In Zeiten wie diesen ist es ein kleines Wunder, wenn ein öffentliches Bauprojekt in Rekordzeit und im Budgetrahmen fertiggestellt wird und in Betrieb genommen werden kann. Noch vor Ausbruch der Pandemie geplant, wurde auf einem Areal der Münchner Stadtwerke eine Interimslösung für die Dauer der Sanierung des »Gasteig« geschaffen, ein Kulturzentrum, das seit den 1980er Jahren neben der Philharmonie auch die große zentrale Stadtbibliothek, die Münchner Volkshochschule, Räume für die Musikhochschule und einige kleinere Veranstaltungsräume beherbergte.
50 Gehminuten die Isar entlang Richtung Süden werden sich bis zur geplanten Fertigstellung im März 2022 all diese Akteure einschließlich der bereits dort ansässigen Gewerke und Ateliers auf dem Gelände des »Gasteig HP8« wiederfinden. Neben den Philharmonikern und ihren Gästen wird neu auch das Münchener Kammerorchester ein Residenzensemble sein. Schräg gegenüber des Heizkraftwerks, direkt am Mittleren Ring, in Laufweite des Großmarktes und des grünen Isarufers hat sich ein wichtiges Zentrum der städtischen Münchner Kultur in eine neue Umgebung verpflanzt. Urbaner, peripherer, im vergleichsweise wenig gentrifizierten Sendling gelegen ist das hier ein Teil Münchens, in dem gearbeitet und gelebt wird, weniger flaniert und Schau gelaufen.
Sich mit dem architektonischen Konzept auf diese weniger repräsentative Seite Münchens einzulassen und mit den vorhandenen Strukturen kreativ umzugehen, ist die große Qualität des Projekts, das am Eröffnungswochenende von der Politik, der Kulturszene, von den Promis, den Adabeis aber vor allem von der Münchner Stadtgesellschaft enthusiastisch aufgenommen und gefeiert wurde.
Auf einem Fußweg am Isarkanal geht es an Bauwagen und Containern entlang zum Areal HP8. Im Bauzaun hat man eine Lücke geöffnet, der Ordner winkt herein und direkt ins Foyer der neuen Isarphilharmonie, der Halle E. 1929 erbaut, diente sie dem benachbarten Heizkraftwerk Süd als Lager und Funktionshalle. Ein Lichthof mit 2 umlaufenden Galerien, herausragendes Exemplar des damaligen Baustils, der Zweckbauten durch viel Licht und klare Linien kathedrale Anmutungen verlieh. Der Charakter der denkmalgeschützten Halle ist durch die aufwändige Sanierung des Glasdachs und der Lichtdecke erhalten geblieben.
Es zieht, alles atmet den unverputzten Charme einer Baustelle, die kurz vor dem Eintreffen der Gäste durchgefegt wurde. Alles Unfertige verschwindet hinter Zäunen und in den umliegenden Hallen und Containern. Ohne Überleitung oder Hinführung wechselt man beim Betreten des Saales von der lichtdurchfluteten, leicht staubigen neuen Sachlichkeit in ein fast höhlenartiges Dunkel, an dessen vorderen Ende sich die Bühne aus hellem Fichtenholz, wie ein Amphitheater aufgebaut, emporhebt. Der fast quadratische Grundriss des kompakt bestuhlten Saals mit 1.900 Sitzplätzen verjüngt sich an seinem Kopfende zum Trapez. Ein Spinnennetz aus Mikrofonen schwebt über dem Bühnenhalbrund.

Vom obersten Rang aus wirkt der Saal wie ein warm beleuchteter, bergender Holzbauch. Die versetzte Anordnung der anthrazitfarbenen Vollholzelemente aus Fichtenlamellen schaffen ein Muster, das die schräg gesetzten Bühnenseitenwände weniger massig wirken lässt. Im abgedämpften Saallicht wirken die Oberflächen edler, als sie sind. Zwei umlaufende Ränge und die Chorempore an der Bühnenrückseite schließen in maschendrahtartigen, klangdurchlässigen Balkonen ab. Die kompakte Gestaltung der Sitzreihen, die Bestuhlung, die schallreflektierenden Flächen des Saals ordnen alles der einen Sache unter: dem Klang. Ein Saal, der sich aufs Wesentliche konzentriert.

Trotz der Rekordbauzeit von 18 Monaten, einem für einen solchen Konzertsaal sehr schlanken Budget von 40 Millionen Euro und der Vorgabe, eine rückbaubare Interimslösung in Modulbauweise zu schaffen, war der Anspruch, den Münchner Philharmonikern ein angemessenes Klanggehäuse zu verschaffen. Wie ein Instrument soll der komplett hölzerne Innenausbau im metallenen Kasten der umschließenden Halle schwingen.

Thierry Escaichs Arising Dances, ein Auftragswerk der Münchner Philharmoniker, eröffnet den Abend. Hohe Frequenzen in den Streichern schwebend bis gleißend, unruhig pulsierende Bassfiguren, leises Zirpen von Celesta und Harfe, versatzstückartig mit schmelzenden Violinkantilenen kombiniert, ruppige Rhythmik in den tiefen Streichern, kompakte Brassband-Klänge der Blechbläser. Die für sich stehenden Klanglandschaften verbinden sich im letzten Drittel zu einem filmmusikartigen Breitbandsound. Im Klangprofil dominieren die Höhen, die tiefen Streicher sind präsent, aber ein bisschen verschattet. Der Klang von Streichern, Holz- und Blechbläsern verbindet sich, mischt sich aber nicht wirklich, jede Farbe bleibt als solche erkennbar. Der Saal reflektiert ganz direkt: Harte Attacke wird als harter Klang wiedergegeben, weichere, singende Frequenzen werden ebenso weich aufgenommen und weitergetragen.
Auch beim zweiten Hören erschließen sich die Arising Dances nur als ein Aufblättern verschiedenster Farbvaleurs eines opulent besetzten Orchesters. Ist Valery Gergiev abends noch bemüht, die Lautstärke im oberen Bereich zu zügeln und zu deckeln, wird bei der Matinee am Sonntagmorgen von Anfang an musikantisch und sehr viel gelöster aufgespielt: zu Gunsten eines größeren Gesamtklangs im mittleren Lautstärkenbereich und zum Preis unangenehmer, nicht mehr schwingender Klangklumpen an den Fortissimo- Stellen.
Umbau für Beethovens 4. Klavierkonzert mit Daniil Trifonov. Hier hat Trifonov das erste Wort und er ergreift es sehr selbstgewiss und hymnisch. Das Orchester bleibt dezent begleitend im Hintergrund, auch hier spielt sich erst in der Matinee am Sonntagmorgen ein balancierteres Verhältnis ein. Der Streicherklang ist edel, leicht retro-pastos und im Vergleich mit den höchst farbenreichen Klangabstufungen des Solopianisten etwas pauschal. Trifonovs fast unheimliche Agilität und Virtuosität und seine uneitle, kindlich-naive Musizierfreude stecken an: Bei der letzten Kadenz hängen nicht nur die Musiker auf der Bühne, sondern jeder einzelne Zuhörer im Raum an seinen trillernden Fingern. In Beethovens 4. Klavierkonzert (am Abend) und im 1. Klavierkonzert (in der Matinee) lotet er alles aus, was Saal und Steinway Flügel an Ausdrucksnuancen hergeben: singend, sprechend, skandierend, eine hinreißend lebendige Palette von hell und dunkel, hart und weich, und allen denkbaren Schattierungen dazwischen.
Nach der Pause eine weitere Uraufführung: Rodion Shchedrin 1. Satz aus The Sealed Angel für gemischten Chor und Solo-Flöte op.75. Rund, transparent und dunkel schwebt der Chorklang von der Empore und mischt sich mit den weichen Kantilenen der Soloflöte. Die Anmutung ist neo-archaisch, an orthodoxe Gesänge erinnernd. Ein statisches, melancholisch monochrom gefärbtes Klangstück, in dem der Chor hohe Pianokultur beweist und der Soloflötist Michael Martin Kofler nuanciert und virtuos aufspielt. Ein unerwarteter Kontrapunkt zu den vorhergegangenen raffinierten Klängen von Dutilleuxs Métaboles, die farbenreich die routiniert exquisiten Qualitäten aller Orchestergruppen zur Geltung bringen. Dutilleuxs Formprinzip, indirekt vielschichtige Zusammenhänge und Zusammenklänge zu schaffen, fasziniert und überzeugt im Gegensatz zu Thierry Escaich unmittelbar. Ravels Suite Daphnis et Chloé beschließt den Reigen auffallend heterogener Stücke. Warm verbinden sich Orchester und Chor zu einem blühenden, sehr fließenden und glitzernden Klangerlebnis. Begeisterungssturm und ein paar Buhrufe.
Dass die Philharmoniker die feinen Qualitäten ihres neuen Saals geniessen, war ihrem animierten Spiel und der hervorragenden Kommunikation untereinander zu entnehmen. An Gergievs sparsam-kryptischem Dirigat war wenig abzulesen, allenfalls zeigte er mit einem Schütteln der linken Hand unterschiedliche Intensitäten an.
Das Programm des Eröffnungsabends ließ eine klare dramaturgische Linie vermissen, neue Impulse setzten die Philharmoniker eher an den anderen Konzerten des Wochenendes. Im Anschluss an das sinfonische Konzert wurde am Samstag zu einer »late night« geladen. Ein paar Philharmoniker führten gemeinsam mit FM Einheit ein Stück von Vangelino Currentzis auf. Der industrielle Charme von Halle E dient dieser Art von Musik als der perfekte Rahmen, das Format soll fortgesetzt werden.

Mit Ein# Klang (Konzept: Steven Walter und Iñigo Giner Miranda) am Sonntagabend waren die Münchner eingeladen, »ihre« neue Philharmonie in einem Wandelkonzert klanglich und räumlich zu erkunden und in Besitz zu nehmen. Zuhörer wirklich aller Altersgruppen strömten neugierig und erlebnishungrig in einem festgelegten Parcours durch den gesamten Saal. Im Raum verteilt intonierten Ensembles der Philharmoniker und des philharmonischen Chores im Loop Gavin Bryars’ Jesus’ Blood Never Failed Me Yet (1972). Diese fröhliche Polonaise endete nach einer (langen) Weile mit dem Adagio aus Franz Schuberts Streichquintett C-Dur. Schubertsche Melancholie und Todessehnsucht sang vom Podium aus innig in den Saal. Auch ganz hinten im oberen Rang war ohne Verlust mitzuerleben, wie intim, zart und präsent die Kammermusikformation aus den Reihen des Orchesters musizierte. Von diesem Nukleus aus öffnete sich der Klang wieder über den ganzen Raum, als in Terry Rileys In C (1964) die Formationen vom Anfang übernahmen. Das Konzept, allen Besuchern eine immersive Klangerfahrung zu bieten, ging voll und ganz auf. (Ob es dafür ausgerechnet Minimal Music hätte sein müssen, sei einmal dahingestellt. Was für die einen ein meditatives bis rauschhaftes Eintauchen in repetitive pattern ist, wirkt auf andere nur als enervierende Anti-Musik.)

Der Abend endet fröhlich in einer informellen Stehparty im Foyer. Dazu brauchte es weder roten Teppich noch Schampus, ein Kaltgetränk aus der Flasche vom Tresen, ein Platz auf der Treppe und das Fachsimpeln mit den üblichen Verdächtigen über die Qualitäten von Saal und Konzert reichten völlig aus.
Münchens Charme ist vielschichtig. Die Stadt ist gemütlich, manchmal kitschig, oft rückwärtsgewandt und nicht als Hort urbaner und architektonischer Extravaganzen bekannt. Hier feiert man gerne sich selbst und die makellose, die klassische Schönheit, die angesichts einer unordentlichen und verworrenen Gegenwart tröstlich sein mag, aber auch eine schimärenhafte Seite, etwas von potemkinschen Dörfern hat. Stell Dir vor, es ist (Post-)Moderne, und keiner geht hin.
Es ist ein gutes Zeichen, dass die Stadt das Experiment HP8 gewagt hat und das Ergebnis lustvoll und verspielt positive Wirkungen freisetzt. Auch in München darf es mehr um Inhalte und einen provisorischen künstlerischen Prozess mit ungewissem Ausgang gehen, nicht vorrangig ums Repräsentieren und den schönen Schein. Der Gasteig HP8 kann ein Modell werden, wie sich auch in Zukunft in Zeiten mutmaßlich klammer öffentlicher Kassen Räume für Kunst eröffnen und beleben lassen. Abseits von politisch motivierten Prestigeprojekten, in denen sich Architekturwettbewerb auf exorbitante Kostenexplosion reimt. Die Lebenserwartung der Interimslösung HP8 hat sich bereits von 5 auf 10 Jahre verdoppelt. ¶