In 129 deutschen Berufsorchestern mit 9.766 Planstellen sind nur 62 Musiker:innen mit Migrationsgeschichten aus der Türkei oder einem Land des Nahen und Mittleren Ostens angestellt. Das zeigt eine Studie, die die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. In der Staatsphilharmonie ist die Quote mit einem solchen Migrationsbezug, trotz internationaler Besetzung aus 20 Ländern, null. Dabei haben in Ludwigshafen und Mannheim zusammengenommen weit mehr als zehn Prozent der Bevölkerung eine entsprechende Migrationsgeschichte.

Die Studie befragt zehn festangestellte und freiberufliche Musiker:innen mit Migrationsbezug aus der Türkei oder einem Land des Nahen und Mittleren Ostens ausführlich zu ihren persönlichen Situationen und Erfahrungen in der Ausbildung und im Berufsalltag und leitet daraus für das Orchester Handlungsstrategien ab. Dabei geht es sowohl um die Personalentwicklung, Bewerbungsverfahren und Nachwuchsförderung als auch um eine stärkere bildungspolitische Positionierung des Orchesters, die Programmgestaltung und das Erreichen diverser Publika.

André Uelner hat die Erstellung der Studie geleitet. Er ist bei der Staatsphilharmonie angestellt als Diversitätsagent im Rahmen des vierjährigen 360°Programms der Kulturstiftung des Bundes. Die Staatsphilharmonie ist dabei das einzige reine Konzertorchester, das neben 38 weiteren Institutionen (vor allem Museen, Bibliotheken und Theater) beteiligt ist. Uelner ist studierter Sänger sowie ausgebildeter Theaterpädagoge. Unser Videocall wird zwischendurch von Uelners kleiner Tochter unterbrochen, die gerne zuhören möchte.

André Uelner Foto © Sarah Hähnle 

VAN: Dass nur 0,63 Prozent der festangestellten Orchestermusiker:innen in deutschen Berufsorchestern eine Migrationsgeschichte aus der Türkei und dem Nahen und Mittleren Osten haben, zeigt deutlich, dass die Repräsentanz auf der Bühne nicht dem gesellschaftlichen Durchschnitt entspricht. Mit so einem schlechten Schnitt war irgendwie zu rechnen. Welche Ergebnisse der Studie haben Sie überrascht?

André Uelner: Vieles hatte man ja schon irgendwie im Gespür. Es war aber wichtig, diese Studie einmal zu machen, um sich nicht mehr im Ungefähren zu bewegen, sondern konkret argumentieren zu können.

Die Studie hat uns gezeigt, dass wir uns als Kulturinstitution, die einen Bildungsauftrag, aber keinen Ausbildungsauftrag hat, bildungspolitisch stärker positionieren und darauf hinweisen müssen: Es muss sich etwas verändern, damit unsere Bewerber:innenlage diverser wird. Das können wir nicht direkt beeinflussen. Aber wir können darauf aufmerksam machen, dass wir personell immer weniger die Bevölkerung repräsentieren. Wir müssen uns selbst im Bildungsbereich stärker engagieren und daraus folgt dann auch, dass wir über die Stellenprofile von Musiker:innen nachdenken müssen. Was ist eigentlich die Kernaufgabe des musizierenden Personals? Wirklich nur das reine Musizieren? Oder geht das beispielsweise auch stärker in den vermittelnden Bereich?

Wie breit werden die Absichtserklärungen der Studie, zum Beispiel auch stärker in den vermittelnden Bereich zu gehen, vom Orchester getragen?

Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben mit einer Diversitätsgruppe, in der alle wesentlichen Abteilungen des Orchesters repräsentiert sind – Intendanz, Verwaltung, Marketing, Presse, Orchestervorstand, Personalrat, Vermittlung, Gleichstellungsbeauftragte – in einem mehrmonatigen Prozess einen Verhaltenskodex erarbeitet. Der wird in diesem Gremium jetzt sehr breit unterstützt.

Als ich hier angefangen habe, hat man zum Beispiel keine Notwendigkeit gesehen für eine Antirassismus-Klausel [in Arbeitsverträgen]. Am Ende des Prozesses der Erarbeitung des Verhaltenskodexes wollten die Mitglieder dieser Gruppe diese Klausel nicht nur, sondern haben auch Schulungen eingefordert, damit alle Mitarbeitenden verstehen, warum wir den Kodex erarbeitet haben und warum er wichtig ist. Da hat sich die Perspektive verändert. Ich trage sowas jetzt nicht mehr an das Orchester heran, sondern es wird aus dem Orchester heraus gefordert.

Wie hat dieser Prozess ausgesehen?

Ich glaube, es macht keinen Sinn, wenn ich versuchen würde, Menschen zu belehren, das ruft sofort Gegenreaktionen hervor. Was tatsächlich sehr hilfreich für den Prozess war: dass wir es in der Diversitätsgruppe geschafft haben, dass alle Mitglieder erstmal sprechen können ohne das Gefühl zu haben, gleich an den Pranger gestellt zu werden, weil man sich falsch ausgedrückt oder etwas Diskriminierendes gesagt hat. Aber es besteht dann auch die Möglichkeit, dass jemand anderes einwirft: ›Was du gerade gesagt hast, finde ich problematisch, und zwar aus dem und dem Grund.‹ Wir sind tatsächlich ins Gespräch gekommen und dabei wertschätzend geblieben. Das braucht manchmal viel Geduld.

Wir Diversitätsagent:innen müssen uns ja immer überlegen: Wie schaffen wir es, dass das, was wir anstoßen, nachhaltig wirkt? Bei der Staatsphilharmonie haben wir jetzt einen sehr offenen Intendanten, der zum Beispiel selbst wollte, dass wir in der Studie nicht nur Verbesserungsvorschläge machen, sondern wirkliche Absichtserklärungen. Aber was ist, wenn dieser Intendant irgendwann weiterzieht und dann eine Hausleitung kommt, der das Thema Diversität überhaupt nicht wichtig ist, und die bisherigen Bemühungen mit einer Armbewegung wieder vom Tisch wischt? Das Beste, was dann passieren kann, ist doch, dass die Belegschaft sagt: ›Uns ist das so wichtig, dass wir das weitermachen möchten.‹ Noch besser wäre natürlich, wenn die Findungskommission für eine neue Intendanz schon so divers ausgerichtet und aufgestellt ist, dass überhaupt nur noch eine Person, die Diversität auf der Agenda hat, infrage kommt.

Leyla Ercan, die Diversitätsagentin des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover, schreibt im Vorwort zur Studie: ›Orchester zeigen sich im Vergleich mit anderen Sparten, etwa dem Schauspiel, als äußerst veränderungs- und diversitätsresistent.‹ Sehen Sie das auch so?

Ja.

Woran liegt das?

… [überlegt] Ich kann darauf keine einfache Antwort geben. Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass man das Musikmachen im Kindesalter mit sechs oder sieben Jahren anfängt und viele Stunden mit sich selbst in einem Übezimmer verbringt. Dass es diese verschriftlichte Tradition gibt, in der man versucht, etwas möglichst werkgetreu zu reproduzieren. Dieser ganze postdramatische Diskurs zum Beispiel, der im Theater stattgefunden hat, prozessorientiertes Arbeiten oder Improvisation – sowas kennt man im Orchester eigentlich nicht, oder nicht mehr. Es ist eben doch ein sehr enger Blick, in dessen Fokus sich zwar unglaublich viele Nuancen abspielen, aber man verliert das, was links und rechts davon auch noch stattfindet, aus den Augen.

Ich habe am Theater selbst erlebt – und die Kolleg:innen an anderen Häusern berichten das auch –, dass das Orchester oft etwas für sich ist. Die Tänzer:innen, die Schauspieler:innen, die Dramaturgie – das vermischt sich alles ein bisschen mehr.

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In Ihrer Studie machen Sie sehr deutlich, dass die Staatsphilharmonie zwar international ist (die Musiker:innen kommen aus 20 Ländern), aber darum nicht unbedingt divers. Warum ist diese Unterscheidung so wichtig?

International ist halt nicht divers. Als ich vor zwei Jahren meine Stelle angetreten habe, gab es einen Text, der schon verfasst war, und in dem es darum ging, dass Menschen mit Migrationshintergrund nicht im Publikum sitzen. Und da haben wir relativ schnell festgestellt: Das stimmt so ja gar nicht. Es sind durchaus Menschen mit Migrationshintergrund im Publikum, aber man sieht es ihnen nicht an. Und da wird es interessant: Welche Menschen sind denn repräsentiert und wer nicht? Wenn ich sage: ›International, sind doch alle da‹ – wen vergesse ich da schlicht und einfach?

Ihre Studie zeigt auch: Strukturelle Ausgrenzung passiert schon lange vor dem Probespiel. ›Ein:e Musiker:in aus einem wohlhabenden Istanbuler Elternhaus, mit einem Abschluss von einem deutschen Musikkonservatorium, schafft es viel eher in ein deutsches Berufsorchester, ins Klassikprogramm und ins Publikum als ein in Deutschland geborener und aufgewachsener türkeistämmiger musikaffiner Mensch aus dem Nachbarstadtteil‹, schreibt Leyla Ercan im Vorwort. Was können Orchester da überhaupt machen?

Das ist für die Musiker:innen oft schwer nachzuvollziehen, glaube ich. Aus unserem Orchester habe ich schon mehrfach gehört: ›Es darf doch jeder mitmachen.‹ Und das stimmt auch, das wird wirklich aufrichtig so empfunden. Aber dabei wird dann oftmals nicht erkannt, dass es Kriterien gibt, die man erfüllen muss, damit man auch zu ›jeder‹ wird. Das sind nicht alle, die Selektion passiert schon vorher. Viele begabte Kinder können es aufgrund der Rahmenbedingungen, in denen sie aufgewachsen sind, nur sehr sehr schwer überhaupt bis zur Einladung zu einem Probespiel schaffen.

Sie als Staatsphilharmonie beabsichtigen, ›zwischenzeitlich im Sinne einer Quote gezielt Förderprogramme, beispielsweise über Akademieplätze […] speziell für Studierende of Colour an deutschen Musikhochschulen zu installieren, um personelle Repräsentanz zu erzeugen‹. Kommt da nicht sofort das Gegenargument, dass es bei der Auswahl nur um Qualität gehen soll?

Klar, das habe ich auch schon gehört. Aber es ist ja auch nachgewiesen, dass diese Probespielbeurteilung nicht wirklich objektiv ist.

Wir haben eine sehr emotionale Diskussion geführt, in der es darum ging, dass durch die Quote dann jemand anderes ausgeschlossen wird – also ein Unrecht mit einem anderen ausgeglichen wird. Da dann abzuwägen: Was ist moralisch vertretbar? – Da muss man einfach im Gespräch bleiben, bei so vielen Graustufen.

Juristisch ist das aber auch schwierig, bei gleicher Qualifikation gezielt die Musikerin of Colour einzustellen, oder?

Richtig, das AGG [Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz] deckt das in seinen sogenannten positiven Maßnahmen nicht ab. Die gezielte Bevorzugung ist möglich für Frauen oder Menschen mit Behinderung bei gleicher Qualifikation. Ob wir das schaffen, dort eine Gesetzesänderung zu erreichen, weiß ich nicht. Stand jetzt ist: Wenn wir gezielt jemanden bevorzugen würden und das ließe sich nachweisen, könnte unsere Entscheidung juristisch angefochten werden.

Andererseits könnte man, so steht in der Studie, auch juristisch anfechten, dass Orchester als Arbeitgeber ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen, weil es bei Diskriminierung viel zu wenig institutionelle Unterstützung gibt.

Da gibt es zwei Punkte: Wir haben uns juristisch beraten lassen und wurden darauf hingewiesen, dass Arbeitgebende generell dazu verpflichtet sind, ihr Personal zu schulen hinsichtlich der Auswirkung von Diskriminierung. Wenn sie das tun, sind sie sozusagen aus dem Schneider, wenn was passiert, aber wenn sie das nicht tun, können sie haftbar gemacht werden. Das ist das eine.

Andererseits ergibt sich aus Paragraph 13 des AGG die Notwendigkeit für die Einrichtung einer innerbetrieblichen Beschwerdestelle. Wir wollen bei der Umsetzung erreichen, dass der Gang zu einer Beschwerdestelle dabei nichts Stigmatisierendes hat. Wenn etwas passiert, sollte man diese Stelle einfach aufsuchen können und dann muss es einen Dialog geben, wenn gewünscht, oder eine Maßnahme, die zu einer Sensibilisierung führt, damit so etwas nicht wieder passiert. Es geht uns nicht darum, mit dem Finger aufeinander zu zeigen, sondern als Belegschaft sensibler füreinander zu werden. Die Perspektive der Empfangenden von Diskriminierung soll stärker in den Vordergrund gerückt werden. Es geht dann auch nicht darum, dass die, die eine problematische Aussage getätigt haben, erklären müssen, dass es gegebenenfalls so nicht gemeint war. Der persönliche Erfahrungshorizont der Person, die die Diskriminierung erlebt, steht im Zentrum.

Und die Studie hat ja gezeigt, dass alle zehn Befragten ›Alltagsrassismus oder die wiederholte Konfrontation mit Stereotypen erlebt haben, die langfristig als belastend empfunden wurden‹.  

Und sie mussten das alle mit sich selbst aushandeln. Da gibt es Musiker:innen, die sehr resilient sind, mit großem Selbstbewusstsein, und es gibt Menschen, die das nicht so gut wegstecken können. Es gibt ja auch Studien, die zeigen, dass diese andauernden Mikroaggressionen traumatisierend wirken oder zu Depressionen oder Burnout führen können.

Sie schreiben, dass es ›klare Hinweise darauf gibt, dass in Teilen der befragten Zielgruppe einige Orchester einen problematischen Ruf hinsichtlich immanenter rassistischer Tendenzen haben‹. Gibt es da wirklich Orchester, die in der Szene als rassistisch bekannt sind und gemieden werden?

In Teilen der Gruppe der Befragten wurde schon deutlich, dass man sich gegenseitig ein bisschen berät und erklärt, welche Erfahrungen man gemacht hat. ›In der Szene‹, das kann man so aber wirklich nicht sagen. Diese 62 Musiker:innen kennen sich natürlich auch überhaupt nicht alle, das ist eine sehr heterogene Gruppe.

›Leitlinienprozesse, Schulungen und Sensibilisierungs-Workshops für das Personal bezüglich diverser Formen von Diskriminierung und deren Wirkungsweise sowie Dienstvereinbarungen wurden begonnen, haben sich aber mangels geeigneter Anbieter, speziell für die Belange von Orchestern, bislang als herausfordernd erwiesen‹, schreiben Sie in der Studie. Was hat da mit bestehenden Anbietern und Programmen nicht funktioniert?

Wir haben festgestellt: Sogar eher kontraproduktiv sind in dem Zusammenhang Anbieter, die eine aktivistische Position vertreten, weil das eine Gegenreaktion hervorruft – Druck erzeugt Gegendruck. Und wir wollen ja Menschen überzeugen. Das Schwierige ist, glaube ich, dass dieser Diskurs sich zwischen zwei Polen abspielt: auf der einen Seite betroffene Menschen, da bewegt sich das in einem persönlichen, manchmal sogar intimen Bereich. Und in der, ich sage jetzt mal ›Mehrheitsgesellschaft‹ wird dieser Diskurs eher auf einer Sachebene geführt, emotional distanziert. Dann hat man manchmal eine emotionale Reaktion auf der einen und eine distanzierte auf der anderen Seite. Das zusammenzutragen, ist schon mal schwierig.

Auch ganz praktisch aus Anleitendenperspektive gesehen: Wie kriegt man das in einem Workshop zusammen, ein offenes diskursives Setting zu schaffen mit Menschen, die es eigentlich von klein auf gewohnt sind, dass jemand vorne steht, der oder die klar ansagt, was jetzt gemacht wird? Und dann trotz der Offenheit das persönliche Standing mitzubringen, die Zügel dennoch die ganze Zeit in der Hand zu behalten. Außerdem hilft es, wenn so jemand auch den nötigen Stallgeruch mitbringt, wenn man nicht erst erklären muss, was eigentlich zum Beispiel ein Probespiel ist. Dieses Reden unter Fachleuten hilft, damit die Musiker:innen sich nicht auf ihr Fachgebiet zurückziehen und sagen können: ›Na, die Person da vorne hat ja eigentlich gar keine Ahnung von den Anforderungen unseres Berufes.‹

Dass sich Anbieter spezialisieren, würde voraussetzen, dass es eine Nachfrage nach solchen Workshops auch von anderen Orchestern gibt. Haben Sie das Gefühl, da passiert gerade was? Haben Sie zum Beispiel schon Rückmeldungen in diese Richtung bekommen von Orchestern?

Nein. Kevin John Edusei erwähnte ja neulich auch in VAN, dass das Interesse an Diversität relativ gering ist in der Klassikszene. Mein Eindruck ist auch: Das Thema ist hier noch nicht wirklich angekommen. Letzte Woche hatten wir eine große, öffentliche Bundestagung vom Programm 360°. Dazu hatten sich über 900 Personen aus der Kulturbranche angemeldet – aber kaum Vertreter:innen aus der Klassikszene. Aus unserem Orchester haben wir ein Best Practice Projekt vorgestellt und im Q&A war keine einzige Person aus dem Orchesterbereich dabei.

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Das vorgestellte Best Practice Projekt: das Ensemble Colourage

Auch meine 360° Kolleg:innen an den Mehrspartenhäusern berichten, dass die Orchester am hermetischsten abgeriegelt sind für sie. Wir haben vor ein paar Monaten eine Klassikgruppe gegründet bei 360° und da haben wir festgestelllt, dass ich Diversität zum Teil ganz anders argumentiere als die Kolleg:innen. Sie gehen viel stärker über Inhalte. Darum geht es bei mir noch gar nicht. Ich versuche immer noch den Fuß in die Tür zu kriegen, indem ich sage: ›Ihr müsst einfach gucken, dass man euch in 20 Jahren noch hören will. Orchester müssten jetzt bereits aktiv werden. Die Repräsentanz ist jetzt schon zu niedrig und wenn irgendwann auch öffentlich die Relevanzfrage gestellt werden wird, dann wird es einfach noch einmal lange dauern, bis wiederum ein diverserer Nachwuchs herangewachsen ist.‹ Die Blase wirkt in der Klassik einfach viel stärker als in anderen Kunstsparten.

Wie und wann wurden Sie eigentlich für diese Themen sensibilisiert?

Ich habe über zehn Jahre als Musik-Theaterpädagoge mit allen möglichen wirklich diversen Gruppen gearbeitet. Dabei konnte ich ein Verständnis für ganz verschiedene Lebenssituationen und Modelle entwickeln.

Meine Stelle als Agent ist unglaublich komplex, wirklich eine Querschnittsaufgabe, die es so bislang noch nicht gab und man muss einfach in vielen Bereichen befähigt sein: wissen, wie der Betrieb läuft, sich auskennen mit Soziologie, mit Sozialpädagogik, Personal- und Organisationsentwicklung, Marketing, mit Vermittlung, mit Kolonialismus-, Rassimus-, Sexismusforschung, Dramaturgie, Werkekanon … mit allem Möglichen. Ich hatte insbesondere etwas aufzuholen im Bereich Rassimusforschung, das habe ich erst mit Antritt dieser Stelle gemacht. Damit habe ich mich sehr intensiv auseinandergesetzt über mehrere Wochen, noch vor der Ermordung von George Floyd. Und da wurde mir nach und nach klar, dass ich als Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft eine Brille aufhabe, mit der ich bisher die Welt gesehen habe. Diese Brille habe ich kulturell erlernt und ich bin aktuell immer noch dabei, sie wieder gedanklich zu dekonstruieren. Das ist nichts, was man mal eben so nebenbei macht. Das ist langer und auch emotional alles andere als einfacher Prozess – mir meine Privilegien einzugestehen, mir Vorurteile und Vorbehalte einzugestehen, die ich gelernt habe.

Im Vorwort der Studie wird klar, dass sich Diversität aus vielen Dimensionen zusammensetzt: ›Alter, Behinderung, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion bzw. Weltanschauung und sexuelle Identität‹ (laut AGG). Wie kam es zu dem Entschluss, sich auf Musiker:innen mit Herkunftsgeschichten aus der Türkei und dem Nahen und Mittleren Osten zu fokussieren?

Das Programm 360° ist auf die Kerndimension kulturelle-ethnische Herkunft oder Identität fokussiert. Es gab am Anfang auch eine Diskussion, ob man das nicht ausweiten soll, weil es eben nur eine Dimension von Diversität betrifft. Aber weil Changeprozesse insgesamt in der Regel, bis sie wirklich vollzogen sind, acht bis zehn Jahre brauchen, und das Programm per se schon nur vier Jahre läuft, haben wir sehr schnell entschieden: Wir werden uns im Wesentlichen fast nur auf diese eine Kerndimension konzentrieren.

Innerhalb dieser Kerndimension ist es so, dass Menschen mit einem Migrationsbezug aus dem primär muslimisch geprägten Kulturraum die größten Minderheiten bilden, zumindest in Ludwigshafen. Nun ist es natürlich wieder problematisch, diese sehr heterogenen Gruppen generalisierend zusammenzufassen. Musikalisch spricht dafür allerdings, dass es in diesen musikkulturellen Räumen andere tonale Traditionen gibt: Makammusik zum Beispiel. Und dass da ein Instrumentarium zum Einsatz kommt, das an kommunalen Musikschulen nicht unterrichtet wird. Das ist für uns insofern wieder relevant, als in der alevitischen Gemeinde hier vor Ort zum Beispiel das Hauptinstrument Bağlama ist, was ja auch eine religiöse Komponente hat. Und weil man dieses Instrument an kommunalen Musikschulen nicht lernen konnte, hat die Gemeinde sozusagen ihre eigene Musikschule aufgemacht. Dort werden nun über 270 Schüler:innen pro Woche unterrichtet. Dadurch ist faktisch eine Parallelstruktur entstanden, die es dann wieder schwer macht, dass Kinder, die Bağlama lernen und andere, die sagen wir mal: Cello lernen, zusammenkommen, diese Möglichkeit entsteht erst gar nicht. Ganz zu schweigen, dass dann ein türkisches Kind vielleicht feststellt, dass Cello auch ein interessantes Instrument sein könnte – oder umgekehrt. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com