Titelbild Sascha Kohlmann (CC BY-SA 2.0)

Bisher hat die Bundesregierung keine branchenadäquaten Hilfen für freiberufliche Musiker:innen in Deutschland aufgelegt. Viele sind deshalb in ernsthaften existenziellen Nöten. Weshalb ist das so – und was folgt daraus? Dies ist der Ausgangspunkt bei den Online-Konferenzen des Landesmusikrats Berlin über die Lage freischaffender Musiker:innen in Berlin – die auch für die Szene in ganz Deutschland als pars pro toto gelten kann. Matthias Nöther gibt Einblicke in die Diskussionen.

Erhard Grundl, Grünen-Obmann im Kulturausschuss des Bundestages, beobachtet eine interessante Entwicklung im Kulturstaatsministerium. Vor einigen Monaten habe Monika Grütters noch Musiker:innen und allen anderen freien Kulturschaffenden in Deutschland empfohlen, den erleichterten Zugang zur Grundsicherung Hartz IV zu nutzen. Extra für die Soloselbstständigen verzichteten doch die Jobcenter derzeit etwa auf die gefürchtete Vermögensprüfung. Die Kulturstaatsministerin habe die Idee der Grundsicherung für die auftragslosen Künstler:innen »wie eine Monstranz« vor sich hergetragen, so Grundl. Mittlerweile scheint die höchste deutsche Kulturpolitikerin vorsichtiger zu sein. Zu klar sei mittlerweile: Wenn Musiker:innen Arbeitslosengeld II erhalten, ist ihnen kurz- und mittelfristig die normale Arbeit in ihrem Beruf extrem erschwert. Denn, so sagt Lena Krause vom Verein Freie Ensembles und Orchester in Deutschland (FREO): Musiker:innen seien ja auch während der Pandemie nicht schlichtweg arbeitslos. Es könnte schon sein, dass ein Studiotermin oder ein Treffen mit Kolleg:innen zur Vorbereitung neuer Programme außerhalb ihres Wohnorts stattfinde – Arbeitsalltag für Musiker:innen in Deutschland nach wie vor. Was für Hartz-IV-Bezieher:innen dem vorausgehen müsste: eine umständliche bürokratische Abmeldung am Wohnort für eine Reise. Daneben die ebenso langwierige Beantragung aller Sachmittel, etwa für neues Instrumenten- und Studio-Equipment. Was eben anfällt an neuer technischer Ausstattung. Lena Krause kenne aus ihrem Musiker-Bekanntenkreis niemanden, der oder die bisher diese vereinfachte Grundsicherung beantragt habe. Auch Monika Grütters könnte nun möglicherweise sehen: Wenn sie die gesamte freie Musikszene entsprechend den Plänen der Großen Koalition in Hartz IV lockt, ist jenseits festangestellter Orchestermusiker:innen kaum jemand mehr da, der die Opern- und Konzerthäuser bespielen kann – wenn diese Institutionen denn vorsichtig wieder geöffnet werden sollten. Denn auch in der vereinfachten Grundsicherung gilt: Freischaffend musikalisch tätig sein und damit Geld verdienen – das gibt Diskussionen mit dem Jobcenter.

Eingeleitet wurden die Online-Konferenzen des Landesmusikrats Berlin  durch eine Umfrage, die der Landesmusikrat unter seinen Mitgliedern und anderen freien Musiker:innen in Berlin initiierte. Das Ergebnis: 29 Prozent von insgesamt 503 Befragten in Berlin wollen im Zuge des faktischen Corona-Berufsverbots den Musikerberuf aufgeben. Oder sie haben es bereits getan. Ein Menetekel für die Musikszene des gesamten Bundesgebiets. Dass die Grundsicherung für Musiker:innen nicht in Frage kommt und dass die Soforthilfen des Bundes kaum beantragt werden, weil sie ausschließlich für laufende Betriebskosten (die freie Künstler:innen oft gar nicht haben) verwendet werden dürfen: Keines dieser Probleme haben das Kulturstaatsministerium, das Finanz-, das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium bislang gelöst, und die Covid-19-Pandemie ist mittlerweile ein knappes Jahr alt. Auch die seit Januar beantragbare Neustarthilfe für Soloselbstständige ist, trotz einiger Anpassungen, eine Betriebskostenpauschale. Ständig neue Namen für im Grunde ähnliche Hilfen verschleiern es – aber man dreht sich im Kreis.

Die Frage, weshalb es für die Bundesministerien dermaßen schwierig zu sein scheint, passgenaue Wirtschaftshilfen für einen weitgefassten Berufszweig zu erarbeiten, nimmt in der Online-Serienkonferenz des Landesmusikrats sehr viel Raum ein. Nicht selten driftet die Diskussion ins Grundsätzliche, Gesellschaftspolitische. Es hänge oft nicht nur am Geld, sondern auch am »mindset«, sagt etwa Gunter Haake vom Beratungsnetzwerk der Selbstständigen bei ver.di – »und zwar sowohl der Unternehmerinnen und Unternehmer in der Kulturwirtschaft als auch was die Politik betrifft.« Haake glaubt: »Das, was wir mit den Soforthilfen hatten und diesen verunglückten Überbrückungshilfen, hängt auch sehr stark damit zusammen, dass man die Kultur oder die einzelnen Kulturschaffenden gar nicht als Arbeitende sieht, sondern als persönlich Notleidende.« Und dann sei natürlich ALG II erstmal das Naheliegende. Sie würden nicht als »Wirtschaftsteilnehmer« gesehen, die eben auch eine konstruktive Wirtschaftshilfe brauchen.

Doch Haake sieht das Bild der potenziell ständig Notleidenden längst auch von den Musiker:innen verinnerlicht. Wenn man will, kann man vom »Andorra-Effekt« sprechen. Der Begriff stammt aus der Sozialpsychologie: Eine Menschen- oder Berufsgruppe versteht sich mit der Zeit selbst so, wie sie vom Rest der Gesellschaft gesehen wird. Doch Klaus Lederer, Berliner Kultursenator und ebenfalls bei der Konferenz dabei, macht es mit Blick auf die alljährlichen Milliardenumsätze der Kulturbranche deutlich: »Wir sind keine Bittsteller. Wir brauchen uns nicht hinter dem Maschinenbau zu verstecken. Das muss in Köpfe der Kulturschaffenden rein.« Nur dass ernstzunehmende Wirtschaftsförderung, nach der sich Musiker:innen so sehnen, eben keine Landes- sondern Bundesangelegenheit ist. Klaus Lederer, der Lucky Luke der Kulturpolitik, der Mitte März bedingungslos 30 Millionen Soforthilfe in die freie Berliner Kulturszene schoss, musste schnell an den Bund übergeben.

Auf die Analyse des politischen »Mindsets« folgen – gerade von den jüngeren Teilnehmenden der Online-Konferenz – mutige gedankliche Gehversuche. Nicht mehr ganz neu, aber politisch in unerreichbarer Ferne ist dabei der fiktive Unternehmerlohn: Von einigen Kulturverbänden wurde er bereits zu Beginn der Pandemie ins Gespräch gebracht – als Variante des Kurzarbeitergeldes für Angestellte. Auch der Jazztrompeter Nikolaus Neuser als Vertreter der Deutschen Jazzunion kann sich für den fiktiven Unternehmerlohn erwärmen. Mutiger, weil mehr auf die berufliche Wirklichkeit gerade von Musiker:innen angepasst, fände Neuser allerdings eine andere Unterstützungsmaßnahme: künstlerische Arbeitsstipendien. Die flössen wieder direkt in die künstlerische Arbeit, so dass die Musiker:innen, die sich jetzt bedroht fühlen, direkt von ihnen profitieren. »Unser ganzes Gewerbe ist zwar unternehmerisch tätig, hat aber keinen traditionellen Unternehmerbegriff. Wir führen ja kein Unternehmen, um Gewinne zu machen. Wir versuchen, Einnahmen zu erzielen, die wir dann sofort rückinvestieren in musikalische Projekte. Das reicht vom Klub bis zur individuellen Musikerin. Und das muss man natürlich vor diesem Hintergrund auch berücksichtigen, dass man da den Unternehmerbegriff auch nochmal differenziert denkt.«

Solche Arbeitsstipendien sind jedoch bisher bundesweit nur ein sehr kleines Förderinstrument. Beim Musikfonds etwa, der letzten Herbst einmalig 10 Millionen Euro verteilen durfte, wurden knapp die Hälfte von insgesamt rund dreitausend Anträgen für sechsmonatige Arbeitsstipendien bewilligt. Das klingt eher nach einem Preisausschreiben als nach sozialer Unterstützung. Es gibt strenge Ausschlussmechanismen, die vor allem freie Musiker ohne eigene Projekte benachteiligen – etwa die Sidemens in einer Jazzband oder Basso-Continuo-Spielerinnen in einem freien Alte-Musik-Ensemble. Das ist eben noch keine Wirtschaftshilfe, sondern weiterhin klassische Projektförderung, die man erhalten kann oder eben nicht.

Olaf Kretschmar von der Berlin Music Commission musste gemeinsam mit mehreren anderen Verbänden in einem Termin in der Bundesregierung Anfang des Jahres enttäuscht feststellen, dass sich in der Bundespolitik mittlerweile die Vorstellung von auftragslosen Musiker:innen, die sich in die Grundsicherung begeben, eingefräst hat. »Wir wollten eigentlich Hilfe für künstlerische Arbeit erreichen«, sagt Kretschmar.

Gunter Haake vom Beratungsnetzwerk der Selbstständigen bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wäre schon glücklich, wenn er dem Bundeswirtschaftsministerium die Perspektive der vielen bedrohten Kulturschaffenden überhaupt einmal nahebringen könnte. »Wir bemühen uns schon länger, mal mit dem Wirtschaftsministerium darüber zu reden, was die da eigentlich an Hilfen auflegen. Und es ist nicht so, dass sie uns mit Begeisterung Termine anbieten. Es ist ein strukturelles Problem, dass bestimmte Zweige der Politik meiner Beobachtung nach nicht verstehen, was da passiert, und keine Verantwortung übernehmen wollen.«

Foto Michael Gaida via Pixabay 
Foto Michael Gaida via Pixabay 

Im Interesse der Kulturbranche den Kontakt zum Wirtschaftsministerium herzustellen, vermag offenbar bisher vor allem das Lobbybüro von ver.di in Gestalt des SPD-Gewerkschaftssekretärs Markus Fuß. Fuß hat zwei Millionen ver.di-Mitglieder im Rücken, da kann er sich Gehör verschaffen. Er hat aber auch Schausteller und Einzelhandel zu vertreten und kann den Wirtschaftsminister Peter Altmaier vermutlich nicht gänzlich auf die spezifischen Bedürfnisse freier Musikschaffender einschwören. Weiterhin also gibt es diese Sprachlosigkeit zwischen Wirtschaftspolitik und Kulturszene. Vom konservativ geführten Bundeswirtschafts- und dem sozialdemokratisch geführten Finanzministerium wird sie offenbar geflissentlich gepflegt – aus der Unsicherheit heraus, man würde mit ungewöhnlichen Wirtschaftshilfen auch einem neuen Begriff von Arbeit schlechthin Tür und Tor öffnen. Dabei müsse, so Jazztrompeter Neuser, die alle zuständigen Behörden durchdringende Vorstellung von Arbeit als einer achtstündigen Anwesenheit an einem fest definierten Arbeitsplatz gründlich hinterfragt werden. Und die Vorstellung davon, dass Arbeitende ausschließlich während dieser Anwesenheit unternehmerisch tätig sein und Wertschöpfung betreiben könnten. Ein für die Gesamtgesellschaft nötiger Diskurs, denn auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gelten solche Zweifel längst nicht mehr nur für künstlerische Berufsgruppen.

Gesprächsbedarf über diese offenbar in der Bundespolitik so sehr gescheuten Grundsatzdiskussion zu künstlerischer und namentlich musikalischer Arbeit gibt es genug: So steht etwa die Frage im Raum, weshalb so wenige freie Musiker:innen die freiwillige Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen. Wann genau sind denn ein selbstständiger Musiker, wann ist eine Bildende Künstlerin, wann ist ein selbstständiger Komponist überhaupt arbeitslos? Das fragt noch einmal dringlich Lena Krause, Geschäftsführerin von FREO. »Musiker:innen haben Vorbereitungszeit – meistens unbezahlt«, so Krause. »Die befinden sich in Projektaquise, Projektentwicklung und so weiter. Nur weil wir jetzt das Konzert als klassischste Arbeits-Präsentationsform eines Musikers nehmen und nur weil eine Musikerin für zwei Wochen oder drei Monate mal kein Konzert hat, ist diese Person ja nicht arbeitslos!« Auch die oft von traditionellen Musikverbänden erhobene Forderung, mehr Musiker:innen in Angestelltenverhältnisse zu bringen, um die Frage der Entschädigung von Auftragslosigkeit zu umgehen, sieht Lena Krause kritisch. »Selbstständigkeit ist meistens selbst gewählt!«

Solche Sätze zeigen mitunter: In den vier Konferenzen spielt sich auch ein Generationenkonflikt ab. Lena Krause von FREO und der Jazztrompeter Nikolaus Neuser von der Deutschen Jazzunion gehören zur jüngeren Generation der in der Musikpolitik Aktiven. Sie erheben aus der augenblicklichen Not heraus ihre Stimme stärker als die Generation vor ihnen. Die Not freier Musiker:innen in Deutschland ist eine über Jahrzehnte aufgestaute. Eine Protagonistin der älteren Generation ist etwa Adelheid Krause-Pichler, die sich als Präsidiumsmitglied des schlagkräftigen Deutschen Tonkünstlerverbands sicherlich sehr verdient gemacht hat, aber auf alte Rezepte setzt. Sie ist dafür, dass die musikalischen Verbände, die »sich sowieso schon untereinander koordiniert haben«, eine gemeinsame Zielsetzung an die Politik formulieren. Man müsse nicht hektisch neue Mitglieder aquirieren: »Wir sind ja genug, alle zusammen, um eine politische Forderung zu artikulieren.«

Das wirkt ein bisschen zu gemütlich in dieser ungemütlichen Zeit. Die Einigkeit würde das größte Problem der Musikszene auch nicht lösen. Es tritt in der Corona-Krise so deutlich zutage wie nie zuvor: dass eine gläserne Wand existiert zu den faktischen wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger:innen der Bundespolitik. Auch traditionelle Kultur-Interessenvertretungen wie der Deutsche Kulturrat und der Deutsche Musikrat vermochten dieses dicke Glas bisher nicht zu durchbrechen. Tatsächlich haben beide Verbände mehrere Monate die Empfehlung der Kulturstaatsministerin Grütters wiederholt, die freien Musiker:innen mögen doch den erleichterten Zugang zur Grundsicherung nutzen.

Warum gibt es von der Bundesregierung keine branchenadäquaten Hilfen für freiberufliche Musiker:innen? In @vanmusik.

Gerade Lena Krause wendet sich in vergleichsweise scharfen Worten an Kultur- und Musikrat: Aufgrund der genannten Empfehlung an freie Musiker:innen würden sich diese nur noch unzureichend von den beiden Verbänden vertreten fühlen. Denn der Gang in die Hartz-Grundsicherung bedeute für freie Musiker:innen eben konkrete berufspraktische Probleme, die die alten Verbände offenbar vor einem Dreivierteljahr nicht ausreichend gesehen haben. Man spürt in Krauses Worten den kollektiven Zorn einer ganzen Branche nachzittern, die im »generös« gewährten erleichterten Zugang zum ALG II vor allem die Geringschätzung ihres Berufsbildes sieht – und ihres Lebensentwurfs. ¶

… arbeitet als Musikjournalist für Berliner Tageszeitungen und die Kulturprogramme von ARD und Deutschlandradio. Er studierte Musikwissenschaft, Musik und Philosophie. 2008 erschien sein Buch ›Als Bürger leben, als Halbgott sprechen‹. In seiner Freizeit unterhält er drei Töchter und ein sehr altes Holzhaus.