Das Probespiel ist eines der veränderungsresistentesten Rituale in der klassischen Musikkultur. Obwohl auch viele Orchestermusiker:innen seine Sinnhaftigkeit als Personalauswahlverfahren in Frage stellen, ist sein Ablauf seit Jahrzehnten mehr oder weniger gleich geblieben. Kritik wird dabei oft achselzuckend mit einer vermeintlichen Alternativlosigkeit begegnet: »Wir wissen, dass es schlecht ist, aber es geht nun mal nicht anders«. In ihrer Doktorarbeit Das Probespiel als Personaldiagnostik: Probleme und Lösungsansätze, die im Herbst im LIT-Verlag als Teil der Schriften des Instituts für Begabungsforschung in der Musik erscheint, hat Kathrin Bellmann das Probespielverfahren erstmals einer musik- und personalpsychologischen Analyse unterzogen. Kernstück ist dabei eine empirische Studie in Kooperation mit der Jungen Deutschen Philharmonie, in der Bellmann ein reales Probespiel experimentell mitgeplant und durchgeführt hat.

Bellmann war selbst als Flötistin in verschiedenen Orchestern tätig und arbeitet heute nach einem Psychologiestudium und einem kurzen Abstecher in die Unternehmensberatung als Personalpsychologin an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden.

Hartmut Welscher sprach mit ihr über die Ergebnisse der Studie und die notwendige Reform eines Initiationsritus.

Kathrin Bellmann • Foto © Roger Günther
Kathrin Bellmann • Foto © Roger Günther

VAN: Es gibt seit vielen Jahren Kritik an Funktionalität und Objektivität des Probespielverfahrens. Woran liegt es deiner Meinung nach, dass es sich trotzdem so hartnäckig hält?

Kathrin Bellmann: Ich denke, ein Grund ist, dass kein Budget da ist, um das Verfahren einem Qualitätsmanagement zu unterziehen und gute Alternativen zu erarbeiten. Es ist außerdem kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Auch die Einordnung als eine Art Initiationsritus halte ich psychologisch für sehr plausibel. Das System hat einen ausgewählt, dann ist ja klar, dass man es für gut hält. Gleichzeitig bin ich bei meiner Arbeit auf viele sehr offene Menschen gestoßen, die sagen: ›Selbst wenn mir das Verfahren zu einer Stelle verholfen hat, möchte ich trotzdem nicht, dass es weitergeführt wird.‹

In deiner Hauptstudie untersuchst du ein Geigen-Probespiel bei der Jungen Deutschen Philharmonie. Wie bist du dabei vorgegangen?

Ich habe zwei verschiedene Probespielaufgaben verglichen und hinsichtlich ihrer Nützlichkeit analysiert: ein Mozartkonzert, das von Geiger:innen klassischerweise beim Probespiel gefordert wird, und ein Vomblattspiel, das die Junge Deutsche Philharmonie auf meine Bitte hin in das Probespiel integriert hatte. Von 50 Bewerber:innen hatten mir 39 die Einwilligung gegeben, die erste Runde als Audio mitzuschneiden. Die Live-Mitschnitte habe ich dann Orchestermusiker:innen über ein Onlineportal vorgelegt, zusammen mit einer Ratingskala, die ich vorher in Workshops mit Orchester:musikerinnen entwickelt hatte. Der Link zur Plattform wurde über die DOV an alle deutschen Orchester verschickt. Knapp 100 professionelle Musiker:innen haben die Aufnahmen bewertet. Die Mitschnitte hatte ich in Sets unterteilt, in denen sich ein Mitschnittspaar aus Mozartkonzert und Vomblattspiel jeweils wiederholte. Die Bewertungen habe ich dann statistisch ausgewertet und mir angeschaut, inwieweit die individuelle Bewertung beim ersten und zweiten Mal hören übereinstimmt und die unterschiedlichen Orchestermusiker:innen sich in ihren Bewertungen ähneln.  

Was ist das Ergebnis?

Es gibt eine fehlende Reliabilität, beziehungsweise Zuverlässigkeit in der individuellen Bewertung, das heißt: Jemand bewertet ein und dieselbe Performance beim ersten Mal hören anders als beim zweiten Mal. Überraschenderweise schnitt in puncto Reliabilität das Vomblattspiel-Stück besser ab als das Mozartkonzert, obwohl die Bewertung des letzteren ja eigentlich viel eingeübter ist bei Orchestermusiker:innen. Das finde ich ein starkes Argument für den Einsatz vom Vomblattspiel und das Abrücken vom klassischen Konzert.

Hast du eine Hypothese, warum die zweite Bewertung beim Vomblattspiel weniger abweicht?

Ich denke, es ist eine etwas objektivere Aufgabe. Du hast nämlich zum Beispiel als Bewertungskriterium die Richtigkeit der Töne, anders als beim Mozartkonzert, weil es alle so lange und so gut eingeübt haben. Das Niveau beim Mozartkonzert ist oft einheitlich so hoch, das es schwerer fällt, zu unterscheiden. Beim Vomblattspiel liegen hingegen tatsächlich größere Unterschiede vor. Es zeigt eher eine Art ›Rohzustand‹ des musikalischen Könnens. So haben auch einige Studienteilnehmer:innen bemerkt, dass ein Mitschnitt vom Vomblattspiel wiederholt wurde – beim Mozartkonzert dagegen ist das niemandem aufgefallen.

Auch die Bewertungen zwischen den Orchestermusiker:innen untereinander weichen stark voneinander ab.

Ja, da könnte man natürlich sagen, dass das daran liegt, dass die Bewertenden aus unterschiedlichen Orchestern stammen. Es wäre nochmal interessant, dies innerhalb eines Orchesters zu untersuchen.

Du legst in deiner Arbeit zwei große Schwächen des Verfahrens offen: Es werden die falschen Aufgaben gestellt und es wird auf die falsche Art bewertet. Wie könnte das vermieden werden?

Bei der Art der Bewertung wäre es wirklich wichtig, sich vorher auf Kriterien zu einigen. Schwächen wie fehlende Reliabilität, also eine fehlende Zuverlässigkeit in der Bewertung sind ja nicht probespielspezifisch und das Probespiel nicht das einzige verbesserungswürdige Personalauswahlverfahren! Das kennen Psycholog:innen aus allen Branchen und ich auch aus meiner täglichen Arbeit in der Personalauswahl. Ein ganz bekannter Messfehler ist der Halo-Effekt: Mangels Bewertungskriterien hänge ich mich an einem Detail auf. Im Falle des Probespiels sagt dann die eine: ›Dieser Triller, der war brillant, wir müssen den haben in unserem Orchester.‹ Und ein anderer meint: ›Der hat das c viel zu tief gespielt, den können wir auf keinen Fall nehmen.‹ Man muss sich eben der Tatsache stellen, dass die menschliche Bewertung sehr fehleranfällig ist, und einen möglichst guten Weg finden, damit umzugehen. Das kann funktionieren, wenn man im Vorfeld Bewertungskriterien wie Intonation, Artikulation, Rhythmus, Phrasierung, … festlegt und diese beim Bewerten auch nutzt, beispielsweise in Form einer Ratingskala.

Und wie kommt man auf die richtigen Aufgaben?

Die Grundlage für die Auswahl von Aufgaben ist ja immer ein Anforderungsprofil. Mir muss klar sein: Was soll die- oder derjenige können, um die zu besetzende Stelle gut auszuüben? Davon lassen sich dann recht einfach Aufgaben ableiten. In meiner Vorstudie habe ich sieben Kernkompetenzen herauskristallisiert, die das Anforderungsprofil Orchestermusiker umfasst. Das Orchestrale Zusammenspiel liegt dabei mit großem Abstand vorne, wird absurderweise bisher aber überhaupt nicht abgefragt. Während in anderen Unternehmen diese Kompetenzen je nach Abteilung oder Funktion stark voneinander abweichen können, sind sie innerhalb eines Orchesters relativ stabil und einheitlich.

Berufsrelevante Kompetenzen für Orchestermusiker:innen nach Nennungen in Zeitungsartikeln und Interviews.
Berufsrelevante Kompetenzen für Orchestermusiker:innen nach Nennungen in Zeitungsartikeln und Interviews.

Was bedeutet das denn genau für die instrumentalen Aufgaben, wie müssten die verändert werden, um die richtigen Kompetenzen abzufragen?

Ich bin da relativ radikal und würde die Aufgaben komplett austauschen. Bestimmte Standard-Stellen aus Orchesterwerken und, im Fall der Geige, das Mozartkonzert sollten lieber aus dem Probespiel verschwinden. Wenn du mit einem Korrepetitoren spielst, den du vorher nie gesehen hast, wird der musikalische Zusammenhang weggekürzt. So ist die Musik eigentlich nicht gedacht. Und das verändert die Schwierigkeit dieser Aufgabe total, alleine dadurch, dass der Dirigent wegfällt. Noch krasser ist das bei den Probespielstellen. Stattdessen musst du, was zum Beispiel das Tempo angeht, etwas anbieten, was im Orchester nie vorkommt. Einige Orchestermusiker:innen waren der Meinung, an der Art und Weise des Musizierens mit den Korrepetitor:innen ließe sich ablesen, wie gut jemand orchestral zusammenspielt und reagiert. Die befragten Probespielenden meinten hingegen, dass sie ihre Spielweise einfach komplett durchdrücken gegenüber der Korrepetition, weil man anders gar nicht überleben könnte. Das ist ein totaler Widerspruch. Aus der Sportpsychologie kennt man die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Fähigkeiten. Geschlossene Fähigkeiten sind solche, die ich immer wieder abrufe und eingeübt habe, automatisierte Abläufe beim Turmspringen oder in Küren, offene Fähigkeiten sind im Fußball oder anderen Teamsportarten gefragt. Und Orchesterspiel ist immer offen. Das Mozartkonzert und die Probespielstellen sind aber komplett geschlossen, es wird viel zu viel und oft jahrelang vorbereitet. Kein Mensch im Orchester bereitet so lange Repertoire vor. Deswegen werden hier grundsätzlich die falschen Fähigkeiten getestet, welche, die gar nicht relevant sind.

Um das orchestrale Zusammenspiel abzufragen, schlägst du eine Kammermusikrunde vor…

… die auch den Vorteil hätte, dass man zum Beispiel klangliche Passung gleich hören kann, die gerade bei Bläsern extrem wichtig ist, oder wie sich der Klang mischt bei Streichern. Und man hat direkt eine Messlatte: Perfekt spielen die Kolleg:innen auch nicht, aber man sieht, ob das Niveau zum Neuling passt.

Statt des Mozartkonzerts oder der Probespielstellen gibt es ein solistisches Vomblattspiel und ein vorbereitetes Solostück.

Das vom Blatt gespielte Stück muss natürlich einen angemessenen Schwierigkeitsgrad haben und ich würde idealerweise eine kurze Vorbereitungszeit von vielleicht 5 Minuten einräumen, weil das noch näher am Job ist. Das vorbereitete Solostück sollte im besten Fall nicht auf Jahre hinweg bei allen Orchestern identisch sein.

Als drittes neues Element schlägst du ein Interview mit der Bewerberin oder dem Bewerber vor. Warum?

Es hat sich herausgestellt, dass bestimmte Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen wichtige Bestandteile des Anforderungsprofils sind und teilweise höher bewertet werden, als der allerletzte Schliff der Instrumentaltechnik. Das ist ja auch plausibel: Natürlich hat es auch Einfluss auf das eigene Spiel, wenn ich neben jemandem sitze, mit dem ich mich wohlfühle, und nicht neben einem Stinkstiefel, mit dem ich nicht reden möchte, der keinerlei Konfliktlösekompetenzen, aber zum Beispiel eine fantastische Doppelzunge hat.

Ablauf eines optimierten Probespielverfahrens (FBV-F und FBVMP-F sind Ratingskalen).
Ablauf eines optimierten Probespielverfahrens (FBV-F und FBVMP-F sind Ratingskalen).

Was bräuchte es, um so ein Verfahren einzuführen?

Für ein Interview oder einen Persönlichkeitstest bräuchte man geschultes Personal. Das Gute ist, dass so eine Weiterbildung zum Beispiel im Rahmen eines Workshops ein einmaliger Aufwand wäre, von dem das Orchester über Jahre hinweg profitieren würde. Dann bräuchte es Kolleg:innen, die sich bereit erklären, Kammermusik mit dem Bewerber oder der Bewerberin aufzuführen, das sollte eigentlich kein Problem sein, die Musiker:innen sind eh vor Ort und sollten dazu in der Lage sein. Man bräuchte vielleicht einen zusätzlichen Proberaum für die Vorbereitung des Vomblattspiels. Und man müsste einmal aushandeln, was das jeweilige Anforderungsprofil ist: Wollen wir jemanden, die oder der kreativ ist, sich abseits des Instrumentalen einbringt in den Klangkörper, ist uns die Klangfarbe besonders wichtig, muss man ideal reinpassen, oder ist uns eher wichtig, dass der Laden rund läuft – Rhythmus, Phrasierung –, haben wir ein besonderes Profil im Bereich Alte oder Neue Musik …?

Für wie realistisch hältst du es, dass ein alternatives Verfahren wie das von dir vorgeschlagene eingeführt wird?

Die Einführung einer Kammermusikrunde halte ich für relativ realistisch. Die Junge Deutsche Philharmonie und die Bremer Kammerphilharmonie machen das zum Beispiel bereits – mit sehr guten Erfahrungen und Ergebnissen. Gegenüber dem kurz vorbereiteten Vomblattspiel sind die Vorbehalte leider groß, auch gegenüber einem Interview, wobei das auch an einer großen Unsicherheit liegt, weil es noch nie praktiziert wurde und auch ein bisschen ein Mythos darum entstanden ist, dass eben gar keine Interaktion stattfindet. Dem wird dann große Objektivität zugesprochen, worauf man teilweise auch recht stolz ist. Die Benachteiligung von Frauen beispielsweise hat dadurch auch sicher radikaler als in anderen Branchen abgenommen.

Insgesamt habe ich aber mit sehr vielen Orchestermusiker:innen gesprochen, die froh wären, mit einem verbesserten Verfahren nach den neuen Kolleg:innen zu suchen. Der Wunsch nach einem Update und einer weiteren Professionalisierung des Verfahrens, die Empathie mit den Probespielenden ist meiner Wahrnehmung nach sehr groß.

Für viele Bewerber:innen ist das jetzige Probespielverfahren eine extreme psychische Belastung. Hast du das bei deinen Verbesserungsvorschlägen mit berücksichtigt?

Das war für mich auch ein wichtiger Punkt, ja. Ein Probespiel wird immer eine Stresssituation bleiben, allein schon bedingt dadurch, dass es viele gut ausgebildete Bewerber:innen auf wenige Stellen gibt. Das kann man auch mit einem verbesserten Verfahren nicht ändern. Ich denke aber, dass bei dem von mir vorgeschlagenen Verfahren der Stress in der Vorbereitung sehr stark nachlassen würde, weil ich mich als Musiker:in entwickle, wenn ich Kammermusik oder das schnelle Kennenlernen eines vielfältigen Repertoires übe. Das ist ja auch ein ganz anderer Spaßfaktor, als wenn ich mir jahrelang das Mozartkonzert reindrücke. Außerdem kann ich mir beim Vomblattspiel keine Angststellen einüben. Sonst stehen viele mental immer schon vor diesem Brainfuck: Wenn ich es bei einem Probespiel vergeigt habe, ist es die Hölle, es beim nächsten wieder zu versuchen. Dabei spielt der Gesichtspunkt, ohne Fehler zu performen, in Wirklichkeit im Orchester gar keine so große Rolle. Wenn feststeht, dass Phrasierung, Dynamik oder Intonation beurteilt werden, und nicht nur oder gar nicht, ob da fehlerfrei gespielt wird, weiß ich, dass ich als Musiker:in ganzheitlicher gesehen werde. Das würde zu einer größeren Menschlichkeit des Verfahrens beitragen. Und es hätte wiederum Implikationen für die Ausbildung, die viel breiter gestaltet werden könnte.

Vielleicht ist diese mangelnde Fehlertoleranz im Verfahren aber einfach auch ein Abbild der Kultur?

Das stimmt ein bisschen für Aufnahmen und Youtube-Videos. Aber tatsächlich gab es eine ganz große Übereinstimmung unter den Orchestermusiker:innen, die ich gesprochen habe, dass nicht Fehlerlosigkeit den Unterschied macht, sondern ob ich insgesamt eine gute Spannweite in der Dynamik habe oder tolle Klangfacetten zeigen kann. Ich glaube, das Herumreiten auf Fehlern entspricht einer großen Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, wie ich eine Bewertung vornehmen soll, also zähle ich halt die Fehler, da habe ich wenigstens ein objektives Kriterium. Das Bedürfnis, eine faire Bewertung abzugeben, existiert definitiv. Und das Bedürfnis, als Klangkörper eine super Performance abzuliefern erst recht. Und da wissen alle im Orchester, dass es nicht von dem ein oder anderen falschen Ton abhängt. Andersrum behindert die Angst vor Fehlern das gute Spiel – und das wissen eigentlich auch alle. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com