Die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik verschieben ihren Schwerpunkt.

Text Cathérine Fröhlich · Fotos © Kristof Lemp · Datum 26.7.2018

Die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik verkommen zum Festival für schöne Fotos. Bunt sollen die Fotos sein, witzig, aktionsreich. Schön sind die Fotos aus Sicht der Ferienkursleitung wohl dann, wenn darauf auch Frauen zu sehen sind, und Menschen unterschiedlicher Hautfarben. Schön sind die Fotos dann, wenn darauf mehr passiert, als dass das tausendste schwarzgekleidete Streichquartett sich seriös, gesittet hinter den Pulten abrackert und Notentext in Töne übersetzt: Die Töne fliegen weg, man sieht sie leider nicht. Fürs Bild kommt es besser, wenn das Hören zum Hintergrund wird und die Musiker des Quartetts ihre Bögen durch Malerpinsel mit weißer, deckender Farbe ersetzen. So klecksen dann Pinselborsten die Strichstellen entlang und beträufeln die Griffbretter. Klick, Foto!

Schöne Fotos sind keine verwerfliche Sache, tatsächlich sind sie sogar eine schöne Sache, aber sie machen noch keine neue Musik. Zurück nochmal zum Streichquartett mit Bögen. Die diesjährigen Ferienkurse haben sich Diversity, Genderfragen und Dekolonisierung auf die großen, gut zu fotografierenden Fahnen geschrieben. Und klar ist es zumindest skurril, dass ein Ensemble wie das Arditti Quartett, Stammgast der Ferienkurse, seit seiner Gründung vor mehr als vierzig Jahren nur ganz am Anfang mal für kurze Zeit eine Frau in der Besetzung hatte und sonst halt aus weißen Männern besteht, die vor allem in Gestalt des Patriarchen Irvine Arditti auch immer älter werden. Aber: Das ist primär keine ästhetische Frage, außer für die Fotos. Die Auswahl mag sich nie explizit gegen Frauen gewandt haben, und doch liegen die Strukturen so, dass am Ende stets noch die Männer Expertise, Fame und Gehör gewinnen. Experten bleiben die Arditti-Männer, und dafür schätzenswert. Die Kluft muss benannt, kann aber kaum mir nichts, dir nichts geflickt werden.

Dass der notwendige Versuch, an der Heteroweißmännlichkeitsdominanz in der neuen Musik zu kratzen, nicht allzu schnell mit musikästhetischen Fragen vermischt werden oder diese gar wegwischen sollte, zeigt sich zum Beispiel, wenn die Ardittis ein Stück wie Julius Eastmans Evil Nigger aufführen: Die bloße Tatsache, dass der Komponist schwarz und schwul war, macht dessen halbstündige, tremolierende Meditation über eine tonale Schlusskadenz noch nicht zu inspirierter Musik; bunt und weiblich wird das Ensemble darüber hinaus durch die Aufführung des Stückes auch nicht. Also: Problem vollkommen ungelöst, aber ein diversitätsassoziierter Name im Programmheft platziert. Foto! (Völlig unthematisiert bleibt parallel der sehr präsente, sexistische Höhö-Humor manch männlicher Protagonisten der Szene, von Radioredakteuren und Komponisten. Nimmt das Spiel mit ihrer ästhetischen Einbettung den powerpointpräsentierten Hoden eines mitteljungen Komponisten in seinem Tagungsvortrag tatsächlich ihre sexistische Nervigkeit? Unschönes Foto.)

Diversityfragen zu thematisieren ist daher tatsächlich sehr schön und sehr gut, aber bei einem Musikfestival sollten darüber die musikästhetischen Fragen nicht der Beschäftigung entschlüpfen. Was geht also bei den diesjährigen Darmstädter Ferienkursen in Bezug auf Musikästhetik? Die Neue Musik scheint sich selbst um jeden Preis loswerden zu wollen. Sich selbst, das heißt: die Musik loswerden zu wollen. Auch hier fällt auf: das Fotobedürfnis. Gesucht wird nach neuen Materialien, neuen Orten, neuen Kunstgattungen, in denen man wildern kann. Worum es wenig geht, ist, was bei diesem Wildern herumkommt, ob der Braten, der geschossen wurde, denn genießbar und vor allem gut zubereitet ist. Das Hirschgeweih macht sich auf Fotos jedenfalls auch sehr gut. Konkret heißt das: Performance ist cool, Partizipation ist cool, Frickeltechnik ist cool, Videos sind cool, Nichtkonzertsaalorte sind cool.

Ohne Frage, auch das kann alles superviel Potential haben und zu richtig berechtigten, im Geiste schon lange verlangten Kompositionen führen. Aber die Sexyness dieser Bestandteile ist äußerlich. Ob es ihnen gelingt, das Publikum in musikalisch induzierte, erotische Verwirrung zu stürzen, hängt ab von der Frage, was mit den Bestandteilen in einer Komposition geschieht, wie aus ihrem Zusammenwirken Zusammenhänge entstehen, die die Aufmerksamkeit in ein Neues mit hineinziehen. Emphatisch betrachtet ist es also unwichtig, woher das Material der Musik kommt, wichtig ist, was es in der Komposition hervorbringt. Das allerdings lässt sich nicht fotografieren. Kann man diesem Hervorgebrachten denn beikommen, durch Theorie vielleicht einen Zugang finden? Die Ferienkurse haben ein breites Vortrags-, Diskussions- und Tagungsprogramm zu bieten. Das spiegelt in diesem Jahr aber vor allem ein Ressentiment wieder, das momentan im Bereich der Neuen Musik zu grassieren scheint, ein Ressentiment gegen alles, was sich zu Recht oder Unrecht irgendwann einmal Autorität verschafft hat: gegen den Avantgardebegriff zum Beispiel und gegen die Vorstellung, dass sich im Inneren von Musik irgendetwas Wesentliches tun könnte (da käme man ja, so genau weiß man es nicht, aber trotzdem, oh Schreck, vielleicht noch irgendwie mit einem Werk- oder Autonomiebegriff in assoziative Berührung). Oder gegen ambitionierte Musikkritik, die von der Musik etwas erwartet und mit trauriger Enttäuschung reagiert, wenn die Musik nicht das taugt, was an Hoffnung an sie herangetragen ward. An der Musikkritik wäre es doch, könnte man denken, dem Sog nachzugehen, den manche Stücke entfalten, und auch zu fragen, warum andere Stücke einen so blank unhöflich vor der Tür stehen lassen, auch wenn sie hübsch fotogen dekoriert sind.

Der Tenor auf der kleinen Musikkritikkonferenz der Ferienkurse aber ist: Dass doch bitteschön die Kritikerinnen so höflich sein mögen, sich in keine der Kompositionen so richtig hineinbitten zu lassen und respektvoll nur alle gleichermaßen devot und großzügig aus der fotografischen Außenperspektive zu betrachten. Oder aber, dass man sie durchaus betreten, aber dann ganz sanft im Sinne der Komponisten darüber berichten soll, wie denn da drinne alles gemeint ist, auch wenn man wegen Einsturzgefahr die Ohren lieber nicht zu weit hinein gesetzt hätte. Tragfähigkeitsdiskussionen sind unerlässlich, aber gegenwärtig gescheut. Welche prächtigen kompositorischen Paläste uns durch diesen Mangel in Zukunft unerschlossen bleiben werden!

»Die Neue Musik scheint sich selbst um jeden Preis loswerden zu wollen.« Und zwar zugunsten schöner Fotos. Ein Kommentar aus Darmstadt in @vanmusik.

Falls denn solche überhaupt noch gebaut werden sollten. Denn an der Haltung zur Kritik entscheidet sich vielleicht die Zukunft der Musik: Wer fordert, die Kritiker mögen nur die Fassaden ablichten und die innere Zusammensetzung der Stücke schön unbetreten, auf jeden Fall aber unbewertet lassen, forciert Musik, deren konkrete Weise der Komponiertheit wumpe ist. Dass die Darmstädter Ferienkurse eine unrühmliche Relevanz in der Abschaffung der Musikkritik beanspruchen, ist auch daran abzulesen, dass in diesem Jahrgang die deutschsprachige Sektion der Schreibschule gestrichen ist: Die Schreibschüler der letzten Runde vor zwei Jahren hatten aufmüpfig nach neuerer, musikalischerer Neuer Musik gerufen, heftige Kritik geübt und damit eine Serie kleinerer Eclats provoziert. Die brave englischsprachige Schreibschule darf auch dieses Jahr über Musik reden.

Die Fotos werden bleiben. Die Musik jedoch ist flüchtig. ¶