Schon oft waren Probespiele Thema in VAN. Die verschiedenen Perspektiven vereinigten sich dabei in der Kritik an einer Praxis, die vielen als Ritual antiquiert und erbarmungslos erscheint, und als Methode der Personalauswahl weitestgehend ungeeignet. Dass das Probespiel trotzdem eine solch erstaunliche Beharrungstendenz an den Tag legt, lässt vermuten, dass es dabei um mehr gehen könnte, als einfach nur um die Reform eines Bewerbungsprozesses. Vielleicht erhellt ein Blick von außen den Grund. Wir haben mit Yukiko Elisabeth Kobayashi gesprochen, die 15 Jahre lang in großen Unternehmen Personalbereiche geleitet hat.

VAN: Du hast mit 5 Jahren angefangen Klavier zu spielen, hast du selbst Vorspielsituationen erlebt?
Yukiko Elisabeth Kobayashi: Ja, und ich habe es gehasst wie die Pest. Wenn ich für mich unbeobachtet musiziert habe, dann mit großer Hingabe und Leidenschaft, aber in Vorspielen habe ich eigentlich immer versagt, was auch damit zusammenhing, dass meine Lehrerin sehr streng und orthodox war. Lange Zeit hat mir das einen entspannten Zugang zur klassischen Musik verleidet. Im Erwachsenenalter hatte ich dann ein paar Klavierlehrerinnen, die bei mir zum ersten Mal die Schleusen geöffnet haben, weil sie einfach völlig anders an die Musik herangegangen sind, mehr vom Fühlen her, mit Humor. Da konnte ich erblühen, so dass ich mich jetzt viel mehr traue, nicht so furchtbar streng mit mir bin, aber trotzdem viel mehr erreiche.

Du hast 15 Jahre lang in Unternehmen Mitarbeiter/innen für neue Positionen ausgewählt, mittels verschiedener Verfahren. Wo beginnt man bei der Personalauswahl am besten?
Zuerst ist immer die Frage, und da habe ich auch selbst einen Erkenntnisprozess durchlaufen: was will ich denn mit meinem Unternehmen erreichen, wo will ich hin, was ist meine Vision, mein Bild der Zukunft? Welche Entwicklung wollen wir nehmen? Das ist letztlich eine Führungsaufgabe, in die man aber die Mitarbeiter/innen des Unternehmens mit einbeziehen kann und sollte. Machen Orchester so etwas in der Regel?
Ich denke in den vielen Fällen nicht …
… und auf der Basis schaut man dann: wie müssen die Menschen sein, die zu unserem Unternehmen passen? Also eine Stelle hernehmen und bezogen auf verschiedene Dimensionen ein Anforderungsprofil definieren. Übertragen auf das Orchester hieße das zum Beispiel: eine Tuttistelle muss natürlich auch vom Persönlichkeitsprofil her ein anderes Anforderungsprofil haben als eine Solostelle.
Bei Probespielen ist das Anforderungsprofil meistens immer gleich und besteht aus den so genannten Probespielstellen, die man pauken muss.
Das habe ich gelesen, dabei geht doch meines Erachtens gerade in einem Orchester das Anforderungsprofil über das Technisch-fachliche hinaus. Wie kompetent ist jemand zum Beispiel auf der Beziehungsebene, wie verhält sich jemand im Team, kann sie oder er gut Signale von anderen aufnehmen, sich auf andere einstellen? Das stelle ich mir für ein Orchester extrem entscheidend vor. So ein Probespiel konterkariert doch als Methode der Personalauswahl geradezu den Charakter eines Orchesters als sensibles soziales System.

Nehmen wir an, es gibt ein Zielbild und ein Anforderungsprofil, wie hole ich mir im Auswahlprozess die validesten Eindrücke von einem Menschen?
Ich habe für mich festgestellt, dass reine Momentaufnahmen wie das Probespiel, die sich dann auch noch ausschließlich auf das Fachliche beziehen, über die Zeit am wenigsten valide sind, gerade wenn du jemanden für eine verantwortungsvolle Position suchst. Es mag ja sein, und ich habe das oft erlebt, dass es Leute gibt, die in einer bestimmten Prüfungssituation quasi maschinenartig brillant sind, aber sich dann mit der Zeit als total inkompatibel herausstellen, zum Beispiel weil sie einen kurzen Atem haben, oder nicht teamfähig sind. Deswegen sollten Momentaufnahmen ergänzt werden um weitere Elemente, in denen Kandidaten sowohl kontextbezogen relevante Aufgaben zu bewältigen haben, als auch longitudinal, also über einen längeren Zeitraum hinweg, sich zeigen und beweisen können.
Welche Verfahren gibt es hierfür?
Wenn es um Neueinstellungen geht zum Beispiel Hospitationen, Probearbeiten, Workshops, Simulationen von Aufgaben, am Ende die Probezeit zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Wenn es darum geht, Mitarbeiter im Unternehmen auf die nächste Ebene zu heben oder zum ersten Mal mit Führungsverantwortung zu versehen, habe ich sehr viel mit Referenzen gemacht, Dialogpartnern oder 360-Grad-Feedback, wo der Kandidat sich selbst reflektiert und einschätzt, aber auch Kontextpartner, Kollegen aus unterschiedlichen Bereichen, die relevante Beziehungen zu den Kandidaten haben, Feedback geben. Selbst wenn dann zum Beispiel herauskommt, dass jemand in bestimmten Bereichen einen Kompetenzzuwachs bräuchte, entscheidet man sich vielleicht trotzdem für ihn, weil die Persönlichkeit und die Einstellung passen. Da sagt man dann, okay, hier und da gibt es vielleicht noch eine Lücke, aber es soll ja auch einen Entwicklungspfad geben.
Hast du eine Idee, wie man dies auf das Orchester übertragen könnte?
Dem Probespiel müssten andere Elemente zur Seite gestellt werden, eine Gruppensituation, zum Beispiel, wo jemand in und mit der Gruppe ein Stück einübt, dann sicherlich auch eine dial
ogische Situation, ein biographisches Interview … Das Schöne daran ist: wenn du verschiedene Elemente hast, relativieren sich diese untereinander und du bekommst ein faireres Bild von dem Menschen, ein vollständigeres Bild.

Das Probespiel gilt seit Jahrzehnten als antiquiert, inadäquat und unmenschlich, trotzdem hält es sich, vielleicht als so eine Art Initiationsritus im Sinne von »wo ich durch musste, sollen auch die anderen durch«. Wie viel Reformbedarf gibt es in der Wirtschaft im Bereich der Personalentwicklung, ist man dort beim Optimum angelangt?
Da gibt es natürlich eine große Bandbreite, in vielen konservativen Unternehmen gibt es noch sehr einsam getroffene Top-Down Entscheidungen. Aber das lässt immer mehr nach, weil es immer weniger jüngere Leute gibt, die das mit sich machen lassen. Die sagen dann eher, wenn das die Kultur hier ist, dann kehre ich dem lieber den Rücken. Das bedeutet, dass Unternehmen die progressiver denken und Jüngere ansprechen wollen, schon bei der Bewerbung auf Realitäts- und Praxisbezug achten, den Kandidaten einen guten Rahmen bieten wollen, um seine Leistung zu zeigen, Bewerbungssituationen nahe an die Arbeitssituation bringen, das sind alles erfreuliche Entwicklungen.
Die Probespielsituation wird von einigen Kandidaten als so belastend erlebt, dass sie zu Beruhigungsmitteln greifen. Hast du so etwas mal erlebt?
Nein, das habe ich tatsächlich nie erlebt. Mir war es immer wichtig, den Leuten zu vermitteln: mir geht es darum, euch als Persönlichkeit kennenzulernen, weniger darum, das Fachliche abzuprüfen. Da habt ihr eure Ausbildung gemacht, da gibt’s genug Menschen, die das irgendwie attestiert haben. Trotzdem ist da jeder auch immer aufgeregt. Ich habe dann immer versucht, die Spannung rauszunehmen, die Dramaturgie eines Assessment Center so zu gestalten, dass es zum Beispiel nach der Anreise abends erst ein informelles get together wie ein gemeinsames Essen gibt, mit unterschiedlichen Unternehmensvertretern aus unterschiedlichen Funktionsbereichen und Hierarchien, oder eine nette Gesprächsrunde, in der man Fragen zum Prozedere stellen kann, so dass maximale Transparenz da ist und erste Ängste abgebaut werden können. Am Tag drauf ist der Angst- und Sorgenpegel dann soweit beruhigt, dass man sich möglichst authentisch präsentieren kann. Beim Probespiel scheint es sehr schnell um schwarz oder weiß, hopp oder top zu gehen. Ich habe es gut gefunden zu sagen: wenn eine Sache daneben geht, hast Du ja noch drei andere Übungen. Es gab immer Leute, die am Anfang furchtbar nervös waren, und die erste Übung völlig in den Sand gesetzt haben, und dann kamen sie über den Tag, und am Ende hast du trotzdem ein faires Ergebnis, weil man eben die Chance hatte, viele Beobachtungen zu machen.
Wird die Anreise eigentlich bezahlt?
Ja, natürlich, erst recht bei einem Assessment Center. Es ist ja heute sogar so, dass Unternehmen sich um gute Kandidaten reißen, da gibt es einen Engpass, ich gehe mal davon aus, dass das bei guten Orchestern auch so ist. Die Unternehmen versuchen also, sich schon im Auswahlprozess positiv darzustellen, zum Beispiel durch die Auswahl der Anreise, durch die Wahl des Hotels. Es geht darum, gegenüber den Bewerbern Wertschätzung zu signalisieren. ¶