»Die Herausforderungen sind, wenn es um den Klimawandel geht, im gesamten Kreativbereich ähnlich. Deswegen ist es Quatsch, zu versuchen, das alleine zu lösen«, erklärt Jacob Sylvester Bilabel am Telefon. Er hat bisher vor allem bei Transformationsprozessen in der Welt der Pop-Musik mitgewirkt, als Gründer der Green Music Initiative, dem »Max-Planck-Institut für Festivals«, wie er es nennt. Die Initiative versteht sich als europaweites Forschungs- und Innovationsnetzwerk für den Kreativsektor. So setzt sie Projekte mit Festivals wie unter anderem dem Melt oder dem Tollwood-Festival um, führt aber auch, neben vielem anderem, ein von der Europäischen Kommission finanziertes Energieeffizienzprogramm durch. Hierbei wurden in allen europäischen Ländern Energieberater*innen ausgebildet, die jetzt vor Ort Spielstätten unterstützen können.
VAN: Die Green Music Initiative ist im Pop-Musik-Bereich sehr aktiv. Wie ist dein Eindruck vom Klassikbusiness? Spielt Klimaschutz da eine Rolle?
Jacob Bilabel: Das Schweigen des Klassikbusiness ist, wenn es um Nachhaltigkeit geht, ohrenbetäubend. Es ist fast absurd: Wir erleben noch nicht mal ein interessiertes Schulterzucken – man hat das Gefühl, da wird richtig dissoziiert mit Realität. Dass da niemand handelt oder sich noch nicht mal artikuliert, finde ich irritierend. Man könnte ja zumindest sagen: ›Ich sehe das Problem, weiß aber nicht, was ich gerade tun kann. Lass und doch mal schauen, was da möglich ist.‹
Ich beobachte in meinem erweiterten Bekanntenkreis und in meinen beruflichen Netzwerken eine Entwicklung: Mit dem wachsenden Bewusstsein um die Dringlichkeit der Situation beginnen wir, um nicht total zu verzweifeln, immer mehr Einzelverantwortung zu allokieren. Ich finde es nachvollziehbar, sich darüber zu wundern, warum Orchester dauernd durch die Gegend fliegen. Gleichzeitig denke ich: Wenn wir jetzt anfangen, nicht systemisch auf die Sachen zu schauen, sondern die einzelnen Akteur*innen in die Verantwortung nehmen, wenn wir Flugemissionen als dringlichsten Hebel identifizieren, lässt das diese Akteur*innen in einem Schuldkomplex zurück, der, so sagt zumindest die Verhaltensökonomie, eher Initiativen bremst. Man beschreibt das mit dem Begriff der Solution Aversion: In dem Moment, in dem dir nur Lösungen angeboten werden, die deinen – angenommenen – Status quo so infrage stellen, dass du glaubst, dass es deine Art und Weise zu leben bedroht, dann lehnst du sowohl die Lösungen als auch die Ursachen des Problems ab. Das führt zu diesem geradezu absurden Nicht-hinsehen-Wollen. Ein anderer Begriff aus der Verhaltensökonomie ist Kognitive Dissonanz, das bedeutet: Du siehst, dass etwas ein Problem ist, aber kannst es aus irgendeinem Grund nicht adressieren. Und dann musst du, um geistig gesund zu bleiben, mit hohem psychischem Aufwand Gründe finden, warum das Problem nicht existiert oder warum du nichts machen kannst.

Warum ich das sage: Ich finde es interessant, dass wir, wenn wir über die Nachhaltigkeit von Orchestern sprechen, in erster Linie von Flugemissionen reden. Fliegen ist ein On-and-Off-System. Du fliegst oder du fliegst nicht. Die Mobilität der Klangkörper hat natürlich einen maßgeblichen Einfluss auf die Klimabilanz. Aber: Lass uns doch mit Punkten anfangen, die wir leichter adressieren können! Wenn wir zum Beispiel mal auf die Energieeffizienz der Spielorte gucken: Da hast du einen Hebel. Ich würde mir wünschen, dass man sich diese innerbetriebliche Ökologie anschaut: In welchen Häusern spielen wir? Woher kommt der Strom? Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat mal gesagt: ›Wir brauchen einen Pakt der Willigen.‹ Schließt euch zusammen, beginnt euch über solche Fragen auszutauschen. Das ist auch genau das, was wir als Green Music Initiative im U-Musik-Bereich getan haben. Kein Blame-and-Shame-Game, sondern sich zusammentun, Expert*innen dazu holen und erstmal schauen: Was passiert eigentlich an meinem Haus? Wenn wir glauben, die einzige Chance, etwas zu ändern, ist, nicht mehr zu fliegen, werden wir gar nichts tun.
Ich habe das Gefühl, dass der erste Schritt bei vielen Künstler*innen ist, den Klimawandel oder Umweltschutz zum Thema in der Kunst zu machen, Artenschutz-Konzerte geben, eine Spielsaison für die Weltmeere … Oft scheint mir das aber losgelöst von der Organisation der Häuser und der Betriebe.
Wir merken mehr und mehr, dass die Art, wie wir leben, zum Problem wird. Und natürlich reagiert jede*r darauf mit den naheliegendsten Werkzeugen. Da macht man dann ein Klimakonzert oder eine Compilation, gab es ja alles schon viel in den letzten 10, 15 Jahren. Diese Aktivitäten haben aber außer einem Bewusstsein – was auch wichtig ist – relativ wenig geschafft. Jetzt braucht es eine professionelle Art des Umgangs mit der eigenen Klimabilanz. Und da muss man dann Expert*innen dazu holen und sich gemeinsam organisieren: Wie können wir uns in Zukunft aufstellen? Es geht auch darum, in Ballkontakt mit einer gesellschaftlichen Diskussion, mit der Realität zu kommen. Sonst wird die Relevanz des Klassiksektors, befürchte ich, immer geringer.
Welche Expert*innen gibt es denn? An wen kann man sich wenden?
[zögert] Wie sage ich das jetzt?
Du darfst ruhig Eigenwerbung machen.
Wir als europaweites Netzwerk können da in jedem Fall Ansprechpartner sein. Zu dem Netzwerk gehören Firmen, Initiativen an Universitäten, passionierte Musiker*innen, Berater*innen … Wir als Green Music Initiative können aus diesem Netzwerk heraus auf Anfrage relevante Ansprechpartner*innen nennen und vermitteln.
Wir führen außerdem auch selbst Projekte durch, in erster Linie im Bereich der Pop-Musik, aber mittlerweile auch mit der Documenta oder der Berlinale. Am Ende des Tages hat man überall eine Bühne, Licht, eine Halle, das Publikum … Und ob man jetzt eine Harfe nach Bilbao schifft oder 10 E-Gitarren nach Wacken, ist letztlich das Gleiche.
Das Tollwood-Festival beispielsweise bringt Dank »klimafreundlicher Anreise-Angebote« rund drei Viertel der Besucher*innen umweltfreundlich zu den Konzerten: Mit Tollwood-Shuttlebus und einer Radlwerkstatt im Sommer und der im Ticket integrierten kostenlosen Nutzung des ÖPNV im Winter. Unvermeidbare Klimagase, wie beispielsweise für die Anreise der Künstler*innen oder Transporte, gleicht Tollwood mithilfe der Klimaagentur atmosfair aus. Das Festival bezieht außerdem zu 100 Prozent Ökostrom und erlaubt auf seinem Gelände lediglich den Verkauf von Biolebensmitteln.
Die Grundarbeit ist also eigentlich im Popbereich schon gemacht. Es gibt mittlerweile viele Guides und Handbücher, die gratis zur Verfügung stehen: zu Green Touring, einen Kompass für ökologisch nachhaltiges Produzieren im Kulturbereich von der Kulturstiftung des Bundes … Ein guter Ansprechpartner ist auch Julie’s Bicycle in UK. Die haben auf ihrer Website tolle englischsprachige Guides, machen sehr gute Workshops. Es gibt also alles schon, man muss uns oder Julie’s Bicycle nur ansprechen. Und dann eigene Netzwerke bilden und so schnell wie möglich Handlungshilfen erlangen. Der letzte Punkt wäre dann: wirklich beginnen, Daten zu sammeln. Wie will man über Energieeffizienz reden, wenn man den eigenen Stromverbrauch gar nicht kennt? Wenn man einen Überblick über die Zahlen hat, kann man sich auch Ziele setzen: den Stromverbrauch in den nächsten fünf Jahren um 35 Prozent senken, den Anteil von Kohlestrom im Strombezug auf 20 Prozent reduzieren … Darin ist man in England total gut: What you measure, you will manage. ¶