Der Berliner Straßenchor – eine Fotoreportage

Text · Fotos © · Datum 16.5.2018

An einem warmen Donnerstagabend sammelt sich der Berliner Straßenchor in der Zwölf-Apostel-Kirche in Schöneberg. Die Sonne scheint durch die großen Fenster, an den Schulstühlen bilden sich kleine Grüppchen, die sich unterhalten. Der Chorleiter Stefan Schmidt wärmt das Ensemble auf und beginnt danach zu proben. Ein Mann und eine Frau sitzen abgeschieden an einer Bank und hören zu. Sie werden einige Zeit nicht mitmachen dürfen: Sie haben zu oft gefehlt, weil sie »tief im Osten« wohnen und es weit ist, und jetzt haben sie zu große Lücken. Es wird ernsthaft für La Bohème geprobt. Der Straßenchor besteht seit 2009. Ursprünglich kamen viele Sänger*innen direkt von der Straße, mittlerweile ist es eine Mischung aus Obdachlosen und anderen sozialen Randgruppen. Schmidt konnte mit seinem Ensemble öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen, eine ZDF-Doku hat es bis zum ersten großen Konzert begleitet, Carmina Burana in der Philharmonie. Das Konzert war ausverkauft. Die nächste Herausforderung ist Puccinis Oper. Die Aufführung findet am 31. Mai im Stone Brewing in Mariendorf statt, eine Craft-Bier-Brauerei, die von dem sogenannten »Bier-Jesus aus Amerika« gegründet wurde. Karten für die Oper und ein hochwertiges Drei-Gänge-Menü dazu kosten €79.Die Dirigentin für La Bohème, Elda Laro, kommt nach einer halben Stunde zur Probe und übernimmt für Schmidt, der dann bei den Tenören mitsingt. Laro will das Tempo weiter anziehen und korrigiert fortwährend die Aussprache, es liegt spürbar Frustration in der Luft. Nach mehreren Wiederholungen entspricht der Klang endlich Laros Vorstellung; die Männer klopfen einander auf die Schultern, als hätten sie gerade ein Tor geschossen. Manche Sänger*innen im Chor seien »besser als Profis«, sagt mir die Frau, die am Rande der Probe sitzt.In der Pause sprechen wir mit den Chormitgliedern und hören Geschichten von Leid – Beziehungsgewalt, €1,50-Jobs, einer für immer unbekannten Mutter – aber auch von Freude, schönen Flirts, gutem Kaffee, amerikanischer Country Music und den hübschen Frauen, die sie singen. Zur Verpflegung gibt es sieben Teesorten, fünf Packungen Wurst, acht Brotaufstriche, Käse und Brötchen. Draußen fängt es an zu regnen. Wir verabschieden uns und laufen zurück zur U-Bahn. Unter einem Vorsprung an der Kirchenfassade schützen sich die Prostituierten von der Kurfürstenstraße vor der Nässe. Es sind Menschen, die vielleicht eines Tages auch im Chor mitsingen werden.

Ute ist aus dem Ruhrpott nach Berlin gezogen, um räumliche Distanz zu ihrer »Alkohol- und Drogenkarriere« zu schaffen. »Ich musste meine Heimatstadt verlassen, dass war mir klar«, sagt sie. Sie singt Alt.

Thommy – das H ist wichtig – kam über die Green Mango Karaoke Bar zum Straßenchor. Dort ist er der »Stimmungsmacher«, erzählt er. Sein Lieblingslied zum Karaoke-Singen ist 1000 und 1 Nacht, der Schlager von Klaus Lage.

Arcy (Hintergrund links) fährt für jede Probe von Hellersdorf nach Schöneberg, etwa anderthalb Stunden mit den Öffentlichen. Der Chor hält sie aufrecht. Vor kurzem hatte sie einen Schlaganfall und eine Zeitlang ihre Stimme verloren. Vor etwas längerer Zeit hat sie sich aus einer sechsjährigen Missbrauchsbeziehung befreit. »Es zerreißt die Seele«, sagt sie.

Die Stimmen im Straßenchor sind energetisch, rau, lustvoll – und passen damit perfekt zu La Bohème. Für viele Sänger*innen war die Sprache schwieriger zu lernen als die Musik. Als Dirigentin Laro zufrieden ist, kommt der Witz aus den Tenören: »So, jetzt mal auf Chinesisch.«

Chorleiter Stefan Schmidt versucht, das Gleichgewicht zwischen Strenge und Unterstützung zu halten. »Wieso habt ihr gequatscht?«, fragt er die Sopranistinnen, bevor er dem Chor und der Dirigentin hilft, Textfragen zu klären. Alain sagt über Schmidt: »Er ist sehr geduldig. Wenn jemand falsch singt, schmeißt er ihn nicht raus.«

In der Pause wird bei den Bässen geflirtet. Ein blonder Sänger, dessen Namen ich nicht mitbekomme, sagt Lilette (weit rechts): »Der Typ, mit dem ich gerade hantiere, wäre mal was für dich.« Die Antwort lautet: »Es wäre nicht das erste Mal, dass wir uns einen teilen.«

Die Noten für La Bohème sind von der Deutschen Oper ausgeliehen. Viele Sänger*innen halten sie sehr fest in ihren Händen, obwohl sie eigentlich keine Noten lesen können.

Rada (dritte von links) kommt aus Serbien oder, wie sie lieber sagt, Jugoslawien. Sie hat früher die Lieder ihrer Heimat aufgeführt. Später tauchte bei ihr ein unerklärbares Husten auf. Deswegen raucht sie jetzt, »aus Wut«. Sie neigt sich zu mir hin und fragt: »Wie schreibe ich ein Buch… über das, was mir angetan wurde?« ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.