2016 wird Wrocław (dt. Breslau) in Polen Europäische Kulturhauptstadt sein. Mit dem Narodowe Forum Muzyki, dem »Nationalen Forum der Musik« (NFM) ist dort eines der modernsten Konzerthäuser der Welt eröffnet worden. Breslaus sechs große Musikfestivals werden dann zum ersten Mal im NFM stattfinden – jedes mit einem europäischen Akzent. Der Platz vor dem Musikforum wird zum Open-Air-Forum für ein Chorfest, zu dem Tausende Sängerinnen und Sänger aus ganz Europa eingeladen sind. 650.000 Einwohner hat die Hauptstadt Niederschlesiens. Diejenigen unter ihnen, die Lust auf Klassik hatten, konnten bislang wählen zwischen schönen, aber kleinen Barocksälen, einem schmucklosen und zu kleinen Konzertsaal des Sinfonieorchesters und einem Unesco-Welterbe: der gigantischen Betonpracht der Jahrhunderthalle von 1913. Nun bietet das NFM der Jazz-, Chor- und Klassikszene vier ganz verschiedene Spielorte von 150 bis 1.800 Plätzen. VAN war beim Eröffnungswochenende.

Breslau am südlichen Rand der Altstadt. Der Schlossplatz ist vor allem Platz: eine öde, windige Fläche. Rundum wird viel gebaut, restauriert. Das klassizistische Opernhaus zeigt hier seine schmucklose Rückseite. Vom Breslauer Stadtschloss an der Längsseite ist nur noch ein Palais übrig. Aber dort, wo einst sein Seitenflügel stand, erhebt sich neuerdings das Nationale Forum der Musik in warmer, kupferrot-brauner Holzoptik. Die Fassade weist schon von Weitem den Weg zum Eingang. Sie ist leicht nach innen geknickt. Asymmetrisch rechts von der Mitte liegt das gläserne Foyer, fünf Etagen hoch.
An ein Musikinstrument hat Architekt Stefan Kuryłowicz (†2011) bei der Gestaltung gedacht. Der rechteckige Bau soll farblich an Streichinstrumente erinnern, das goldglänzende Dach des Konzertsaals steht für Blechblasinstrumente und das schwarz-weiße Foyer ist von den Tasten eines Klaviers inspiriert.

Vier Säle gibt es unter dem Dach des NFM, drei davon unter Straßenniveau, bis zu 19 Meter. Der Hauptsaal, das Herzstück, bietet 1.820 Konzertbesucher/innen Platz. Akustiker Tateo Nakajima von der New Yorker Firma ARUP (»We shape a better world«) hat ihn geplant, noch ehe der Architekt mit ins Team kam. Nakajima, früher selbst Musiker, ist bei Akustik-Guru Russell Johnson in die Lehre gegangen. Johnson (†2007) wiederum hat überragende Konzertsäle im KKL Luzern, in der Esplanade Singapore oder der Symphony Hall Birmingham entworfen. Nakajima hat an den Opernhäusern Kopenhagen und Oslo mitgewirkt. Das NFM Wrocław ist sein erstes eigenes Projekt.
Gemeinsam mit dem Dirigenten Andrzej Kosendiak, der 2004 die Idee des NFM hatte, sie als Visonär unbeirrt vorangetrieben hat und nun das Haus leitet, hat er die elf Ensembles, die heute Hausensembles des NFM sind, nach ihren Bedürfnissen befragt. Nakajima hat dann einen Saal entworfen, der ein einzigartiges Raumgefühl bieten soll, also mehr als nur eine gute Akustik, wie er mir erklärte:
Wir sind heute eine sehr viel visuellere als frühere Generationen, viel mehr gewöhnt an Nähe zu Künstlern. Stellen sie sich vor, was wir zu Hause haben: Große Fernseher, Sound-Systeme von guter Qualität. Heute erwarten wir, dass wir mehr eintauchen, interaktiver sind, visuell näher. Sehen wir ein Video von einem Künstler, ist sein Kopf größer als im wahren Leben.
Unser heutiges Publikum hat eine ganz andere Erwartung an Lautstärke, Wirkung, Eintauchen und Nähe als in der Vergangenheit. Zwar ist unser Hirn smarter als wir glauben. Wir verstehen, dass ein Künstler in weiter Entfernung klein wirkt. Aber es gibt heute ein Level von Kraft und Interaktion, ohne das es nicht mehr funktioniert.
Als ich ein kleiner Junge war, Musikschüler, erlebte ich meine erste Ballettaufführung: Schwanensee. Ich werde nie das Finale vergessen, aber die Tänzer waren so klein. Mein Sohn ist 15 Jahre alt. Wenn ich ihn zu seiner ersten Ballettvorstellung mitnehmen würde und die Tänzer wären nur so klein zu sehen, er hätte nach 20 Sekunden die Lust verloren. Er muss sehen, er muss das Gefühl haben, die Dinge berühren zu können, es muss da sein, es muss groß sein. Und das alles hat nicht damit zu tun, dass wir die künstlerischen Produktionen verändern, ich denke, es hat zu tun mit dem Design der Räume.

Aber wie erreicht man das, »Nähe«, »Lautstärke«, »Wirkung«? Das Parkett – ein gestrecktes Hufeisen beinahe wie im Opernhaus – hat einen erhöhten hinteren Teil, der baulich abgesetzt ist. Wer dort säße, fühle sich optisch der Bühne näher, erläutert Nakajima. Der Saal ist relativ schmal, nur ungefähr 22 Meter breit, wirkt aber dennoch weit. Und er ist hoch. Der obere Bereich ist ein zweiter Resonanzraum, abgeteilt durch Schallsegel, die auf halber Höhe im Saal schweben.
Wer bei der Eröffnung auf dem oberen Rang saß, sah mehr von den Segeln als von der Bühne. Nakajima meint, er »habe die Architekten gewarnt: Ihr müsst auch die Oberseite der Segel gestalten. In den ersten Wochen werde ich aber noch einiges ändern können an deren Position.«
Der Clou sind – wie auch im KKL Luzern – Schallkammern an den Seiten und hinter dem Saal. Mit ihnen lassen sich verschiedene Klangvorstellungen realisieren: mehr oder weniger Volumen, längerer oder kürzerer Nachhall. Vor allem der warme Stimmklang der Breslauer Chöre hat Nakajimas Vorstellung geprägt. Sitzt ein Orchester auf der Bühne, entsteht ein voller Ton, jedes Instrument bleibt unverfälscht erkennbar.
Abgesehen davon, dass der Saal perfekt ist, wie auch die anderen Säle sehr gut geworden sind – also man kann nur dem Techniker und den Ingenieuren gratulieren, zu dem, was sie geschaffen haben – ist das Schönste, dass man auf der Bühne nicht nur das Gefühl hat, auf der Bühne zu sein, sondern gleichzeitig das Gefühl hat, man säße im Publikum. Also man hat beim Spielen Raumgefühl und gleichzeitig das direkte Gefühl: Ich kommuniziere mit den Musikern ganz direkt vis-à-vis.
Hartmut Rohde, Dirigent des NFM Leopoldinum Kammerorchesters

Beim Eröffnungskonzert gingen die Lichter aus. Töne aus Bachs Kunst der Fuge schienen von draußen zu kommen. Aus einer der rot beleuchteten Schallkammern? Der Klang wanderte nach innen: Ein kleines Barock-Ensemble spielte auf dem Rang. Dann weiter zur Bühne, zum Wrocław Baroque Ensemble. Contrapunctus 19 in Bachs Kunst der Fuge bricht unvollendet ab. Für Direktor Andrzej Kosendiak ein Symbol: Was wäre Europa, wenn es die Musik von Bach nicht gäbe? Der polnische Komponist Witold Lutosławski hatte das gefragt und damit eine noch größere Frage aufgeworfen: Wer sind wir? Das NFM gebe darauf eine Antwort: Es sei geplant und gebaut worden, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, in der Musik zu erkennen, wer sie sind.
Elf Ensembles helfen dabei: Orchester, Chöre, Kammermusikgruppen. Sie haben in den vier Sälen eine neue Heimat gefunden, arbeiten dort unter besten Bedingungen. Dazu gehören nicht nur die verschieden großen Säle, wo man proben kann, ohne einander zu stören. Auch Backstage, dort, wo die Musiker »zu Hause« sind, ist alles bequem und durch kurze Wege verbunden. Und es gibt gleich mehrere gute Kantinen. Weil Chöre, Alte-Musik-Ensembles, Kammer- und Sinfonieorchester nun unter einem Dach proben, wollen sie in Zukunft öfter gemeinsame Projekte entwickeln. Beim Festival »Wratislavia cantans« kommen in diesen Wochen auch die ersten internationalen Spitzenensembles ins NFM.
Am Samstag nach der Eröffnung strömten die Bürger von jung bis alt ins Haus. Die Breslauer wollten ihr Konzerthaus kennen lernen. Und die Musiker/innen, die darin spielen und singen. Jedes Konzert in jedem der vier Säle war übervoll. Die Kammersäle ermöglichen Nähe, die auch in den Education-Projekten genutzt werden soll.
NFM-Musiker gehen aber auch in die Stadt, etwa im Projekt Forgotten City, das auch Teil von Wrocław 2016, den Kulturhauptstadtaktivitäten, sein wird.
Forgotten City bringt Menschen zum Musikhören, die normalerweise nicht in unsere Konzerthalle kommen. Unsere Musiker gehen in deren Nachbarschaft, spielen für sie in ihren Wohnblöcken. Da wohnen meist recht arme Menschen und sie haben in ihrem Leben kaum Kontakt zur Kultur. Manchmal haben sie Berührungsängste, wollen den Musikern nicht nahe kommen. Aber sie hören gerne zu. »Vergessene Stadt« bedeutet also: vergessen von der Kultur. Räume zu schaffen für Kultur und Musik, bedeutet mehr als nur ein Konzerthaus zu bauen wie dieses.
Agnieska Franków-Zelazny, NFM-Chordirektorin und Kuratorin des Musikprogramms Wrocław 2016

110 Millionen Euro hat das NFM gekostet, ein Drittel davon kommt aus EU-Fonds. 2004, sofort nach dem EU-Beitritt Polens, begann Andrzej Kosendiak Unterstützer eines Konzerthauses um sich zu sammeln. 2015, zwei Jahre später als geplant, ist sein Haus fertig. Der dritte Konzertsaal in Polen innerhalb eines Jahres, nach der Philharmonie in Szczecin und dem Saal für das Rundfunkorchester in Katowice.
Polen nimmt viel Geld in die Hand, um Musik zu fördern. An allgemeinbildenden Schulen hat man dem Musikunterricht mehr Platz eingeräumt. Neue Musikschulen und Hochschulen wurden gebaut. Es würden zwar nicht mehr Orchester gegründet, so Polens Ministerin für Kultur und Nationales Erbe Małgorzata Omilanowska bei der Eröffnung des NFM, aber langfristig führe das zu mehr Interesse und mehr Publikum für die Klassik.
Wrocław wurde vor 70 Jahren schwer zerstört. Die einst wichtige und große Handelsstadt war von den Nazis zur Festung erklärt worden. Der Gauleiter ließ ein ganzes Gründerzeitviertel planieren, nur damit er sich per Flugzeug vor dem Fall der Festung retten konnte. Nach dem Krieg zogen neue Menschen in die Stadt; die Polen bauten sie wieder auf und schufen ein reges Kulturleben. Erst haben sie nur die historischen Fassaden einer Stadt wieder errichtet, die nun ihre Stadt war. Jetzt beginnen sie sich auch für die Geschichte und Kultur des alten Breslau zu interessieren.
Breslaus Stadtbild spiegelt die Brüche in der langen Geschichte dieser Stadt: Gotische Kirchen wurden wieder aufgebaut, die barocke Universität und auch die Bauten der Moderne vor dem Bauhaus. Die Wege ins alte jüdische Viertel sind noch zerschnitten von der sozialistischen Stadtplanung. Doch im Kulturhauptstadtjahr wollen Breslaus Musiker die musikalischen Spuren aus all diesen Epochen suchen, aufgreifen und bündeln im neuen NFM. ¶