Als Karlheinz Stockhausen fünf Tage nach den Terrorflügen in die Türme des New Yorker World Trade Centers bei einem Pressegespräch mit dem Schock-Ereignis »das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat« assoziierte (um über seine verstiegen-abgedrehte Spontaneingebung quasi im gleichen Atemzug selber zu erschrecken), ließen harsche Reaktionen bis hin zu Boykottaufrufen nicht lange auf sich warten. György Ligeti etwa bescheinigte dem zeitweiligen Weggefährten, mit dem er Ende der 1950er-Jahre am Studio für elektronische Musik in Köln experimentiert hatte, in entgeistertem Furor »Größenwahnsinn«. Andere gingen zu dem seinerzeit schon längst in esoterisch-kosmische Sphären entrückten Klangforscher aus dem Bergischen Land demonstrativ auf Distanz. Doch einer, dessen künstlerischer Weg bei Stockhausen begonnen hatte, hielt sich damals, vor nunmehr zwei Jahrzehnten, vornehm bedeckt: Péter Eötvös.

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Das Beschweigen der verunglückten Einlassungen seines ehemaligen Mentors war wohl kaum auf Kalkül zurückzuführen – die Überlegung, dass jedes Wort in der erregt-verspannten Debattenhitze jener Tage schaden könnte. Es bezeugt, im Nachhinein betrachtet, eher eine für diesen aus Ungarn stammenden und heute wieder dort lebenden Weltbürger typische Eigenschaft: seine unerschütterlich nachsichtige Menschenfreundlichkeit. Eine emphatische, elastische Neugier auf alles, was das Menschsein ausmacht, ein beobachtendes Interesse, das die Entgleisungen, Verfehlungen und Höllenfahrten, den ganzen Wahnsinn unserer abgründigen Existenz einbegreift.

Nicht, dass Eötvös an den Zeitläufen – ob in ferner Vergangenheit, flutender Gegenwart oder projizierter Zukunft – kein Anteil nähme. Im Gegenteil: Viele seiner Kompositionen, zumal der Bühnenwerke, lesen sich wie Kommentare, Meditationen zu aktuellen Themen. Den Geflüchteten aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, die unterwegs nach Europa ihr Leben verloren, widmete er das 2016 entstandene Ensemblestück Alle vittime senza nome, ein instrumentales Requiem in drei Sätzen.

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Die zwei Jahre zuvor in Frankfurt uraufgeführte Oper Der goldene Drache nach dem Erfolgsdrama von Roland Schimmelpfennig behandelt das Schicksal eines illegalen Arbeitsmigranten. In einer älteren Schauspiel-Adaption, einem Zweiakter auf Basis von Tony Kushners Angels in America, verarbeitete er die AIDS-Katastrophe der 1980er-Jahre. Wenn Eötvös sich zu Politik, Kultur, Gesellschaft äußert, so tut er es als Dirigent und Komponist, mit in Noten, Bilder, Erzählungen gefassten Formulierungen, die über das, was konkret der Fall ist, hinausweisen. Und die Idee fortschreiben, dass das Wahre und das Schöne, das Was und das Wie, Inhalt und Form in den Künsten untrennbar verschmolzen sind.

Anders gesagt: Der Musik von Péter Eötvös scheint das Kantsche Konzept der ästhetischen Distanz eingeschrieben. Sie will bewegen, anrühren, Körper und Geist ansprechen, unmittelbar, mit intuitiv fasslichen Gesten. In ihr schwingt ein Grundvertrauen in die humane Intelligenz des Fühlens mit, jener schwankenden Kraft, die das höchste Glück wie tiefste Depression, entfesselte Kreativität wie totale Destruktion freisetzen kann. Und diese Ambivalenz wird nicht im Namen einer politischen Moral ausgeblendet, sie gehört zur Sache selbst. Vielleicht hallt hier Schillers zweifelnde Hoffnung auf die natürliche Güte des verstandesbegabt empfindenden Herzens nach. Freilich bricht die Skepsis manchmal so wuchtig durch, dass sie nur mit Galgenhumor zu ertragen ist: »Es gibt keine Zukunft. Es gibt kein Vorwärts«, heißt es in einem rhapsodischen Text von Péter Esterházy, den Eötvös seinem mit etlichen Halleluja-Chor-Zitaten gespickten Oratorium balbulum (2015) zugrunde legte. Ein stotternd plappernder Prophet, profaner Wiedergänger des mittelalterlichen Klerikers Notker I., holt da alles vom Podest, was dem religiösen und säkularen Fortschrittsglauben einst heilig war: ein ins riesenhaft Groteske gezogener, lakonisch kichernder Abgesang auf das Ende aller Utopien.

Dass der Komponist Péter Eötvös im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit erst zu einer festen Größe wurde, als er die Oper ins Zentrum seiner verzweigten Schreibarbeit rückte, hat viel mit dem narrativen Duktus der Stücke zu tun. Mit einem Schlag bekannt machte ihn, jedenfalls außerhalb der kleinen Avantgarde-Szene, die er als Mitglied des Stockhausen-Ensembles, als Leiter des Pariser Ensembles Intercontemporain und Dirigent zahlloser Uraufführungen seit den späten 1960er-Jahren bereicherte, die erstmals 1998 an der Opéra de Lyon auf der Bühne präsentierte Tschechow-Oper Trois Sœurs. Die Partien der drei in der Provinz verkümmernden Schwestern sind für drei Counterstimmen angelegt, die drei Teile erzählen dieselbe Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven. Für die Inszenierung hatte man den japanischen Choreographen Ushio Amagatsu engagiert, dessen stilisierte, durch den Butoh-Tanz inspirierte Figurengestaltung den artifiziellen, nach innen gewendeten Charakter der »Handlung« betonte.

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Zwar deutet sich schon in einem kurzen Werk des knapp Dreißigjährigen, einer Zen-poetischen Reflektion über den spektakulären Freitod des Schriftstellers Yukio Mishima für Stimme, zwei Bassklarinetten (oder Shakuhachi-Flöten) und Holzhacker (oder Hyoshigi-Stäbe) mit dem plakativen Titel Harakiri (1973) der feine Sinn für Klangfarben und das instinktive Gespür für theatralische Wirkung an. Mehr noch in der hoch energetischen, von fernöstlichem Schlagwerk getriebenen Chinese Opera, einem virtuos konstruierten, zwischen gleißendem Stillstand und eruptiver Expressivität pulsenden Instrumentaltheater aus dem Jahr 1986.

Aber erst mit dem durchschlagenden Erfolg der bald von Amsterdam bis Budapest und von Paris bis Buenos Aires nachgespielten Drei Schwestern wird Péter Eötvös zum allseits umworbenen Darling des Opernbetriebs. Und liefert fortan in fixem Takt Auftragsarbeiten für den Hausgebrauch – Literaturopern nach Jean Genet – Le Balcon (2002), oder dem kolumbianischen magischen Realisten Gabriel García Márquez – Love and Other Demons (2007); nach einem japanischen Tagebuch aus dem 11. Jahrhundert – Lady Sarashina (2007) oder einem Roman des Italieners Alessandro Barrico – Senza Sangue (2015), ein Vorspiel zu Béla Bartóks Blaubart. Für die Libretti zeichnet bei fast allen Projekten Eötvös’ Frau Mari Mezei verantwortlich.

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Zu den Stärken dieses auch mit beinahe 78 noch schwindelerregend produktiven Tonsetzers zählt – neben eiserner Disziplin, Eloquenz und Organisationstalent – nicht zuletzt die Gabe, neue Stücke auf ihren Gebrauchswert für Repertoire und Publikum hin zu entwerfen. Die Auswahl der Stoffe erfolgt meist in engem Dialog mit den jeweiligen Auftraggebern und mit der erklärten Absicht, fürs Publikum zu schreiben. Er mache einfach »Theater mit Musik«, sagt Péter Eötvös kokett bescheiden, »ich vertrete keine Schule und habe keinen eigenen Stil.« Oft sind die Stücke von vornherein für unterschiedliche Besetzungen und mehrere Sprachen konzipiert. Beste Voraussetzungen, um ihre Chancen auf dem Markt zu erhöhen.

Der avantgardistische Imperativ, das Rad – und sei es ex negativo – in jedem Takt neu erfinden zu müssen, ist Eötvös fremd. Als Interpret der klassischen Moderne und dirigierender Anwalt diverser Positionen zeitgenössischer Klangästhetik hat er selbst erfahren, dass die Forderung permanent grundstürzender Innovationen oft in eine Sackgasse führt: zu ihrer Gettoisierung in Expertenforen. Ein Unbehagen am Kult hermetischen Spezialistentums mag dazu beigetragen haben, dass die eigene kompositorische Handschrift, ihre Lexik wie Grammatik, immer mehr einem Werkzeugkasten gleicht, mit dem sich unbegrenzt Varianten wiederkehrender (Lieblings-)Farben, Figuren, Motive und Gesten generieren lassen. Die Vorliebe für Perkussionsinstrumente aus Japan und China, überhaupt für asiatische Musiktraditionen, der grundierende Einsatz von Bassklarinette und Kontrafagott, die ostentative Verwendung triadischer Muster auf allen Ebenen der Faktur, der Rekurs auf (verfremdete) Zitate – wie schillernde Kennmarken tauchen diese (und andere) Elemente in Eötvös’ kompositorischem Œuvre auf.

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Es sind Leitfarben und Leitzeichen, die auch seine neue, kürzlich an der Berliner Lindenoper herausgekommene Oper prägen. Sleepless beruht auf drei (!) Prosatexten des norwegischen Dramatikers und Autors Jon Fosse (Trilogy), es geht um ein minderjähriges, mittelloses Paar, Alida (Victoria Randem) und Asle (Linard Vrielink), das von den Bewohnern einer Kleinstadt irgendwo am Fjord verstoßen wird, weil das Mädchen schwanger ist. Eine »Ballade« nennt Eötvös die dreizehn Szenen, eine Odyssee zweier verlorener Seelen, die in den Tod getrieben werden. Die Mutter (Katharina Kammerloher) und eine alte Frau (Hanna Schwarz) weisen sie ab, der Wirt (Jan Martiník) spekuliert auf eine Nacht mit der Fremden, das blonde Flittchen (Sarah Defrise), Tochter eines als letzte Instanz umhergeisternden Säufers (Tómas Tómasson), macht sich an den Jungen ran. Schließlich wird Asle vom Fischermob gelyncht, Alida sucht, nachdem sie das Kind versorgt weiß, im Freitod Erlösung. Kornél Mundruczó stellt die Geschichte in einem surreal überformten Realismus aus, auf der Drehbühne (Monika Pormale) kreist ein aufgeschlitzter Lachs, vor dessen schuppiger Haut, in dessen grätigem Bauch alle Stationen dieser Passion spielen.

Im Kreis dreht sich auch die Musik. Jede Szene basiert auf einem Grundton, die erste auf einem h, für Eötvös klangliche Chiffre des Wassers, der Wellen, des Meeres. Am Ende ist der Quintenzirkel einmal komplett durchlaufen, in Tritonus-Sprüngen und Sekund-Schritten, bis (im Epilog) der Ausgangspunkt erreicht ist. Dreiklänge – in Dur und Moll, übermäßig und vermindert, pur oder geschichtet – bilden das Gerüst der schwebenden Harmonik, Anleihen aus der norwegischen Volksmusik konfigurieren nordisch-herbes Kolorit. Das Fischer-Sextett steuert mit Handglöckchen einmal irrlichterndes Klingeling bei. Natürlich sind Bassklarinette und Kontrafagott wieder prominent vertreten, mitunter tritt eine Altposaune hinzu. Drei Hörner, drei Klarinetten und zwei Vokaltrios, die sich von den Seitenlogen einmischen, betonen das strukturelle Dreiheitsgebot des Ganzen. 

Womit sich ein weiterer Kreis zu schließen scheint: Wenige Jahre nach seiner Ankunft in Köln reiste Péter Eötvös zum ersten Mal nach Japan – um 1970 bei der Weltausstellung in Osaka Stockhausen zu assistieren, der den deutschen Pavillon, einen futuristischen Kugelbau, über mehrere Wochen hinweg mit seinen Werken bespielte. In den Tempeln und im Theater, der Literatur und Musik des fernen Kaiserreichs hat er Formen und Dimensionen eines zugleich von Statik und Bewegung durchdrungenen Ausdrucks entdeckt, der bis heute in seinen Werken mitschwingt. Dass sein nächstes Musiktheater durch den zehn Jahre jüngeren ungarischen Romancier László Krasnahorkai inspiriert ist, liegt in der Logik einer zirkelhaften künstlerischen Entwicklung, an deren Anfang das Abenteuer Stockhausen stand: Krasnahorkai hat einige Jahre in Kyoto, in China und der Mongolei gelebt; ein Grenzgänger zwischen Ost und West, ganz nach Eötvös’ Geschmack. ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...