cover-1617793389-8.jpg
Fotos © privat
Ausgewählte VAN-Artikel gibt es jetzt auch zum Hören. Hier geht’s zu unserem Angebot auf Spotify.

Playmobil gehörte schon in einem frühen Kindheitsstadium zu einem großen Teil meiner musikalischen Bildung. Meist sitze ich dabei leise vor mich hin spielend unter dem Flügel irgendeines Opernhauses oder Proberaumes. Die Füße meiner Mutter klackern ab und zu mit den goldenen Pedalen direkt neben mir und mein Vater bringt Menschen das Singen bei. In den Pausen verlagern sich die gespielten Kämpfe vom Flügel in den Flur mit den für mich erwachsenen Kindern und meinen Geschwistern, dazu gibt es Sprudelwasser.

Später sitze ich dann auf der Orgelbank und verfolge sowohl das, was man Noten nennt, als auch das Gesicht meiner Mutter. Wenn sie nickt, ziehe ich an unterschiedlichen Hebeln mit Nummern drauf – manchmal langsam und manchmal ganz schnell. Am liebsten mag ich damals die letzten Strophen der Kirchenlieder, wenn ganz viele Register auf einmal gezogen werden müssen und sich die gesamte Empore klanglich mehrere Meter nach vorne schiebt.

Abendprobe an der Opera de Lyon, mein kleiner Bruder und ich, 1993
Abendprobe an der Opera de Lyon, mein kleiner Bruder und ich, 1993

Doch es gibt sie auch, diese anderen Erinnerungen. Über 200 Kinder und Jugendliche stehen auf der Bühne, ein Vielfaches an Publikum sitzt davor und hört gespannt zu. Ich stehe neben meinen Freund:innen, die konzentriert mit dem Blick zwischen ihren Notenmappen und dem Dirigenten hin und her wechseln. Mein Vater schaut angestrengt zurück, fixiert jede:n einzelne:n Sänger:in, Schweiß rinnt über sein Gesicht. Er ist so gar nicht der, den man aus der lockeren Probenathmosphäre kennt. Ein wenig besorgt gehe ich für das nächste Stück zu meiner Mutter ans Klavier, um ihr beim Blättern zu helfen. Kaum ist der letzte Ton verklungen, kommt mein Vater zu uns und sagt auf niederländisch: »Ich kann nicht mehr. Wir hören auf.« Sein Gesicht ist weiß, er stützt sich mit beiden Händen auf das Klavier. Ich streichle seine Hand, er zeigt keine Reaktion. Meine Mutter sagt: »Du schaffst das. Noch ein Lied bis zur Pause. Los, danach schauen wir.«

Pause.

Als Chorleiterkind hat man den Vorteil, sich nicht immer nur in den großen Backstageräumen aufhalten zu müssen, sondern auch ab und zu in die Sologarderoben gehen zu können. Dort gibt es meist große Sessel, immer einen Spiegel, manchmal sogar eine Dusche und Snacks. An diesem Tag sehe ich allerdings nur, wie sich mein Vater ein weiteres seiner mitgebrachten weißen Hemden anzieht. Wo andere eine Garnitur pro Konzert verschleißen, benötigt er in dieser Zeit zwei bis drei. Sie alle werden bis zum Ende des Abends inklusive Jackett und Anzughose vollkommen durchnässt sein. »Mijn hart« (»mein Herz«), sagt er immer wieder und damit ist niemand im Raum gemeint, sondern das, was manchmal so schnell pulsiert, dass man die Schläge nicht mehr zählen kann. Herzprobleme gehören seit dem sonnigen Tag dazu, als mein kleiner Bruder fragte, ob Papa jetzt in die Werkstatt müsse. Damals lachten wir kurz, heute halte ich es kaum noch aus. Ich gehe runter und trinke Fanta, rede mit den wenigen Jungs, die im Chor und den wenigen Mädels, die in meiner Klasse sind. Die Welt ein Stockwerk höher ist in diesen Sekunde vergessen.

Als die Betreuer:innen sagen, dass es gleich wieder los geht, stellen wir uns zum Auftritt auf. Das Publikum applaudiert. Zwei Gläser Wasser, eine Aspirin und meine Mutter haben meinen Vater davon überzeugt, die zweite Hälfte anzugehen. Wenn er die einzelnen Stücke ankündigt und mit dem Publikum interagiert, wird meist gelacht. Charmanter niederländischer Akzent verbindet sich mit einfachen und gut gesetzten Pointen. Sie wirken improvisiert und greifen das auf, wonach heutzutage anscheinend bewusst und unterbewusst gesucht wird: Authentizität. Gepaart mit der Professionalität des Chores ist dieser Faktor aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive Gold wert. Er bringt Menschen dazu, in den ersten fünf Minuten der Pause alle CDs weg zu kaufen, mehrere Chorreisen im Jahr zu sponsern und Kontakte von Angela Merkel bis Oliver Kahn zu knüpfen. Sobald sich der Blick vom Publikum allerdings wieder Richtung Chor wendet, sieht man nichts mehr von dieser Seite des väterlichen Gesichts. Es zerfällt in seine Einzelteile, seine Pupillen sind geweitet und die taktangebenden Bewegungen seiner Arme gleichen eher dem verzweifelten Rudern eines untergehenden Schwimmers. Für mich sind das damals die schlimmsten Momente, in denen das Singen zum Automatismus verkommt, weil die volle Aufmerksamkeit auf den kleinsten Bewegungen meines Vaters liegt. Noten brauche und gebrauche ich in dieser Zeit selten. Handlungsunfähig stehe ich und beobachte, wie ein Mensch gegen sich selbst kämpft, ohne dass ich etwas dafür oder dagegen tun kann.

Die Legotürme der Opéra de Lyon, zwei Mitglieder des Kinderchores und ich 1993
Die Legotürme der Opéra de Lyon, zwei Mitglieder des Kinderchores und ich 1993

Diese kindliche Angst um einen Elternteil ist sicherlich ein weit verbreitetes Phänomen. Ich habe mich oft gefragt, warum die Diskrepanz zwischen meiner Wahrnehmung des Konzerts und der Wahrnehmung des Publikums so groß ist. Gleichzeitig verstehe ich bis heute nicht, warum sich Menschen mit Bühnenangst diesem Kampf Auftritt für Auftritt stellen, bis an die körperlichen Grenzen gehen, um etwas zu tun, was bestenfalls Gefallen findet. In einem Gespräch mit meinem Vater erklärt er, bei Auftritten – zunächst noch als Sänger, später auch als Dirigent – schon immer körperliche Symptome gehabt zu haben. Die Menschen im Saal würden etwas erwarten, egal, ob man zum ersten Mal die Matthäuspassion singt, oder zum dritten Mal den Deutschen Chorwettbewerb gewinnt. Nach letzterem wurde er gefragt, was jetzt der nächste Schritt für den Chor wäre. Er antwortete, dass er es nicht wisse. Was blieb, war die Frage, die wie ein unendlicher Nachhall in der Kuppel Kreise zog. Diese Erwartung von Außen, gepaart mit der abstrakten Idee, was auf einer musikalischen Ebene für Leistungen erbracht werden können, schüren Zweifel an der Durchführbarkeit des Konzerts. Für meinen Vater sei dabei die Aufregung unabhängig von der Wichtigkeit des Ereignisses gewesen, was ich bezweifle, wenn ich daran denke, dass man ihn ein bis zwei Tage vor einem großen Auftritt kaum ansprechen konnte.

Und doch schwingt bei mir auch Bewunderung mit. Dafür, dass die Begeisterung irgendwie immer ein wenig stärker war als der eigene Körper. Und dafür, dass ich heute ganz egoistisch nach Jahren der Chorabstinenz wieder in Konzerten sitzen und mich freuen kann. Freuen wie früher an den Tagen nach dem abendlichen Konzert. Bis kurz vor dem nächsten Auftritt. ¶