Das Radialsystem an der Spree ist eine Erfolgsgeschichte: Seit die drei Gründer Tilman Harckensee, Jochen Sandig und Folkert Uhde das ehemalige Abwasserpumpwerk V 2005 übernahmen, hat es sich zu einem zentralen Berliner Kulturort, einer Ankerinstitution für die freie Szene und einer transdisziplinären Produktionsstätte mit internationaler Ausstrahlung entwickelt. 2018 kaufte das Land Berlin die Immobilie auf und sicherte sie somit dauerhaft vor einem Verkauf durch den ehemaligen privaten Besitzer. Außerdem wurde im selben Jahr erstmals eine infrastrukturelle Förderung von jährlich etwa 1 Millionen Euro im Doppelhaushalt des Landes Berlin eingestellt. Gleichzeitig muss sich das Haus weiterhin zu zwei Dritteln über die kommerzielle Vermietung des Gebäudes an Stiftungen, Parteien oder Unternehmen finanzieren.Als letzte öffentliche Veranstaltung fand am 12. März im Radialsystem die Premiere des Stücks remains des US-amerikanischen Performers, Autors und Regisseurs Andrew Schneider statt. Am Tag drauf schloss es seine Türen. Wie geht es jetzt weiter, was sind die Szenarien und Visionen der Leitung, auch außerhalb des eigenen institutionellen Mikrokosmos? Hartmut Welscher traf die Geschäftsführerin Friederike Hofmeister und den künstlerischen Leiter Matthias Mohr in einem Schmargendorfer Café, weit weg von den tektonischen Metropolenplatten aus Event-Viertel, Party-Tourismus und Turbo-Gentrifizierung, die rund um das Radialsystem am Berliner Ostbahnhof aufeinanderprallen.

VAN: Ihr habt im Radialsystem immer abwechselnde Kunst- und Vermietungsperioden, insgesamt sieben Monate künstlerisches Programm und fünf Monate Vermietung. Wie hat Euch in beiden Bereichen Corona getroffen?
Friederike Hofmeister: Bis Anfang Mai war ein künstlerisches Programm geplant, das dann nicht mehr stattfinden konnte, und jetzt im Mai und Juni die erste zweimonatige Vermietungsperiode. Da ging aber gar nichts mehr. Wenn keine Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen, helfen Stornoregelungen in den Verträgen auch nur bedingt. Im Prinzip haben wir Null Einnahmen. Es hätten 1 Millionen sein müssen, jetzt sind es Null.Matthias Mohr: Als wir am 13. März aufhören mussten, haben wir uns natürlich auch gefragt, wie wir für uns und die Künstler:innen, mit denen wir arbeiten, in der Zeit der Schließung eine Sichtbarkeit schaffen können. Wir haben uns gegen ein Streaming entschieden, weil wir nicht nur in Richtung Distribution von Inhalten denken wollten, sondern eher dahingehend, wie wir uns in der Digitalität trotzdem noch begegnen und miteinander eine ästhetische Erfahrung machen können. Im Rahmen unseres Programms ›New Empathy‹ veranstalten wir bis Mitte Juni interdisziplinäre Formate zum Beispiel über Zoom mit einer sehr reduzierten Teilnehmer:innen-Zahl. Wir haben dabei mit Registrierungen gearbeitet, um eine Form der Verbindlichkeit herzustellen: Man verabredet sich, muss zu einem bestimmten Zeitpunkt da sein, danach ist es weg, es gibt Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Teilnehmer:innen und Künstler:innen. Das Internet nicht als Tool, ganz viele zu erreichen, sondern als Tool, um überhaupt noch etwas gemeinsam zu erleben.

Welche Öffnungsszenarien spielt ihr gerade durch?
Friederike Hofmeister: Im Vermietungsbereich fangen jetzt auch die Herbstmonate an zu wackeln. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass dann Konferenzen mit 500 Personen stattfinden können. Wir denken jetzt darüber nach, wie man Konferenzen als gemischtes Format veranstalten könnte, so dass Menschen sowohl vor Ort sind, als auch von überall her digital teilnehmen und sich aktiv einbringen können. Da strecken wir gerade die Fühler aus, welche technischen Möglichkeiten es gibt. Aber ob das angenommen wird – keine Ahnung. Insofern steht auch hinter der zweiten Vermietungsperiode, die drei Monate lang sein wird, potentiell eine Null.
Matthias Mohr: Nach derzeitigem Stand planen wir, das Haus im August langsam wieder zu öffnen. Es geht uns dabei nicht so sehr darum, möglichst schnell möglichst viele Menschen in den Raum zu bringen. Das wollen wir natürlich auch irgendwann. Trotzdem ist Kunst immer dann interessant, wenn sie nicht so tut, als befinden wir uns in einer Normalität. In einer nicht-normalen Situation Normalität zu suggerieren, wäre etwas seltsam. Deshalb wollen wir versuchen, etwas zu erzeugen, was wir normalerweise nicht erzeugen können, singuläre Erfahrungen von Klang in unseren Räumlichkeiten, zum Beispiel eine Klanginstallation in der großen Halle, die man ganz alleine erleben kann.
Studienergebnisse und Empfehlungen ändern sich gerade täglich, zum Beispiel hinsichtlich der Verbreitung des Virus über Aerosole, was natürlich insbesondere für Blasinstrumente und Sänger:innen Auswirkungen hat. Wie könnt ihr in dieser Schwebesituation planen und kommunizieren?
Matthias Mohr: Gute Frage, das größte Problem sehe ich gerade tatsächlich in der Vokalmusik. Mit dem Rundfunkchor sprechen wir darüber, wie man wenigstens Streaming-Formate realisieren könnte. Für den Oktober hatten wir ein Projekt mit sechzehn Frauenstimmen geplant. Da fahren wir jetzt zweigleisig: Wir wollen, dass es stattfindet, gleichzeitig überlegen wir, in welcher Form wir es ermöglichen können, wenn es vor Ort nicht geht. Macht man dann zum Beispiel eine Aufnahme und daraus eine Klanginstallation aus 16 Boxen, um einen Plan B in petto zu haben?

Wie zufrieden seid ihr mit den bisherigen Hilfsprogrammen?
Friederike Hofmeister: Das kann ich dir nächste Woche beantworten. [lacht] Klaus Lederer hat gestern im Kulturausschuss relativ ermutigende Worte gefunden. Aber ich bin wirklich gespannt, weil wir im Rahmen des Soforthilfeprogramm IV natürlich nicht nur die 25.000 Euro beantragt haben, sondern weit mehr. Da sitzen jetzt Wirtschaftsprüfer:innen dran, die sich den Hintergrund des Unternehmens anschauen, das Ganze wird dann gekoppelt an eine Jury, die über die Relevanz entscheidet. Anhand dieser zwei Parameter wird festgelegt, wer was bekommt und in welcher Form. Wir leben im Moment davon, dass wir im letzten Jahr über sehr gut gelaufene Vermietungsmonate ein paar Rücklagen erwirtschaften konnten. Aber die sind total endlich, man sieht, wie der Eisberg abschmilzt. Wenn jetzt im Herbst nichts nachkommt, dann wird’s richtig ernst für uns.
Die Stadt wird die Immobilie Radialsystem nicht erst für 14 Millionen Euro kaufen, um sie dann vor die Hunde gehen zu lassen.
Friederike Hofmeister: Klar, das Land Berlin hat die Immobilie gekauft, die ist aber nicht zwingend mit uns verbunden. Dass wir nichts bekommen, kann ich mir nicht vorstellen, ob wir den Betrag bekommen, den wir beantragt haben, weiß ich nicht. Fakt ist: Es wird hinten und vorne nicht reichen. Matthias Mohr: In Berlin haben wir es nicht schlecht getroffen mit den Hilfsmaßnahmen des Senats, da können wir uns nicht beklagen. Aber auf Bundesebene muss man noch viel mehr Druck machen, damit da jenseits der vielen Ankündigungen etwas passiert.
Die Frage ist zum Beispiel, was mit den vielen kleineren Orten der Musikszene wie KM28 oder ausland passiert. Wenn die wieder öffnen und die Abstandsregeln einhalten sollen, kannst du dir an einer Hand abzählen, wie viele Leute da noch rein dürfen. Wie lange können die sich dann noch halten? Gerade für diese kleineren Orte braucht es noch bessere Ideen, wie man sie langfristig stützen kann.
Ich nehme unter vielen freien Kulturschaffenden das Gefühl einer zunehmenden Ohnmacht wahr, weil immer klarer wird, dass es noch lange dauern wird, bis ein normaler Betrieb wieder möglich ist, und gleichzeitig die Gelder für Hilfsprogramme endlich sind und nicht alle gerettet werden. Wie empfindet ihr die Stimmung?
Matthias Mohr: Die ändert sich irgendwie gerade alle zwei Wochen. Das eine ist die wirtschaftliche Existenzfrage, das andere ist: Wann kann ich das, was ich eigentlich tue, wieder ausüben? Die 5.000 Euro Soforthilfe haben in Berlin vielen geholfen, die erste Zeit zu überbrücken. Andererseits steigt gerade das Bewusstsein, dass es noch ganz schön dauern könnte, was zunehmend zu einer psychologischen Belastung führt.Friederike Hofmeister: In der ersten Phase waren wir noch etwas in dem Modus: Jetzt tauchen wir ganz tief und halten die Luft an, und irgendwann tauchen wir wieder auf und es ist vorbei. Wir sehen natürlich auch ganz stark, wer da außer den Künstler:innen noch dran hängt. Das sind unsere ganzen freien Techniker:innen, bei denen von einem Tag auf den anderen alle Jobs weg waren, der Caterer, die Personaldienstleistungsfirma, die Jungs, die unsere Auf- und Abbauten machen. Über die wird eigentlich noch weniger gesprochen, weil sie nicht auf der Bühne, sondern die unsichtbaren Helfer:innen im Hintergrund sind.

Welche Schwachstellen des Systems zeigen sich gerade und wie könnte es besser gegen Krisen abgesichert werden?
Matthias Mohr: Im Bereich der Grundsicherung gibt es Modelle, die zeigen, wie es anders und besser laufen könnte. Zum Beispiel in Belgien, wo die Arbeitslosenversicherung für Künstler:innen an etwas Ähnliches wie bei uns die Künstlersozialkasse gebunden ist. Das heißt: Du kommst in das Programm, wenn du für einen gewissen Zeitraum künstlerisch gearbeitet hast. Wenn du dann keine Arbeit hast, bist du zumindest existenzgesichert. In Frankreich gibt es ein ähnliches Modell. Das andere wäre, die Institutionen, die der freien Szene die Räume eröffnen, mit eigenen Produktionsmitteln auszustatten. In Krisensituationen wie der jetzigen könnten diese dann Künstler:innen anders auffangen …Friederike Hofmeister: … was aus meiner Sicht darüber hinaus noch eine totale administrative Entlastung mit sich bringen würde. Wenn ich mir überlege, dass sich jetzt in der Kulturverwaltung die Leute Arme und Beine ausreißen müssen, um sich jedes einzelne geförderte Projekt anzuschauen und zum Beispiel Ausfallhonorare zu prüfen … Man merkt in einer solchen Situation, dass dieses extrem vertikal unterteilte System gar nicht steuerbar ist. Wenn Programmmittel an den Institutionen verankert wären, und ich meine damit natürlich nicht nur das Radialsystem, hätten wir die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, flexibel zu reagieren und unseren Teil dazu beizutragen, Künstler:innen zu helfen. Das können wir jetzt gar nicht, weil alles Geld und Administrative in der Kulturverwaltung angesiedelt ist.
Die Schwächen des projektbezogenen Arbeitens liegen ja auch darin, dass man immer nur von der Hand in den Mund lebt, nie aus dem Antragshamsterrad rauskommt, oft keine Rücklagen gebildet werden können bei gleichzeitig zunehmend hohem administrativen Aufwand.
Matthias Mohr: … was im Grunde auch total unkünstlerisch ist, weil Künstler:innen in diesem Antragskreislauf halbjährlich Projekte am Grünen Tisch entwickeln müssen, bevor sie überhaupt künstlerisch daran forschen konnten. Es entstehen so immer Kopfgeburten, die aber für das künstlerische Vorankommen nicht förderlich sind. Uns geht es da genauso. Da muss ein Umdenken stattfinden. Es muss eigentlich eine Struktur entstehen, wo Künstler:innen langfristiger am künstlerischen Ausdruck arbeiten können, ohne direkt an das Produkt gebunden zu sein.
Matthias, du hast vor zwei Jahren als künstlerischer Leiter beim Radialsystem angefangen. Auf eurer Team-Seite ist zu lesen, dass ›Jochen Sandig und Folkert Uhde das Radialsystem als Projekt- und Ideengeber weiterhin maßgeblich mitgestalten‹. Nervt es eigentlich, dass es immer noch zwei Gründerväter gibt, die dir reinreden?
Matthias Mohr: [lacht] Das ist eine Frage, die ich mir zu Beginn, da ich beide gar nicht kannte, auch gestellt habe. Aber Jochen und Folkert haben sehr bewusst das Ruder übergeben und gesagt: ›Es ist gut, wenn andere Menschen darüber nachdenken, was hier passiert.‹ Außerdem haben die beiden genug eigene Projekte, mit denen sie beschäftigt sind. Natürlich sind wir im Gespräch und tauschen uns aus. Es gibt ja auch viele Schnittmengen bei Projekten.
Stimmt der Eindruck, dass es beim Programm mehr Richtung Tanz geht und weg von der Musik?
Matthias Mohr: Es stimmt, dass Tanz prominenter geworden ist. Wir haben den musikalischen Fokus etwas verschoben hin zu Projekten und Formaten, die an anderen Häusern, die vielleicht eher den musikalischen Kanon abdecken, nicht stattfinden. Das Radialsystem wurde jahrelang stark als Haus mit den zwei Pfeilern Musik und Tanz wahrgenommen. Die wollen wir stärker zusammenschieben, mehr an der Frage von Transdisziplinarität arbeiten, wie sich beide Kunstformen noch mehr miteinander verzahnen können.
Gleichzeitig ist das Radialsystem einer der wenigen freien Veranstaltungsorte in Berlin, in denen freie Musikensembles Produktionen machen können. Müssen die sich ein interdisziplinäres Projekt suchen, um im Radialsystem auftreten zu dürfen?
Matthias Mohr: Wir wollen nicht auf Teufel komm raus das klassische Konzertformat aufsprengen. Aber uns hat immer bewegt, welche musikalischen Ausdrucksformen eine Musik des 21. Jahrhunderts repräsentieren könnten, wie Musik in einer anderen Rahmung und Kontextualisierung wahrgenommen wird. Klassische Musik ist ja sehr stark mit gewissen Stereotypen verbunden, die auch reproduziert werden, Vorstellungen von Hierarchisierung. Aber das Radialsystem ist kein repräsentativer Hochkulturbau und atmet auch diese Luft nicht, sondern versucht ganz bewusst eine andere Niedrigschwelligkeit herzustellen. Von der Straße geht man bei uns einen Schritt nach unten, nicht eine repräsentative Treppe hinauf.

Ihr seid mittlerweile ein etablierter Platzhirsch in der Berliner Kulturszene …
Friederike Hofmeister: So haben wir uns nie gefühlt und fühlen wir uns auch heute noch nicht so.
Aber in der Außenwahrnehmung seid ihr es.
Friederike Hofmeister: Ich glaube, es war von Anfang an so, dass wir wegen des tollen beeindruckenden Gebäudes massiv überschätzt wurden. Im Sinne von, ›das ist ein gemachtes Nest, wer in so einem Laden sitzt, der muss es haben.‹ Das hat, wie so oft, eine gute und eine weniger gute Seite. Die gute ist, dass wir im Konferenzbereich ohne diese hochwertige Ausstrahlung der Immobilie keine Chance hätten. Die weniger gute ist, dass ein Eindruck erweckt wird, der nicht der Realität entspricht.
Das Radialsystem ist ein Scheinriese?
Friederike Hofmeister: Ich weiß nicht, ob der Begriff genau passt. Wir haben immer hart dafür gearbeitet, um dem Anspruch, der entsteht, wenn du vor diesem Haus stehst, irgendwie gerecht werden zu können. Das zu schaffen ist immer so eine große Herausforderung gewesen, dass dabei noch nie ein Zustand der Saturiertheit eingetreten ist. ¶