Mit Mahler im Stau – etwas Besseres kann einem außerhalb des Konzertsaals gar nicht passieren, findet Volker Hagedorn, der 114 Jahre nach der Uraufführung der 6. Sinfonie deren ersten Satz auf der A7 neu entdeckt.
Auf einem Stau kann man surfen wie auf einer big wave. Es ist nicht so gefährlich, aber man kommt auf Höhen deutlich über den 17 bis 27 Metern der Wellen von Belharra oder Nazaré. Wie dort ist es eine Frage des timings. Wer die Musik erst anschaltet, wenn die ersten Warnblinklichter zu sehen sind, hat wenig Chancen. Man muss schon vorher ein gewisses Niveau erreicht haben. Ich schob Mahlers Sechste rein, kurz nachdem ich von der Flughafenautobahn auf die A7 nach Norden eingebogen war. Derzeit ist die Verengung auf zwei Spuren ab Mellendorf eine gute Voraussetzung für größere Staus, so wie der unterseeische Canyon vor dem portugiesischen Nazaré für big waves.
Der erste Satz der Sechsten basiert auf einem Marschrhythmus, den man nicht reflexhaft »unheilvoll« finden muss. Gustav Mahler hat als Kind in der Garnisonsstadt Iglau viel Militärmusik gehört und heiß geliebt, und ein punktierter Viererrhythmus hilft durchaus, einen Schnitt von 120 km/h mit dem Hören zu synchronisieren, ehe man abhebt. Gleichzeitig ist der Anfang des Allegro energico so vertikalenbetont, dass die Musik hinter ausbrechenden Sechzehntelrasereien fast stillsteht, einen Horizont bildend, der über die Leitplanken und Nadelwälder der norddeutschen Tiefebene weit hinausgeht, jedenfalls mit Pierre Boulez und den Wiener Philharmonikern.
Als nach zwei Minuten die Warnblinklichter auftauchen, bin ich kurz vorm Choral und auf der perfekten Höhe für die big wave. In so einem Moment muss man sich dem board absolut verbunden fühlen, und der Bläserchoral verbindet mich sogar mit den letzten paar Wochen, in denen ich ihn mir am Klavier vorgespielt habe. Wie ein Süchtiger bin ich immer wieder zu diesen sechzehn Takten zurückgekehrt und hatte immer Neues entdeckt, etwa dass das pizzicato zum Choral abgeleitet ist vom ersten Thema, wo die Geigen eine Oktave nach unten springen und dann eine kleine Dezime darüber weitermachen.
Darum sitzt der Choral nicht allzu außerirdisch in der Konstruktion. Er beginnt nach einem Symbol: Die Trompeten gehen von A-Dur im Fortissimo auf a-Moll im pianissimo. Man könnte damit einen massiven Bremsvorgang untermalen, wenn es nicht ein Dimensionswechsel wäre. Die Oboen drehen gleichzeitig von pp zu ff auf, und dann beginnt der Gesang der Holzbläser. In diesem Moment komme ich zwischen einem polnischen LKW und einem SUV aus Pinneberg zum Stehen, besser gesagt, ich kann auf dem Wellenkamm eines 14-km-Staus in herrlichstem Sonnenschein den geliebten Modulationen folgen.
Wenn man schon einsam hören muss, dann wenigstens in diesem Autokino, wo jede Bewegung zum Ereignis wird! Aus der Ungewissheit, in die der Choral mündet, drängt eine wilde, lustvoll umfassende Linie heraus, für die einige Exegeten das Kennermienen-Etikett »Alma-Thema« fanden. Nichts gegen Alma, aber für mich ist es ein Ausbruch zum Horizont. Dann kommen dieses und das Marschthema übereinander und machen die nächste Dimension auf. Es sind so viele Dimensionen, dass … »vierzehn Kilometer«, sagt da eine quietschfidele Frau im Verkehrsfunk. »Hier müsst ihr 45 Minuten mehr einplanen!«
Das wird sofort als found footage integriert, als Gegenstück der Kuhglocken in der »Durchführung« – echte Kuhglocken, eine Glücksvision. Wo bin ich? Berkhof ist vorbei, nicht der Stau. Aber die Zeit blättert von der Musik so ab wie das Disziplinsprech der Musikolog:innen: »Die Diagnose einer trithematischen Disposition zwingt indes zur Prüfung des Satzkonzepts.« Oohh, Herr Doktor! Haben Sie rausgefunden, dass es drei Themen gibt und ein Problem mit der passgenauen Analyse? Dann lieber gleich kapitulieren wie Regisseur Percy Adlon, im peinlichsten Musikfilm aller Zeiten. In Mahler auf der Couch rennt Gustav über eine Wiese und ruft: »Geschafft, Alma! Die Sechste ist fertig!«
Am 27. Mai 1906 hat Mahler sie in Essen uraufgeführt, weitere Städte folgten. Die Kritiker hassten das Stück geradezu. »Ungeschlachte Maßlosigkeit«, »Impotenz im Einfall«. Allerdings hörten sie das ja zum ersten Mal, und im Finale kann man leicht vergessen, wie einleuchtend der erste Satz ist. Jedenfalls ist er das im Stau. Dieser Haufen kriechender Fahrzeuge lechzt nach Sinngebung und fügt sich der Partitur wie die Welle dem Surfer. Echt wahr: Genau in dem Moment, als nach unfassbaren Abenteuern (»Synthesefeld«, notiert der Doktor, »offene Formkurve«) das Ausbruchsthema final gegen die Wand gefahren wird, kann ich bei Allertal von 10 km/h auf 120 beschleunigen. Danke, Gustav! ¶