Wo bleiben die Verrisse und Polemiken? Nichts darf mehr wehtun, und in der Debattenstille um die Musik kann schon eine Satire zum Aufreger werden.  

»Fast eine halbe Stunde lang dröhnende Wirbel auf vier Pauken, fettes Blechbläser-Geschrei, tiefes Schnarchen von Kontrafagotten und sich aufplusternde Munterkeit. Ein Fäkalienstück. Da hilft nur anschließend ein Schnaps. Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir darum nicht beneiden…« Achtung, Fake! Das waren Zitate zu zwei total verschiedenen Uraufführungen. Bis zum Schnaps geht es um Sub-Kontur von Wolfgang Rihm, 1976 besprochen von Heinz Joseph Herbort. Es folgt der Eindruck, den Eduard Hanslick 1892 von Bruckners Achter gewann. Was beide eint, ist, dass es Verrisse von solcher polemischen Schärfe in der Musik seit längerem nicht mehr gibt.

Die Chance, auf einen krachenden Verriss zu stoßen, auf eine scharf angebratene Polemik, ist so klein geworden wie der bedruckbare Platz für die »Klassik« selbst. Online ist mehr Platz, was an der Zahl satisfaktionsfähiger Autoren nichts ändert. Einer gewaltigen Menge fantastisch ausgebildeter Musiker, fabelhaft geförderter Komponisten und potenter PR-Abteilungen steht eine schrumpfende Schar von Musikjournalisten gegenüber, deren kritischer Beruf, sofern freischaffend, sich oft an der Grenze zur ehrenamtlichen Tätigkeit bewegt – und dabei enorme Kompetenz und Vorbereitung erfordert. Ohne die kann sich kein Autor an eine Polemik wagen oder gar mit so »eiskalter analytischer Wut« loslegen, wie Maxim Biller sie in seiner jüngsten ZEIT-Polemik »gegen moralische und akademische Trägheit« einfordert.

Über diese Grundkompetenz verfügten auch all die scharfen Zungen in der »Klassik«, die noch »ich« zu schreiben wagten, von Berlioz über Hanslick und Shaw bis zu Debussy, der auch mit Toten respektlos umging und über Lieder von Franz Schubert schrieb: »So riecht es aus den Schubladen sanfter alter Jüngferchen aus der Provinz«, während Berlioz über seinen Kollegen Donizetti spottete: »Das ist Musik, wenn man so will, aber keine neue Musik.« Solche Opern könne man zwei Dutzend pro Jahr hinhauen. Mit Samthandschuhen wurden Musiker nicht angefasst: »Er hätte wohl einen festeren Zugriff«, schrieb George Bernard Shaw 1885 über den ihn langweilenden Dirigenten Arthur Sullivan, »wenn er mal die Handschuhe abnähme.«

Wo ist der Shaw von heute, der die Aura eines Currentzis perforiert, der Debussy, der uns Schubert madig macht, der Beethovenfan Berlioz, der die jüngste überflüssige Gesamtaufnahme der Sinfonien in die Tonne tritt? Wer folgt jenem Wolfgang Rihm, der 1996 rief: »Nur Scheiße darf teuer sein!«, und den Fäkalvorwurf in der ZEIT seinerseits weggesteckt hatte, anstatt, was heute andere bei geringeren Anlässen tun, einen Anwalt zu bemühen? Gar nicht zu schweigen von animierenden Crashs zwischen den Ästhetiken, die spätestens zu Monteverdis Zeiten begannen und noch in Lachenmann und Henze würdige Fortsetzer fanden, als der eine vom »Sichdummstellen in der Musik« sprach und der andere konterte mit »Autoren, die ihre tristen und ärgerlichen Verhältnisse perpetuieren und ritualisieren«. Aber das war 1982, lange her.

Heute darf nichts wehtun. Die Komponisten scheinen sich alle in den Armen zu liegen, die Journalisten werden von den Agenturen selbstverständlich als »Medienpartner« angesprochen, von den Musikern als Hymnenlieferanten bevorzugt und, wenn sie dieser Erwartung nicht entsprechen, auch schon mal mit Hunden verglichen, bellend, während die Karawane weiterzieht – mit dieser Metapher schloss die Geigerin Patricia Kopatchinskaja den »Abfalleimer« auf ihrer Website, in dem sie online Kritisches gesammelt hatte. Den medial größten Platz nehmen inzwischen nicht Besprechungen, sondern Interviews, Home Stories, Künstlerporträts ein. Auch schön, aber es droht eine Reduktion der Musik auf Persönlichkeiten, die allesamt sympathisch oder originell oder bahnbrechend oder alles zugleich sind, weil Musik ja sowieso toll ist.

Nicht zuletzt verdankt sich die Debattenstille auch den Abhängigkeiten vieler Journalisten. Sie schreiben ja auch für ordentlich bezahlte Programme und Magazine großer Häuser und bauen dabei – wie Jeffrey Arlo Brown neulich in VAN feststellte – »Beziehungen auf, die sie bei ihrer nächsten Besprechung weniger unabhängig machen«. Für alle, die das für einen bloßen Kopfkonflikt halten, hat in der vorigen Woche das Konzerthaus Berlin ein Exempel statuiert. Arno Lücker, der dort oft moderierte, hatte über einen Gast des Hauses nicht etwa einen Verriss veröffentlicht, geschweige denn eine Polemik. Er stellte über den Geiger Daniel Hope ein satirisches »Shred« ins Netz, ein Video mit gefakter Tonspur. Wie witzig oder wie doof, weiß keiner, weil der Film auf anwaltliches Drohen hin sofort aus dem Netz verschwand. Zudem hat Lücker auch gleich noch seinen Job als Moderator am Konzerthaus Berlin verloren.

Wo bleiben die Verrisse und Polemiken? Volker Hagedorn über Kritiken, die nicht mehr wehtun dürfen, in @vanmusik.

Das verweist auf ein gesellschaftliches Klima, in dem bald jeder nur noch Angst hat, Fehler zu machen, vom Blogger bis zum Intendanten. Es täte nicht nur der Musik gut, wenn wieder mehr gestritten als gestreichelt würde. Man kann dann ja auch mal einen Schnaps nehmen statt einen Anwalt. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.