Im Juli 2020 stellte die Royal Philharmonic Society auf Twitter die Komponist:innen für ihr Composers Programme vor. Über diese Meldung lernte ich die Musik von Lucy Hale, einer der sieben Ausgezeichneten, kennen. Die Komponistin verstarb – das vermeldete als erste mit einem liebevollen Nachruf ebenfalls die RPS – am Montag, den 11. Januar 2021, im Alter von nur 26 Jahren.
Als Komponistin mit Behinderung setzte Hale sich immer für die Zugänglichkeit nicht nur der Musik, sondern auch eines nach wie vor eher Barriere-reichen Alltags und Kulturlebens ein. Über ihren Twitteraccount steuerte sie wichtige Debattenbeiträge zu Musik, Inklusion und (Corona-)Politik bei.
In The Wind
Hale beschrieb sich auf ihrer Homepage selbst als »Manchester based composer with interests in literature, philosophy and politics«. Sie wuchs im Süden Londons auf, wo sie als Sechzehnjährige ein Kompositions-Jungstudium aufnahm. Letztes Jahr beendete sie dann ihren Kompositions-Master am Royal Northern College of Music in Manchester. Für die Saison 2018/19 war sie die erste Young-Composer-in-Association beim BSO Resound, einem Ensemble des Bournemouth Symphony Orchestra bestehend aus professionellen Musiker:innen mit Behinderung. Ihr Stück In The Wind wurde 2017 von einem Ensemble des London Philharmonic Orchestra uraufgeführt. Viele Aufnahmen hat sie außerdem via Soundcloud veröffentlicht, die meisten eingespielt von ihrem Hochschulorchester am Northern Royal College of Music. Aktuell war sie Composer-in-Residence der National Orchestras for All, einem inklusiven Jugendorchesterprojekt für das (und mit dem) sie das Stück Stories of Silk komponierte, und eben Apprentice-Composer der Royal Philharmonic Society. Außerdem komponierte Hale für verschiedenste Besetzungen, sei es Cello Solo, Vokalensemble, Flötenquartett oder Orchester. Wie viele Musiker:innen mit Behinderung war Lucy Hale für ihre Arbeit auf technische Hilfsmittel und Software angewiesen. Da sie nicht selbst am Instrument komponieren konnte, musste sie umso mehr auf ihre innere Klangvorstellung vertrauen.
Against The Tide
Hales Orchesterstück Against The Tide von 2015 ist mit seinen unter vier Minuten Spielzeit auf eine wahnsinnig intensive Dichte komprimiert. In dem durchgehenden Orchestercrescendo ist gerade bei der Aufnahme des Studierendenorchesters des Royal Northern College of Music die immense Kraftanstrengung für die Musiker:innen spürbar. Ein simples Dreitonmotiv, von der Trompete von Anfang an für jede:n verständlich platziert, stellt sich einer immer stärker hereinbrechenden (Klang-)Flut und wird im Kampf gegen die übermächtige Naturgewalt der zusammenwachsenden Orchestermassen zu scheinbar krampfhafter Stärke gezwungen. Die verdichteten Orchestertexturen verschwimmen im wahrsten Sinne des Wortes immer weiter in einer Lautstärkemasse, die von allen Richtungen an den Hörer:innen zerrt. Das Motiv erfährt nach und nach seine Metamorphose und wird von der Trompete immer weiter in die Höhe gepresst, ein kurzes Auftauchen aus den erstickenden Treiben der Gezeiten, ehe es zum neuen Anlauf ausholt. Mit dem vierten Aufbegehren – auch bei der kurzen Dauer klingen die Blechbläser inzwischen nicht weniger am Rande ihrer Kraftreserven als bei einer Brucknerapotheose – crescendiert sich die Klangflut in die ohrenbetäubende Stille, mit der das Stück endet.
Für die Organisation Drake Music gab Hale außerdem Kompositionsworkshops in Liverpool für neurodivergente Kinder und Jugendliche. Inklusive Musikvermittlung und – noch mehr – inklusive Kompositionspädagogik sind Disziplinen, in denen Organisationen und Menschen sich auch hierzulande beeindruckend engagieren, die aber im Vergleich zum regelschulorientierten Vermittlungsbetrieb der großen Institutionen ein Schattendasein führen. Der Tod einer auf diesem Feld so kompetenten Künstlerin wie Lucy Hale hinterlässt eine große Leerstelle. Gerade nachdem wir ein ganzes Jahr lang einen ertaubten toten Komponisten gefeiert haben, müssten wir uns regelmäßiger fragen, wer hierzulande eigentlich für wen Musik macht beziehungsweise machen kann, denn die Schaffung eines inklusiven Konzertlebens erschöpft sich nicht im Bau von Rampen zu den Sälen.
When We Breath
Die Komposition When We Breathe für Flöte Solo und eine Zuspielung, die Hale selbst eingesprochen hat, ist ein Stück, das beim ersten Hören (und Sehen) auf eine unangenehm eindringliche Art und Weise fesselt. Für ihr Projekt Coming up for Air beauftragte die Flötistin Kathryn Williams vierzig Komponist:innen, Stücke für Flöte Solo (mit oder ohne Elektronik) zu schreiben, die auf einen einzigen Atem beschränkt sind. Inspiriert von ihren eigenen Erfahrungen als Flötistin mit Asthma ermutigt Williams die Komponist:innen, die Arbeit zu nutzen, um sich mit ihrer eigener Beziehung zu Atem und Körper auseinanderzusetzen.
Hale schrieb auf ihrem Blog: »Als ich Williams’ Anweisungen gelesen habe, erlebte ich die Auswirkungen eines unbemerkten Anstiegs des CO2-Anteils in meinem Blut. Atmen ist auch in guten Zeiten nicht meine größte Stärke und das erhöhte CO2 zwang mich quasi durchgehend zu kämpfen. Meine Beziehung zu Atem und Körper war also besonders widerspenstig und dementsprechend bei mir gedanklich sehr im Vordergrund. Ich fing an mich zu fragen, ob ich irgendwie ein Werk schreiben kann, dass hörbar den Aufwand, den ich zum Atmen betreiben muss, und die resultierende ›gestelzte‹ Art meiner Sprache wiedergibt. Der Widerspruch, diese Dinge in einem einzigen, ausgedehnten Atem zu erkunden, schien mir als perfekte Metapher für die Trennung meiner realen Stimme und meiner inneren Denkstimme, die sich viel flüssiger und mehr ›nach mir‹ anfühlt.«
In der Zusammenarbeit mit der Flötistin nahm sie ihre Stimme beim Vorlesen eines Textes über ihre Atemprobleme auf. Die Aufnahme der brüchigen Stimme schickte sie mit dem Originaltext an Williams, die sie als Audio-Score anwendete und mit Kopfhörern auf der Flöte imitierte.
»When we breathe, certain muscles act as bellows to expand our lungs, these are called inspiratory muscles. They cause oxygen to be drawn into the lungs. Weak inspiratory muscles reduce the lung volume. After a period of breathing at low lung volumes, the chest wall tends to become stiff and less compliant making it more difficult for the respiratory muscles to expand and draw enough oxygen into the lungs.«
Die Komponistin selbst war beeindruckt, wie sehr die Klänge den körperlichen Aufwand und die Schwierigkeiten von Atmen und Sprechen einfangen. »Ich habe ihr [Kathryn Williams] das gesagt und gefragt, wie es sich das Spielen anfühlte und ob ich etwas ändern müsse. Sie antwortete: ›Es ist wirklich schwer! Aber ich denke, es ist perfekt, dass ich da mit dir gemeinsam drinstecke und es fühlt sich an, als hättest du mich in diesen Kampf eingeladen – dich in meinem Ohr zu haben ist ein echtes Privileg.‹«
When We Breathe kann nie die wirklichen Schwierigkeiten Hales wiedergeben, tut aber auch nicht so, anders als sogenannte Behinderungssimulationen. Diese Selbstexperimente, bei denen Menschen ohne Behinderung Alltagsaktivitäten im Rollstuhl oder mit verbundenen Augen ausüben, werden in der Community und bei Inklusions-Aktivist:innen oft kritisiert: Sie förderten lediglich Mitleid, Besorgnis oder gar Angst gegenüber Menschen mit Behinderung. Auch können sie zu einem Überschätzen des eigenen Verständnisses gegenüber den Bedürfnissen und Erfahrungen dieser Akteur:innen führen und Raum für Flexibilität nehmen. When We Breathe gibt stattdessen für die Aufführende genau wie für die Hörenden einen emotionalen Einblick. Hale selbst schreibt dazu:
»Ein Kunstwerk einer Künstlerin mit Behinderung trägt eine Menschlichkeit in sich, die einer generischen Übung aus einer Simulation fehlt. Vermutlich ist es die Kombination dieser Charakteristiken, die dafür sorgen, dass Kunst von Künstler:innen mit Behinderung, die mit deren eigenen Erfahrungen umgeht, die angeblichen Ziele der Behinderungssimulationen ohne deren Probleme erreicht. Und falls nicht, naja, haben wir immer noch die neue Kunst. Was gibt’s daran nicht zu lieben?«
Warnings: Falling On Ears, That Refused To Hear
Dem Stück vorangestellt ist eine Videoeinführung der Komponistin.
Eines der neuesten Stücke Hales, Warnings: Falling On Ears That Refused To Hear, eine Sammlung von Miniaturen für Cello Solo, erkundet die Frustration von Aktivist:innen beim Versuch, Veränderungen in einer Gesellschaft zu bewirken, die dem Wandel oft feindlich gesinnt ist. Den Schmerz und die Wut im Gefühl nicht gehört zu werden. Die Online-Uraufführung im Stream der Organisation Manchester Histories bietet außerdem ein kreatives und gelungenes Beispiel für Untertitelung von Instrumentalmusik zur Barrierefreiheit.
Lucy Hales Musik wurde bisher nicht in Deutschland und vermutlich überhaupt nicht außerhalb Großbritanniens aufgeführt. Bei jungen Komponierende ist das grundsätzlich keine Besonderheit, Hale selbst äußerte aber auch, dass die Schwierigkeiten des Reisens mit Behinderung alle bisherigen Gelegenheiten, im Ausland zu arbeiten, schwer bis unmöglich wahrnehmbar machten. Sie konzentrierte sich darum auf den Austausch auf eher lokaler Ebene. Oft betonte sie auf Twitter, wie viel ihr beispielsweise die Zusammenarbeit mit anderen Künstler:innen mit Behinderung, wie den Komponisten Ben Lunn und Rylan Gleave, dem Dirigenten James Rose oder dem Autor und Performer Jamie Hale, bedeutet: »Ich hatte das Privileg, mit so vielen wundervollen Künstler:innen mit Behinderung zusammenzuarbeiten. Ihre Arbeit ist dynamisch, innovativ und lebendig, aber die Chance, gehört zu werden, bleibt ihnen oft verwehrt. Die Ungleichheit solcher Gelegenheiten könnte sich im Fahrwasser von Förderungseinbußen, Publikumsbeschränkungen und der Abhängigkeit von Technologien, die für manche nicht zugänglich sind, weiter fortschreiben.«
Die Musik von Lucy Hale, ihr politischer Aktivismus und ihre Vermittlungsarbeit sind eine wichtige Bereicherung, wenn es darum geht, den Konzertbetrieb, sobald es die Situation wieder erlaubt, mutig, inklusiv und lebendig zu gestalten. Lasst uns das als eine Chance sehen, ihre Musik weiterleben zu lassen. ¶