Die Bäuerinnen und Bauern Frankreichs hatten 1774 mit Missernten und Viehseuchen zu kämpfen. Infolgedessen mussten sie im Jahr 1775 mehr Geld für ihr Getreide verlangen. Die arme Bevölkerung fürchtete, Hunger leiden zu müssen. Zudem hatte König Ludwig XVI. durch unglückliche Entscheidungen den Anstieg der Brotpreise begünstigt. So kam es, dass ein Sack Mehl gen April und Mai 1775 so viel kostete wie man damals im Durchschnitt im ganzen Monat verdiente. In über 200 Dörfern wurden Geschäfte und Lager geplündert, in Paris weit über 1.000 Bäckereien. König Ludwig musste 25.000 Soldaten gegen die Aufständischen entsenden – und erließ danach ein neues Gesetz, das den Mehlpreis an staatliche Bestimmungen knüpfte.

Der damalige Privat-Chirurg von Ludwig XVI. Claude-François Garre (1730–1799) hatte einst Physik und Medizin in Reims studiert und wurde später nicht nur zum Kammerarzt des französischen Königs, sondern zudem leitender Chirurg der Königlichen Militärakademie. Seine Frau Marie Louise Adélade Victoire Colloz brachte am 28. August 1775 in Paris Tochter Edmée Sophie Garre zur Welt.

Schon in ihrer frühen Kindheit galt Sophie als großes Talent am Klavier, mit 14 Jahren veröffentlichte sie ihre ersten selbst komponierten Lieder. Auch tat sie sich als äußerst begabte Sängerin hervor. Das führte zu einem umfangreichen Musikstudium. Ihr Gesangslehrer wurde der komponierende Florentiner Tenor Bernardo Megozzi (1758–1800), der zunächst als Opernsänger in Neapel und Florenz wirkte, bald aber vom französischen Königshof in Versailles engagiert wurde, wo er Sophie kennenlernte. Diese hatte 18-jährig den Alt-Philologen Jean-Baptiste Gail 1793 geheiratet und dessen Nachnamen angenommen. Jean-Baptiste Gail (1755–1829) war seit 1792 Professor am Collège de France, hielt sich – ähnlich wie seine ohnehin »nur« den Künsten zugeneigte Ehefrau – aus den Wirrungen und Kämpfen der Französischen Revolution heraus und wurde 1815 von König Ludwig XVIII. zum Beauftragten für die wertvollen antiken Schriften der königlichen Bibliothek ernannt. Der 20 Jahre ältere Jean-Baptiste und Sophie Gail ließen sich jedoch 1801 bereits wieder scheiden. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, darunter der 1795 geborene Sohn Jean François Gail, der bis 1845 lebte und zu einem anerkannten Intellektuellen in Paris wurde. (Unter anderem verfasste er Libretti für Hector Berlioz und Luigi Cherubini.)

ANZEIGE

Die offenbar hohe Qualität des Unterrichts bei Mengozzi und die daraus resultierenden sängerischen Möglichkeiten führten zu Tourneen Garres durch Spanien und den Süden Frankreichs. Musiktheorie studierte Sophie Gail bei dem bedeutenden Biographen, Musikforscher und Rezensenten François-Joseph Fétis (1784–1871), der sich insbesondere mit der Musik der großen »Alten« – Palestrina, Bach und Händel – beschäftigt hatte und auf Geheiß von König Leopold I. von Belgien 1832 in Brüssel das erste belgische Konservatorium aufbaute. Weitere kompositorische Studien unternahm Gail bei dem späteren Direktor und Professor am Pariser Konservatorium François-Louis Perne (1772–1832) sowie bei dem österreichischen Komponisten, Pianisten und Diplomaten Sigismund Neukomm (1778–1858).

An der Seite des großen Koloratursoprans Angelica Catalani (1780–1849) reiste Gail zwischen 1816 und 1818 für erfolgreiche Opern-Gastspiele durch Deutschland und Österreich, reüssierte aber vor allem an den Opernstätten Londons. Die wenigen bildlichen Darstellungen Sophie Gails stellen sie körperlich als eine äußerst fragil erscheinende Person dar. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Künstlerin möglicherweise an Anorexie litt. Einzelne Quellen erwähnen jedenfalls, dass sie am 24. Juli 1819 in Paris »an einer abzehrenden Krankheit« gestorben sei.

Sophie Gail wurde nur 43 Jahre alt.


Sophie Gail (1775–1819)
Bolleros für Gesang und Harfe (ca. 1810)

YouTube video

In der kurzen Zeit ihres Lebens komponierte Gail vier Opern, von denen Les deux jaloux (Die zwei Eifersüchtigen) von 1813 zum erfolgreichsten Werk der Komponistin in dieser Gattung und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Male in Frankreich aufgeführt wurde. Außerdem entstanden aus der Feder Gails einige Lieder und Romanzen.

Ungefähr im Jahr 1810 komponierte Gail ihr schönes Stück Bolleros für Gesang und Harfe, das schon vom Titel her an Gails Zeit als Sängerin auf Spanien-Tournee erinnert. In dem Text aus anonymer Quelle spricht eine amourös heftig umwehte Person von der »Schwere des Verliebtseins«. Die junge Schönheit des Objekts der Begierde sei Ursache aller Martyrien, ja: »Je t’aime hélas!« (»Ich liebe dich, leider!«). Die Qual des Schweigens, die Qual des Liebens, das Warten auf die Möglichkeit der Liebesoffenbarung. Geheimnis des Herzens, vergebliche Hoffnung, schmerzhafte Stille.

Mit einem ausgedehnten, amourös-meditativen Vorspiel der Harfe beginnt das Lied im 6/8-Takt. Das Flehen der Gesangsstimme steht immer wieder schön  für sich alleine im Raum – und wird erst einmal »angeschaut«. Die Betrachtung des eigenen Liebesleids, dann bald irgendwie barock eingenordet.

Faszinierend, was für eine Sogwirkung aus dem Miteinander der ewig gleichbleibenden Harfe und der kreisenden Gesangsstimme resultiert. Quasi-Neobarock. Wunderbar! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.