Seit Monaten laufen Debatten um das Humboldt Forum und die dortige Ausstellung sogenannter Benin Bronzen, die im Rahmen einer brutalen britischen Expedition aus dem heutigen Nigeria geraubt wurden. Der Historiker Götz Aly rückte kürzlich außerdem mit seinem Buch Das Prachtboot das im Humboldt Forum prominent platzierte Luf-Boot in den Fokus der Fragen um Raubkunst und Rückgabe. Die französische Kunsthistorikern Bénédicte Savoy, die an der Freien Universität in Berlin lehrt, plädiert im Kontext ethnologischer Ausstellungen wie der im Humboldt Forum dafür, bei allen Exponaten zunächst von einer Aneignung ohne Einvernehmen auszugehen, es sei denn, das Gegenteil lässt sich beweisen. Seit kurzem ist klar, dass sich auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der die genannten Objekte mittlerweile gehören, zumindest die Benin Bronzen betreffend an Rückgabeverhandlungen mit Nigeria beteiligen will.
Still ist es in dieser Debatte bisher um die Objekte des Phonogramm-Archivs, das heute als Teil des Ethnologischen Museums ebenfalls im Humboldt Forum angesiedelt ist. Rund 16.000 Wachswalzen mit Aufnahmen aus der Kolonialzeit (ab 1900) werden hier archiviert. Merle Krafeld fragt per Videocall nach bei Maurice Mengel, dem Leiter der Abteilung Medien im Ethnologischen Museum, dem Musikethnologen und Ethnologen Lars-Christian Koch (Vorgänger Mengels und mittlerweile Direktor für die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum) sowie dem Tontechniker und Musikethnologen Albrecht Wiedmann, der als Kurator für das Phonogramm-Archiv tätig ist.
VAN: In den aktuellen Debatten rund um das Humboldt Forum geht es viel um Fragen der Herkunft und Beschaffung der ausgestellten Gegenstände. Gefordert werden dabei eine verstärkte Provenienz-Forschung und die Rückgabe der Objekte. Betrifft diese Debatte auch das Phonogramm-Archiv? Kann man Aufnahmen überhaupt ›zurückgeben‹?
Koch: Das ist bei den Aufnahmen schon länger gängige Praxis. Seit wir mit CDs arbeiten, arbeiten wir auch mit den Communities vor Ort zusammen. Ich definiere das schon als Rückgabe, denn wir geben das Repertoire wieder in die Verantwortung der Menschen in dem Bereich, aus dem die Aufnahme kommt. Da geht es dann gar nicht so sehr darum, ob wir noch Kopien haben oder nicht, das ist unter Umständen eher ein Vorteil.
Was passiert dann vor Ort mit den Aufnahmen?
Wiedmann: Einerseits wird viel versucht, Kulturen wiederzubeleben mit den Aufnahmen. Oft steht auch im Mittelpunkt, eine Identität wiederzuerlangen. Häufig haben wir Anfragen von Musiksammlungen – auch nationalen –, die mit diesem Material in die eigene Vergangenheit zurückblicken wollen. In Europa haben wir in diesem Zusammenhang engeren Kontakt mit baskischen Organisationen gehabt und in Lateinamerika beispielsweise Anfragen zu den Aufnahmen aus der argentinischen Provinz Tierra del Fuego (›Feuerland‹). Das können wir gut oder schlecht finden. Oft ist gar nicht ganz klar, was dann genau mit den Aufnahmen passieren wird, aber der Bedarf, selbst zu sammeln, ist da. Unterschwellig schwingt dabei mit, dass man wieder Herr über die eigene Kultur werden will. Es gibt dazu keine konkrete Verpflichtung unsererseits, die Aufnahmen zurückzugeben, aber wir machen das eigentlich immer.
Ganz gezielte Anfragen nach bestimmten Aufnahmen sind sehr selten. Vor zwei Jahren hatte eine Sami-Sängerin aus Finnland die Vermutung, dass Aufnahmen ihrer Verwandten in unserem Archiv liegen. Sie singt selbst heute noch diese Joiken und wollte die Versionen, den Stil vergleichen.

Inwiefern ist das Archiv zugänglich für Nutzer:innen von außen?
Wiedmann: Wir haben eine Online-Datenbank, die ist aber recht schwierig zu bedienen. Wenn die jemand nutzen will, schicke ich daher immer gleich eine Anleitung mit. Vom Phonogram-Archiv sind etwa 80 Prozent digitalisiert, da kann man den Austausch dann gut online abwickeln. Es gibt aber immer noch Fälle, in denen die Digitalisate lückenhaft sind. Da kommen die Interessenten dann besser vorbei.
Was würde passieren, wenn ich als weiße DJ jetzt Aufnahmen von Navajos anfrage, weil ich denke, dass die einfach gut in meinen Track passen könnten?
Koch: Die würden Sie nicht bekommen. Und selbst, wenn wir Aufnahmen herausgeben, steht in den Verträgen, dass die kommerzielle Nutzung ausgeschlossen ist. Wenn man mit der Community zusammen veröffentlicht, sieht die Situation manchmal anders aus.
Aber rein juristisch sind die Aufnahmen doch rechtefrei?
Koch: Rein juristisch ja. Aber wir haben da ethische Grundlagen, auf die wir uns sehr stark beziehen. Wir wollen explizit nicht einfach alle Aufnahmen online stellen, so wie andere Archive das machen. Für uns ist auch das Urheberrecht, wie es in Deutschland gilt, nicht immer abbildbar in anderen Musikkulturen, oft passt es einfach nicht. Das müssen wir in unsere Überlegungen mit einbeziehen.
Wiedmann: Diese Fragen stellen sich auch für das neue Humboldt Forum. Dort werden die Aufnahmen zum Teil künstlerisch verarbeitet und da müssen wir uns fragen: Bis zu welchem Grad und unter welchen Voraussetzungen können wir das gutheißen? Wir bewegen uns da auf dünnem Eis, machen uns in gewisser Weise angreifbar. Wir können nicht ›einfach so‹ unsere Aufnahmen vorstellen im Humboldt Forum.
Wie werden die Aufnahmen im Humboldt Forum präsentiert?
Wiedmann: In der Dauerausstellung gibt es zwei Orte, die näher auf das Phonogram-Archiv eingehen. Der eine ist eine Medienstation mit eher traditionellem Ansatz: Hier kann man einen Teil des Phonogramm-Archivs hören mit Informationen über das Archiv, die Aufnahmesituationen, die Forschungsgeschichte, die Geschichte der Aufnahmetechnik, Hintergrundinformationen zur Sammlung …
Zweitens ist im Zentrum der Dauerausstellung ein Hörraum geplant, in dem wir mit einem ausgeklügelten Audiowiedergabesystem dreidimensionales Hören ermöglichen. Für diese Anlage lassen wir sogenannte Programme produzieren, zum Teil mit künstlerischem und zum Teil mit dokumentarischem, featureartigen Ansatz. In einem Programm, das bei der Eröffnung gespielt werden wird, geht es zum Beispiel um Aufnahmen von koreanischen Kriegsgefangenen aus dem ersten Weltkrieg. Die Auswahl und das Konzept sind aber den Künstlern überlassen, die mit der Erstellung der Programme beauftragt sind.
Mengel: Im Hörraum geht es darum, experimentell eine kleine Auswahl aus unterschiedlichen Kontexten zu zeigen – also eigentlich das genaue Gegenteil einer Datenbank, bei der man alle Aufnahmen den immer gleichen Kategorien zuteilen muss. Dieses Hörraum-Konzept korrespondiert damit, dass man immer nur einen winzigen Bruchteil einer Musikkultur dokumentiert hat. Wir haben im Phonogram-Archiv zwar oft die ältesten Aufnahmen, aber das ist ja immer nur ein ganz kleiner Ausschnitt der Praxis, die es damals gab. Darum wollen wir hier jetzt individuelle Geschichten erzählen und nicht versuchen, ›eine gesamte Kultur‹ darzustellen. Das geht ja nie.
Von wem haben Sie denn zum Beispiel die ältesten Aufnahmen?
Koch: Es ist die Frage, inwiefern das verifizierbar ist. Aus Argentinien haben wir eine sehr frühe Tango-Aufnahme, wir würden sagen: die früheste. Wieder andere meinen, das sei noch kein echter Tango, da beginnen dann die fachlichen Diskussionen.
Wiedmann: Manchmal haben wir – und auch das ist sehr spannend – gerade nicht die frühesten, sondern die letzten Aufnahmen. Oft ist es so, dass Menschen aus den Herkunftskulturen uns rückmelden, dass die Sprachen auf den Aufnahmen gar nicht mehr gesprochen werden, dass die älteste noch lebende Generation sie aber noch kennt. In Brasilien wurde gerade versucht, so eine Sprache mit Hilfe unseres Archivs wiederzubeleben. Das hat nicht so gut funktioniert, müssen wir ehrlich sagen. Wir haben eine CD produziert mit den Aufnahmen, die infrage kamen. Die CD konnte vor Ort aber gar nicht abgespielt werden, weil es keinen CD-Player gab.
Koch: Einfacher ist es heute meistens, wenn man eine mp3 verschickt, die übers Handy abgespielt werden kann, weltweit – wenn es ein gutes Mobilfunktnetz gibt. Wir haben zum Beispiel auch Aufnahmen der Selk’nam aus Patagonien, von denen es immer hieß, diese Kultur gäbe es nicht mehr. Vor zwei Jahren haben mich dann Kollegen eingeladen und dann standen da auf einmal Selk’nam, die sich wieder darauf zurückbezogen haben, dass ihre Großeltern Selk’nam waren und dort als solche aufgetreten sind. Die arbeiten mit unseren Aufnahmen, um die Sprache wieder zu lernen.
Sind die Herkunft-Communities auch bei der Erstellung der Programme für den Hörraum eingebunden?
Wiedmann: Bei dem Projekt mit den Aufnahmen von koreanischen Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg ist der Klangkünstler in engem Kontakt mit den koreanischen Kollegen, vor allem vom National Gugak Center, die ihrerseits, animiert durch unsere Geschichte, eine Ausstellung zu dem Thema in Korea planen.
Koch: Korea ist auch ein gutes Beispiel für die grundlegende Frage: Arbeiten wir mit den Communities zusammen oder mit nationalstaatlichen Instituten? Die Aufnahmen stammen aus dem damaligen Russland, aus Wladiwostok, und aus Diaspora-Communities, die aus Nordkorea stammten. Heute arbeiten wir mit südkoreanischen Kollegen zusammen, die das Ganze als gesamtkoreanische Geschichte ansehen.

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy plädiert dafür, grundsätzlich davon auszugehen, dass ethnologische Ausstellungsstücke nicht mit der Einwilligung der ursprünglichen Besitzer:innen erworben oder beschafft wurden. Sie spricht von ›asymmetrischen Gewaltverhältnissen‹. Wie ist das bei den Aufnahmen im Phonogramm-Archiv? Viele stammen ja aus kolonialen Kontexten, von Völkerschauen oder aus Kriegsgefangenenlagern.
Mengel: Oft können wir diesen Fragen nicht auf den Grund gehen, weil uns dazu Informationen fehlen. Aber man kann diese Aufnahmen nicht verwenden, ohne sich diese Gedanken zu machen. Aus den Kriegsgefangenenlagern gibt es Berichte, dass die Leute dort freiwillig und sogar gerne Musik aufgenommen haben. Aber was bedeutet ›Freiwilligkeit‹ in so einem Lager? Auch Völkerschauen waren sehr unterschiedlich gelagert. Es gab in Berlin noch eine solche Schau nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch bei dieser Völkerschau klassifizieren wir viele Aspekte aus heutiger Sicht als rassistisch, aber die ausgestellten Menschen wurden dort nicht hingezwungen wie vor dem Zweiten Weltkrieg.
Koch: Auch innerhalb der Völkerschauen haben Sie so etwas wie ein Hierarchiegefälle. Ein Hoforchester aus Siam ist anders behandelt worden als Menschen zum Beispiel aus Patagonien. Es gab auch klare Geschäftsbeziehungen, die Ausgestellten haben die Schau zum Teil als Vorteil gesehen. Diese manchmal graduellen Unterschiede auszudifferenzieren, ist für uns sehr wichtig.
Forschungsaufnahmen können in ganz klar kolonialen Kontexten gemacht worden sein, in denen Leute unter Druck gesetzt wurden, ganz deutlich haben wir das zum Beispiel in Namibia. Es gibt aber auch die Situation, dass Forscher, zum Beispiel in Peru, lange vor Ort gelebt haben. Dort liefen solche Aufnahmen eher nebenbei.
Außerdem gab es die sogenannten ›Aufnahmeexpeditionen‹ von kommerziellen Anbietern, gerade auch aus Berlin, die ganz gezielt rund um die Welt Aufnahmen gemacht haben. Dabei hat man die Aufgenommenen bezahlt, das Ganze stammt aber trotzdem aus einem kolonialen Kontext. Es gibt Aufnahmen mit einer Musikerin aus Indien von 1902, die sehr gut dafür bezahlt wurde und sich danach von dem Geld ein Haus kaufen konnte. Da muss man dann schauen: Wie stark ist der Gewaltkontext? Sie hat die Aufnahmen in einem Umfeld machen müssen, in dem sie normalerweise nicht aufgetreten wäre, einem Theater. Das Herausreißen der Aufnahmesituation allein kann schon ein Gewaltkontext sein. Andererseits hat sie selbstbestimmt diese Aufnahmen gemacht und viel Geld dafür fordern können. Oft waren die Leute vor Ort solche starken Persönlichkeiten, die sehr genau wussten, was sie tun, die die Situation einschätzen konnten. Darum sind die genauen Untersuchungen wichtig.
Im Deutschlandfunk Kultur meinten Sie, Herr Koch, neulich, dass die Debatte um Raubkunst die Ethnologie als Fach dazu bringt, neue Perspektiven auf die eigene Geschichte einzunehmen. Hat diese Debatte auch Auswirkungen auf die Musikethnologie?
Koch: Meiner Meinung nach spielt eine große Rolle, was wir in der gesamten Debatte aktuell sehen: Es wird immer von Kunstwerken gesprochen. Die meisten Objekte sind aber nicht per se als Kunstobjekte hergestellt worden. Ähnlich ist das im Bereich der Diskussionen um die Musikaufnahmen.
Für mich ist in diesem Kontext die wichtigste Frage: Wer darf in Zukunft dieses kreative Wissen nutzen? Das gilt für Musik wie auch kreative kulturelle Leistungen wie Webmuster. Wir würden uns solche Leistungen heute schützen lassen.
Wiedmann: Der Aspekt, der mich momentan am meisten umtreibt, ist das Nachdenken über die Rolle des Archivs. Sagt dieses Archiv nicht mehr über die Sammler selbst aus als über die, die gesammelt worden sind? Auch die Frage nach Kontinuitäten stellt sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Sammlungsstrategien zum Beispiel überhaupt nicht geändert.
Mengel: Die Rolle von uns als Musikethnologen wandelt sich immer. Früher war die Aufgabe von Musikethnologen vor allem, das Material der Öffentlichkeit zu erklären. Man glaubte, man wäre mit den Aufnahmen auch in Besitz des Wissens. Heute versuchen wir, uns abzuschaffen und anderen das Sprechen zu ermöglichen, Menschen vor Ort. Dieser Gedanke ist gar nicht neu, wenn wir die Geschichte des Faches betrachten. Alle 10 Jahre scheint er wieder neu hochzukommen, auch mit den immer gleichen Vokabeln: Deutungshoheit, Dialog auf Augenhöhe. Aber ich denke, heute können wir das besser einlösen als vor 20 Jahren.
Koch: Wir sammeln außerdem ja auch weiter, nicht nur die historischen Aufnahmen, wir sind ein lebendes Archiv. Heute sammeln wir unter anderen Bedingungen, mit anderen Zielrichtungen und Strategien. Heute sammeln Communities sich oft selbst. Unser Ziel ist, uns dort einzubinden. Auf Forschungsreisen sehe ich bei allen Musikveranstaltungen immer Handys, Aufnahmegeräte … Das Netzwerk besteht. Wir müssen es heute schaffen, die Sammler zu sammeln. ¶