staatstheater Cottbus. Jeffrey Arlo Brown hat eine sehr zufriedene Sarah Nemtsov in unserem Berliner Büro interviewt.

Gratulation! Was wird das für dich ändern?

Für mich ändert das ganz grundlegend, dass ich jetzt Unterstützung habe. Es gibt einfach so viele Dinge, die man besprechen muss, Kontakt mit Musikern, die dann ihrerseits versuchen, weitere Aufführungen zu organisieren, das ganze Thema promotion. Es frisst mich auf. Ich bin auch nicht gut darin. Das wird mir nun teilweise abgenommen. Und: Es ist natürlich eine Auszeichnung, hier ausgewählt worden zu sein. Es bestätigt die Arbeit. Das gibt eine gute Energie, wenn man so was erfährt.

Schaffst du eine klare Trennung zwischen Komponieren und Verwaltung?

Ja. Im Moment schreibe ich eine große Oper, und ich ignoriere mein Handy, meine E-Mails leider auch – da sind manche schon auch ein bisschen ungeduldig. Aber es geht nicht anders. Das lenkt sonst zu sehr ab. Ich kümmere mich dann am Abend oder am Wochenende darum. Ich setze da eindeutige Prioritäten. Für das Komponieren ist es gut, für die anderen Aspekte des Künstler-Daseins vielleicht nicht unbedingt.

Hast du den kleinen Eklat um einen Tweet zum RicordiLab mitbekommen? »Komponistinnen: Wo seid ihr? Bisher haben sich fast nur Männer bei ricordi-lab.com beworben.« hieß es. Dagegen meinten viele, dass die strukturellen Hindernisse – man musste ein schon aufgeführtes Orchesterwerk und ein Werk für großes Ensemble einreichen – es für Frauen sehr schwierig gemacht hätten.

Ja, das habe ich mitbekommen. Ich selbst hatte mich ziemlich spät beworben; auf den letzten Drücker. Ein wenig kann ich die Kritik nachvollziehen, aber grundsätzlich sehe ich im Moment auch Positives. Ich habe das Gefühl, es gibt ein gewisses Bewusstsein für die Problematik. Ich war dieses Jahr nicht in Darmstadt, aber ich weiß, da war viel los. Ich habe das Gefühl, dass Kuratoren und Festivals viel größeres Augenmerk darauf legen als noch vor einiger Zeit. Aber dennoch, wenn man sich Orchesterprogramme ansieht, was es dort an Neuer Musik gibt: Es ist einfach eklatant zu wenig. Ich will nicht von Frauenquoten sprechen, aber Komponistinnen kommen da einfach sehr selten vor. Insofern kann ich die Kritik an dem Auswahlkriterium nachvollziehen, weil die Hürde für viele Frauen eben nicht die Qualität, sondern die Strukturen sind, die es zu überarbeiten gilt.

(Später fügt sie per SMS hinzu: Aber ich denke, dass auch ricordi selbst das bestimmt jetzt erkennt. Es war ja die erste Ausschreibung; d. Red.)

Du arbeitest mit Mikrotönen, stimmt das?

Eigentlich benutze ich dauernd Mikrotöne, arbeite auch stark mit Verstimmungen. Lange war es eher im Sinne einer gewissen Ornamentik gedacht, so dass in einer Linie die Abstände anders empfunden werden, aber auch: um neue Intervalle zu kreieren.

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Sarah Nemtsov, Journal; Ensemble LUX:NM

Hört man mikrotonale Intervalle, wenn es schnell geht?

Ja, die orientalische Musik, die ich intensiv studiert habe, ist das beste Beispiel: Da klingt es sehr differenziert und fein erlebbar. Anderseits geht es mittlerweile viel mehr in die Harmonik, aber eben nicht im Sinne einer spektralen Musik. Es sind jetzt nicht irgendwelche Obertonspektren die ich reinrechne, mit soundsoviel Cent.

Und wie würdest du deine Harmonik beschreiben?

Schwer zu sagen. Mich interessiert die Harmonik, und zwar schon lange. Aber was ich nicht schätze, sind diese Retro-Ansätze, wo man zurück in eine Pseudo-Tonalität fällt. Wobei man in dem Zusammenhang etwas nennen muss, was ich ebenfalls schwierig finde: Gesten, die eigentlich eher an romantische Musik erinnern, aber die Harmonik ist atonal. Das interessiert mich auch nicht. Musik, die »normale« Töne verwendet, wo es aber um diese gar nicht geht, da ist so was Graues drin, das mag ich nicht. Mein harmonisches Interesse kommt eigentlich eher davon, dass ich die Renaissance- und Barockmusik wahnsinnig liebe. Und die Polyphonie. Seit meiner frühen Kindheit habe ich das Gefühl, ich brauche das dauernd; ich muss das immer wieder anhören, um meinen Geist zu reinigen. Bach ist ein Name, der immer genannt wird, aber es gibt auch viele andere Komponisten. Ich könnte mir mein Dasein nicht vorstellen, ohne diese Musik immer wieder zu hören. Das ist für mich belebend. Eigentlich suche ich nach der Möglichkeit der Modulation, ohne in die Tonalität zurückzufallen.

Letztes Jahr, im Gespräch mit der ZEIT hattest du ein Konzert erwähnt, 2015 in Erfurt, wo du vom Publikum ausgebuht wurdest. Wie fühlte sich das an?

Es war wirklich schon ein krasser Moment, muss ich sagen: auf die Bühne zu gehen und die ›Buhs‹ entgegenzunehmen. Gleichzeitig war das Ganze eine wahnsinnig gute Erfahrung, auf eine seltsame Art und Weise. Weil ich noch mehr wusste, was ich will und warum ich das will. Ich habe auch einiges gelernt.

Am nächsten Abend hat Joana Mallwitz, die dortige Generalmusikdirektorin, vor dem Stück eine Rede gehalten und das Publikum gebeten, sich ein bisschen mehr zu öffnen. An diesem zweiten Abend gab es richtig Tumulte im Publikum, ›Bravos‹ gegen ›Buhs‹. Später gab es wohl Zuschriften vom Publikum, wo Menschen sich für das andere Publikum entschuldigt haben und das Theater bestärkt haben. Ein Klarinettist hat mir gesagt, es gab so etwas in Erfurt seit 20 Jahren nicht mehr, und er war sehr froh darüber, dass das passiert ist.

Ich habe kurz danach ein Projekt initiiert und mit begleitet, Mekomot, wo wir in die Synagogen gegangen sind. Da war ein Publikum, was eben kein Neue-Musik-Publikum war. Menschen, die in der Provinz leben – viel ›mehr‹ Provinz als Erfurt noch – und die selten klassische Musik gehört haben. Die waren konfrontiert mit fünf anstrengenden Stücken neuer Musik. Und da habe ich einfach gespürt: die Menschen kann man wirklich erreichen gerade durch den Kontext. Wir haben die Konzerte so geplant, dass es eine Geschichte gab, woran man sich festhalten konnte. Wir waren ganz anders mit ihnen im Gespräch. Und wir haben so viele positive Reaktionen, so viel Berührtheit erfahren, für diese fremde Musik, das war wirklich total beglückend.  

Hattest du dich in Erfurt gefragt, ob etwas an der Komposition selbst zu verändern wäre, oder war es dir sofort klar, dass es eine Frage der Vermittlung ist?

Ich habe eigentlich gar nicht gedacht, dass das Stück so provokativ sein würde. Dass die Dirigentin einen Mini-Synthesizer und ein Toy-Piano bedient, auf dem gesampelte Streicher-Sounds sind, das war für mich ein Statement gegen Fusionierungen und Sparzwänge. Es war gleichzeitig ein Stück für das Orchester, das zwischen Freiheit und Dirigat hin und her pendelt. Das andere Problem war, dass es kaum Probezeit gab. Für manche Stellen war es einfach zu wenig Probezeit.  

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Sarah Nemtsov, drummed variation; Matthias Engler (no drumset), Gunnhildur Einarsdóttir (kaoss pad)

Ich glaube, ein Publikum spürt, wenn zu wenig geprobt wurde, auch wenn es das an keiner bestimmten Stelle festmachen kann.

Sicherlich, genau.

In dem Gespräch mit der ZEIT ging es kurz um die Frage, ob Opern aktuell sein dürften. Da wurde die Idee einer ›IS-Oper‹ erwähnt…

Das Absurde ist ja, damals habe ich in dem Interview erst mal geschluckt, aber ich schreibe gerade tatsächlich eine IS-Oper! (lacht) Wenn man es so nennen kann, es ist eigentlich nur ein Element der ganzen Oper.   

Der Opern-Intendant in Halle las die Geschichte von einem deutschen Mädchen aus der Umgebung, das sich mit 15 Jahren entschied, nach Syrien zu gehen und sich dem IS anzuschließen, sie hatte noch eine Gefährtin dabei. Sie ist zuvor ganz behütet aufgewachsen. Also denkt man: Wie kommt das denn bitte? Die Überlegung war, dass man sich mit Radikalisierung beschäftigt. Was überhaupt an radikalen Strömungen fasziniert. Wo diese Ideologien zuschnappen und was einen Menschen dazu bringt, vom Gedanklichen hin bis zur wirklichen Tat zu gehen. Und auch die Frage, ob es zurück hätte gehen können.

Das war der Startpunkt. Dann wurde ich mit dem Librettisten Dirk Laucke zusammengebracht, der hauptsächlich für Theater schreibt und sehr viel politisches Theater macht. Er hat eine Handlung entwickelt, in der es neben den beiden Mädchen weitere Handlungsstränge gibt. Zum Beispiel drei Journalisten, die an der Außengrenze Europas stehen und auf Flüchtlinge warten und in einem moralischen Dilemma stecken. Die sind gleichzeitig eine Art Sinnbild für den Kulturbetrieb, der sich mit dieser Thematik beschäftigt.

Wie recherchierst du eine solche Geschichte? Hast du während der Vorbereitung den Wunsch verspürt, an die türkisch-syrische Grenze zu fahren und dich umzuschauen?

Ich möchte eigentlich nur allgemein sagen, dass ich Kontakte habe und an Aktionen teilgenommen habe. Es gibt ein bisschen mehr, als dass ich nur Bücher lese; ich komme in direkten Kontakt mit Menschen, die von dort sind.   

Also gehst du das Thema in deiner Oper abstrakter an, als du es in deinem Leben tust.

Genau, eigentlich schon.

Sarah Nemtsov, Wolves

Du hast Oboe studiert. Oboisten verbringen bekanntlich viel Zeit an ihren Rohrblättern. Vermisst du dieses Handwerk?

Oh, das ist wirklich das Letzte was ich vermisse! (Lacht.) Das habe ich so gehasst, weil ich viel zu ungeduldig dafür bin. Ich habe nur geflucht. Das habe ich auch so ein bisschen in dem Stück Wolves verarbeitet: Ich habe 2012 ein Stück für Oboe und Klavier geschrieben, es war eigentlich für meinen früheren Oboen-Professor, und da habe ich das Klavier mit dem ganzen Rohrbaukram präpariert, inklusive einer Hobelmaschine, die dann auf den tiefen Saiten liegt und mit der man auch rumhobelt im Klavier. Das klingt sehr wie Schlagzeug. Gleichzeitig schneidet die Oboe zweimal im Verlauf des Stücks ihr Rohr ab. Beim ersten Mal wird der Ton sehr unberechenbar, beim zweiten kommen dann halt Luftgeräusche. Man braucht für dieses Handwerk Geduld, und ich bin ein eher ungeduldiger Mensch. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.