Nach einem bequemen halben Jahr Reiseflug setzte die Landesonde der Atlas-V-Trägerrakete der NASA den Mars-Rover »Perseverance« am Abend des 18. Februar 2021 mitteleuropäischer Zeit auf unserem nächstgelegenen Planeten ab. Viele Menschen weltweit verfolgten die Berichte rund um das komplizierte Landemanöver. Unter anderem wird Perseverance kleine Gesteinsproben vom Mars aufsammeln, mit deren Eintreffen auf der Erde die Forscher:innen allerdings erst im Jahr 2031 rechnen können. Da bleiben also genug Raum und Zeit zum Nachdenken über deren Dimensionen, Bestaunen der Technik, eigenen Überprüfen astronomischer Kenntnisse… Der richtige Anlass für eine gepfeffert nerdige Playlist zur Mars-Rover-Landung. Zum Weghören und Genießen.

Paul McCartney (*1942)Hope of Deliverance (1992)

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1993 veröffentlichte Paul McCartney sein Album Off the Ground. Der lateinamerikanisch angehauchte, emotional beteiligte und dennoch weg-atembare Song Hope of Deliverance von der Platte machte seine Reise um die Erdkugel. Niedrigschwellig, wie die Gitarre zwei einfachste Harmoniewechsel (für Insider:innen: Tonika-Tonikaparallele-Tonika) zu Beginn bringt – und dann geht es auch schon los. Die gitarristische Nachspielbarkeitshoffnung aller Nicht-Paul-McCartneys schwingt mit. »Ich werde es verstehen, eines Tages, irgendwann.« Das passt, denn die vermutete Wissenschaftswertigkeit der in vielleicht zehn Jahren eintreffenden Steinkrümelchen fremder Marsianer:innen, ja, die ganze Mars-Rover-Mission: All das ist komplex – und auf die Zukunft ausgerichtet. Letztlich lässt sich aber der sonst so unwirtliche Missionsname – »Perseverance« (»Beharrlichkeit«) – auch prima für das Wort »Deliverance« (»Befreiung«) einsetzen. Und jetzt alle: »Hope of Perseverance / Hope of Perseverance / Hope of Perseverance / From the darkness that surrounds us…«

Richard Burdick (*1961)The Planets op. 19. No. 5: Mars. Choral (1984)

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Richard Burdick wurde 1961 in Kanada geboren und ist Solo-Hornist im Regina Symphony Orchestra (Regina liegt zwischen Calgary und Winnipeg). 1984 schrieb Burdick einen kleinen astronomischen Zyklus für sein eigenes Instrument – ganz ohne jegliche Unterstützung von Orchester, Streichquartett, Klavier oder gar Zuspiel vom Band. Der »Choral« namens Mars dauert gerade einmal eine Minute. Die »kriegerische« Mars-Deutung kommt halb friedlich, halb martialisch-störrisch zum Ausdruck. Einfach ein paar zwölftönig anmutende Horn-Töne genießen. Ohne großen Unter- oder Überbau. Der kürzeste Flug zum Mars. Ich schwöre.

Giovanni Croce (1557–1609)Laudans exultet gaudio terra nostra (Freudig jauchze uns’re Erde)Geistliche Motette für acht Stimmen (1611–17)

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Giovanni Croce war – als Priester geweiht – von 1603 bis zu seinem Lebensende im Jahr 1609 Kapellmeister am Markusdom in Venedig. Hier entstand einst die Mode, jeweils ein Chor- und/oder Instrumentalensemble auf der einen, und ein anderes Ensemble auf der anderen Empore zu positionieren – und für diese Besetzung, kathartische Stereo-Effekte und geistliche Wort-Musik-Beziehungen nutzend, zu komponieren! Ein Hin und Her – wie in der Kommunikation von Erde und Mars. Nur mit kürzerer »Hall-Strecke«. Giovanni Croce starb 1609 in Venedig. In genau dem Jahr der Publikation von Johannes Keplers Astronomia nova. In dieser bedeutenden Schrift beschrieb Kepler erstmals, dass der Mars nach jedem Umlauf der Sonne wieder an der gleichen Position im All steht. Ein Grund mehr, mit Croce freudig jauchzend die Erde zu rühmen, von der Kepler dies alles zu beobachten vermochte!

George Crumb (*1929)Makrokosmos, Vol. 1: No. 8: The Magic Circle of Infinity (1971)

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Alle 780 Tage »nähern« sich die Erde und der Mars an. Die stark elliptische Bahn des Mars bedingt jedoch, dass die tatsächliche Entfernung zur Erde dabei stark schwankt. Alle 15 bis 17 Jahre kommt es zu der »kürzesten« Distanz von 56 Millionen Kilometern zwischen den beiden Kuschelmäusen. Immer noch sehr weite Strecken – in unendlichen Weiten. Der US-amerikanische Komponist George Crumb hat sich von derlei kosmologischen Undenkbarkeiten inspirieren lassen und 1971 den fantastischen Klavierzyklus Makrokosmos komponiert. In The Magic Circle of Infinity beschreibt Crumb nicht nur gleißend-sphärische Klang-Utopien auf dem Klavier, sondern ordnet die Musik in einer kreisförmigen Partitur an, die somit symbolisch ihre potentielle unendliche Wiederholbarkeit nach außen trägt.

Camille Saint-Saëns (1835–1921)Mon cœur s’ouvre à ta voix (Mein Herz öffnet sich deiner Stimme)Arie der Dalila aus der Oper Samson et Dalila (1877)

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Dankbar können wir sein, dass wir einen Mond haben! Sonst wären wir nicht! Dabei ist die Mond-Anzahl »1« für einen gestandenen Planeten sagen wir: mickrig. Der Saturn hat 82 (!) Monde. Der Mars zählt immerhin deren zwei: Phobos und Deimos (Furcht und Schrecken). Die beiden lustigen Gnubbels wurden von dem US-amerikanischen Astronom Asaph Hall (1829–1907) am 17. August 1877 entdeckt. Im selben Jahr kam es am 2. Dezember zu der Uraufführung der herrlichen Bibel-Drama-Schnulze Samson et Dalila von Tierkarnevalskomponist Camille Saint-Saëns am Hoftheater Weimar. Die schönste Arie daraus – Dalilas Dahingeschmelze: Mon cœur s’ouvre à ta voix – gelangte zur größten Popularität und klingt bis heute wie eine amouröse Reise durch Raum und Zeit. Am besten mit der Callas!

György Ligeti (1923–2006)Nouvelles Aventures (1962/1965) für drei Sänger:innen und sieben Instrumente)

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Auf zu neuen Abenteuern! 1965 sendete die Sonde »Mariner« 4 allererste Nahaufnahmen vom Mars. Sechs Missionen waren zuvor gescheitert. »Mariner 4« dagegen schaffte es planmäßig, knapp zehntausend Kilometer entfernt am Mars vorbeizufliegen und lieferte 22 Bilder. Im selben Jahr beendete György Ligeti, dessen Werke drei Jahre später in Stanley Kubricks Krypto-Epos 2001: A Space Odyssey gleich mehrfach Verwendung finden sollten, die Arbeit an seinem lustigen Vokal-Ensemble-Stück Nouvelles Aventures. Gute »Hurz«-Musik, noch bevor »Hurz«-Musik zum Klischee wurde.

Chiara Margarita Cozzolani (1602–1678)Gloria in altissimis DeoAus: Salmi a otto voci concertati op. 3 (1650)

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Johannes Kepler betrieb zahlreiche Mars-Forschungen. 1602 verwarf er – im Rahmen der Formulierung seines »Zweiten Gesetzes« – die Idee der gleichförmigen Bewegungen der Himmelskörper in vollkommenen Kreisen. In genau diesem Jahr – 1602 – wurde Chiara Margarita Cozzolani in Mailand geboren. Cozzolani stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie und trat als 17-Jährige ins Benediktinerinnenkloster Santa Radegonda in Mailand ein. Dort legte sich die großartige Komponistin und selbstbewusste Musik-Organisatorin mit dem verstaubt-konservativen Erzbischof Litta an. Cozzolanis Musik schillert vor Emotionen. Sogar humorvolle Momente sind in ihren und durch ihre Werke erlebbar. Und das in durchweg geistlichen Kompositionen!

Einojuhani Rautavaara (1928–2016)Angel of Dusk für Kontrabass und Orchester (1980)1. Satz: His First Appearance

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»Another one bites the dusk« sang schon Freddy Mercury. Fast. »Dusk« heißt »Abenddämmerung«. Mercurys »Dust« (»Staub«) passt aber eigentlich besser auf den Mars: Zwar sind die regelmäßigen Staubstürme hier zwar meist weniger heftig als die schlimmsten Stürme auf der Erde; dafür breiten sich die Staubmassen auf dem Mars teilweise auf einhundert Prozent der Oberfläche des roten »Nachbarn« aus. Immer wieder ist der Mars also komplett von Staub umhüllt. Einojuhani Rautavaara Kontrabasskonzert Angel of Dusk könnte in seiner ganzen Unheimlichkeit die perfekte Filmmusik dazu sein. Ein instrumentalzusammengeballtes Thema schwenkt sich über der Landschaft ab – und erst nach einer guten Minute darf mal ein Individuum (herrlich brummig und sexy außerweltlich: der Kontrabass!) das Wort im Nebel des Ganzen erheben.

Michelangelo Galilei (15751631)Toccata No. 8 aus: Il Primo libro d’intavolatura di liuto (1620)

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1609 beobachtete Galileo Galilei (1564–1642) den Mars erstmals mit einem selbstgebauten Teleskop. Infolgedessen entwickelten sich die Fernrohre bis Mitte des 17. Jahrhunderts soweit, dass sogar bald die Zu- und Abnahme der polaren Eiskappen auf dem Mars jahreszeitlich unterschieden werden konnten. Galilei selbst war ein Universalgenie: Astronom, Physiker, Mathematiker, Kosmologe und Philosoph. Auch wäre ein guter Musiker aus ihm geworden. Die Voraussetzungen dafür waren jedenfalls die bestmöglichen: Vater Vincenzo (ca. 1520–1591) und Galileos elf Jahre jüngerer Bruder Michelangelo Galilei (1575–1631) arbeiteten als äußerst anerkannte Lautenisten und Komponisten. Michelangelo kam zu dem Glück, als Musiker an der Hofkapelle von Kurfürst Maximilian I. in München an der Lauten-Saite beschäftigt zu sein; an der Seite von Epochenkomponist Orlando di Lasso (1532–1594).

John Lennon (1940–1980)Imagine (1971)

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Noch ein Beatle, mit einem fast viel zu bekannten Lied. Dafür in einem Arrangement, gespielt vom Stringspace String Quartet. Niemals mehr durfte nach diesem Song die Tonika wieder so naiv auf die Subdominante folgen, nie wieder! Ein letztes Mal gelangte diese klangvolle – seit Imagine eben endgültig abgegriffene – Emo-Wendung zu Weltruhm; damals, zur genau gleichen Zeit der Mission »Mariner 9«! Als allererster Satellit bog »Mariner 9« am 14. November 1971 erfolgreich in die Marsumlaufbahn ein, schoss weit über 7000 Pics und kartografierte zusätzlich noch die gesamte Marsoberfläche. Chapeau – und: Peace! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.