Für Musikbegeisterte war Twitter auf den ersten Blick nicht das richtige Soziale Netzwerk. Auf Youtube kann man sich 10 Stunden nonstop Für Elise reinziehen, auf TikTok gehen Teenager mit Shantys viral. Twitter bot keine Möglichkeit, die eigene Musik zu teilen (wie SoundCloud oder Bandcamp) und anders als auf Discogs war es der Twittergemeinde ziemlich egal, wenn man mit einer Aufnahme vom 14-jährigen Gérard Grisey am Akkordeon auf Vinyl eine absolute Rarität im Plattenschrank hatte.
Twitter war auch rein technisch gesehen keine ideale Plattform für musikspezifische Posts: Für Youtube-Links wurde keine Vorschau angezeigt und die automatische Bildbeschneidung zerhackstückte jedes Partitur-Foto. Genauso beschnitt Twitter auch die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzerinnen: Kaum hatte man ein paar Minuten gescrollt, fühlte sich eine Brucknersymphonie plötzlich an wie eine komplette Alpenquerung in einem durchweg verregneten November. Klassik auf Twitter war eigentlich nie besonders musikalisch. Kritik, Analyse, Vergleiche, selbst Empfehlungen brauchen mehr Zeichen. Und mehr Klang.
Trotzdem ist Twitter zu einem nicht zu unterschätzenden – ja, sogar unersetzlichen Forum für klassische Musik und deren Fans geworden. Für sie wird der Tag, an dem Elon Musk Twitter endgültig zugrunde richtet, ein trauriger sein. Wir sind es gewohnt, still und konzentriert zu lauschen, auf Twitter konnten wir endlich mal laut werden. Und es gab einiges zu sagen.
Twitter machte die Kneipendiskussionen nach dem Konzert öffentlich und holte eine ganze Schar Unbekannter mit an den Tisch. Man konnte hier seine Verachtung gegenüber Brahms kundtun und jede Begründung verweigern. Man konnte kritischen Kritiker:innen erwidern, dass sie sich verpissen sollen. Man konnte sich über die Wunderkinder beklagen, die noch nicht mal geboren waren, als man sich selbst schon durch die ersten Probespiele quälte, und die heute trotzdem besser spielen. Man konnte die Berliner Philharmoniker im Tweet markieren und so direkt um einen Kompositionsauftrag anbetteln. Man konnte, wenn einem gerade nicht besseres einfiel, irgendeinen Müll zu irgendwas schreiben, was gerade viral ging, und dann die neu gewonnene Aufmerksamkeit umlenken auf das, was einem wirklich wichtig war. Man konnte hier verkünden, warum man es lieber lässt mit dem Musikmachen. Man konnte mit der angemessenen Dramatik die Künstlerinnenbiographie von Khatia Buniatishvilis Website vortragen und damit Hunderten von Menschen eine Freude machen.
Man konnte Zweifel und Verletzlichkeit zeigen – Emotionen, die in der klassischen Musik sonst nur einen Raum bekommen, wenn es um Leute geht, die längst tot sind.
Die Klassik-Crowd auf Twitter wurde zum aufmüpfigen Gewissen einer Branche, die keine Kontrolle von außen gewohnt war. Man denke nur mal daran, was sich klassische Musikinstitutionen in Zeiten vor dem Online-»Pöbel« alles erlaubt haben, offenbar ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken: ganze Saisons ohne ein einziges Werk einer Person of Color oder einer Frau; Blackface; ganze musikwissenschaftliche Konferenzen ohne eine einzige Person of Color oder eine Frau auf dem Podium; Yellowface; zynische Tarifverhandlungen; das Verbot des Mitführens von »Fremdgetränken«, um dann 17 Dollar für ein Wasser zu verlangen; die viel zu späte oder ganz ausbleibende Bezahlung von Selbständigen; Dirigenten, die öffentlich behaupteten, dass Frauen nicht auf das Podium, sondern in die Küche gehören; ganze Wettbewerbe ohne eine Person of Color oder eine Frau im Finale; Beethoven-Jubiläen. Twitter hat das alles natürlich nicht direkt behoben, aber es hat die Institutionen gezwungen, sich dem Risiko zu stellen, dass es jemandem auffallen könnte.
Als ich diesen Herbst in der Berliner Philharmonie Yannick Nézet-Séguin und das Philadelphia Orchestra mit Florence Price‘ erster Symphonie hörte, dachte ich: Dieses Konzert verdanken wir Twitter. Natürlich nicht nur Twitter – was offline für dieses Programm getan wurde, war mindestens genauso wichtig –, aber eben auch bestimmten Gruppen, die die Plattform jahrelang für ihre musikalische Graswurzelbewegung genutzt haben. Es war nicht anders als in den Anfängen von Black Lives Matter oder den zahllosen anderen aktivistischen Gruppen, deren Arbeit unter anderem auf dieser Plattform fußte. Die Klassikwelt auf Twitter drängte auf mehr Vielfalt in den Programmen und Orchester und andere Institutionen begannen zuzuhören.
Twitter brachte – ich bin nicht der erste, der das erkennt – vor allem in Feldern Veränderung, in denen das System der Gatekeeper bisher besonders gut funktioniert hat. Die klassische Musik stach hier hervor als eine Domäne von Männern mit Halbglatzen und Bärten, die Whisky trinken und Zigarren rauchen, wie die Komponistin Rebecca Saunders es einmal ausdrückte. Die Klassik-Debatten auf Twitter waren zwar chaotisch, häufig von persönlichen Interessen beeinflusst und zuweilen auch von Falschinformationen, aber sie hatten den Vorteil, dass man sich ihnen einfach anschließen konnte. Es ist schwer vorstellbar, wo VAN heute wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte.
Es ist nicht so, dass es in der Klassiwelt auf Twitter immer einfach war. Vieles war hier genauso schlecht wie im Rest des Sozialen Netzwerks: Es gab sexistische, rassistische, homophobe, transphobe, antisemitische und ableistische Kommentare. In der Nische wurde es oft unangenehm persönlich, Gerüchte wurden als gesicherte Tatsachen hingestellt, Zitate aus dem Kontext gerissen und so mit einem Vielfachen der Aufmerksamkeit, die sie im ursprünglichen Zusammenhang je bekommen hätten, bedacht. Denken wir nur an den akademischen Jargon, der oft genug nicht recht verstanden wurde; die Annahme, dass die Person, mit der man gerade stritt – über die Bedeutung von Wagner im Musikunterricht, über das Make-up eines Sängers – einfach ein verdammter Idiot ist; die Kampagne zur Abschaffung von Arnold Schönberg; die Tempi, die nur gewählt wurden, damit man einen Threatening Music Notation Post bekam; die Opernideen, die auf viral gegangenen »wahren« Begebenheiten basierten; die Opern, die es wegen gemeiner Tweets nie gab; die Karriere von Igor Levit als politischem Experten; Tweet Seats; die unzähligen guten Aufführungen, Alben, Kompositionen und Artikel, die zugunsten des täglichen Aufregers völlig ignoriert wurden.
Und doch war das Navigieren durch diese Widrigkeiten auch eine verbindende Erfahrung. Angela Watercutter schrieb in Wired: »Es ist schwer, nicht mitsingen zu wollen, wenn man das Requiem hört, das auf Twitter gesungen wird.« Lasst uns also gemeinsam in diesem großen Requiem zusammenkommen, in dieser Symphonie der Tausend, und mit Inbrunst unsere Stimme erheben zur Verkündigung einer erlesenen Auswahl von @dril tweets. ¶
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