Vom Theatre Royal in Irlands Hauptstadt Dublin gab es – erstaunlich – insgesamt fünf Versionen. Der erste Theaterbau wurde 1662 für den Spielbetrieb eröffnet. Exakt 400 Jahre später – die Menschen schauten lieber in die »Röhre« statt ins Theater zu gehen – wurde die fünfte Variante des Gebäudes abgerissen. Der dritte Theaterbau brannte am 9. Februar 1880 vollständig ab. Eine Gasleitung wurde nicht sachgemäß verschlossen. Das austretende Gas entzündete sich, als bei einer Probe die Bühnenbeleuchtung angeschaltet wurde. Der Geschäftsführer des Theaters kam bei seinem Löschversuch ums Leben. (Bis heute ist es – abergläubisch besetzt – Usus, innerhalb von Theatergebäuden nicht zu pfeifen, da so das Pfeifen einer gerade ausgehenden Gaslampe oder das Warnsignal aufgrund unkontrolliert ausströmenden Gases übertönt werden könnte.)
Am 24. Oktober 1880, also ungefähr acht Monate nachdem das dritte Theatergebäude abgebrannt war, wurde Mary Frances Dorothée Dickenson in Dublin geboren – als drittes von vier Kindern von Mutter Mary Frances MacDonnell und Vater Augustus Maximilian Newton Dickenson, einem Mediziner (der bereits 1883 starb). Von einem Dubliner Vorort zog man als Familie ohne Vater nach Wiesbaden. Die Gründe für diesen Umzug sind nicht sofort ersichtlich, man liest lediglich, die Witwe Dickenson hätte sich dort »ein unkonventionelleres Leben erhofft« (Ausstellungskatalog: Verborgene Frauen. 16 Biografien von Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, Linz 2004, S. 11). Möglicherweise hatte Vater Augustus Maximilian Newton Dickenson – die beiden Vornamen könnten dies andeuten – deutsche Vorfahren.
In Wiesbaden erhielt die junge Mary Dickenson auf eigenen Wunsch und nach wiederholten Kämpfen hin Unterricht an der Violine. Dickenson geriet mit ihrer Mutter und dem neuen Vormund der Familie in einen Streit. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Großvater Sir Hercules MacDonnell, dem Mitbegründer der Royal Irish Academy of Music in Dublin. Man schickte Mary Dickenson zunächst auf ein Internat nach Düsseldorf, wo kein qualifizierter Instrumental- und Theorieunterricht angeboten wurde. Offenbar zog es ihre Mutter bald wieder zurück auf die britische Inselgruppe. Mary Dickenson folgte ihr und begann 16-jährig ein Geigenstudium am Konservatorium von Croydon in London bei der PoC Samuel Coleridge Taylor (1875–1912), der auch und vor allem als Komponist tätig war (und trotz frappierend moderner, erfrischender und einfallsreicher Musik heute so gut wie vergessen ist). Wahrscheinlich erhielt Mary Dickenson auch Kompositionsstunden bei Taylor – und ohnehin entstand ein hervorragendes Schülerin-Lehrer-Verhältnis zwischen den beiden. Dickenson führte an der Violine entsprechende Werke Taylors auf und Taylor widmete ihr verschiedentlich eigene Kompositionen. In dieser Zeit wird Dickensons große Kompositionsleidenschaft geweckt worden sein.
Nach einem kurzen Intermezzo in Dublin schrieb sich Mary Dickenson an der Royal Academy of Music in London ein. Hier war von 1899 bis 1902 Émile Sauret (1852–1920) ihr Kompositionslehrer. Saurét, ein sehr anerkannter Geiger, schrieb sich selbst virtuose Violinwerke »in die Hand« und war von 1873 bis 1875 mit der venezolanischen Komponistin und Pianistin Teresa Carreño verheiratet gewesen. Gleichzeitig entdeckte Dickenson in dieser Zeit ihre – neue – Leidenschaft für die Orgel. 1903 wechselte Sauret nach Chicago, woraufhin Dickenson für zwei Jahre zum Studium bei Otakar Ševčík (1852–1934) nach Prag ging. Ševčík galt als »Etüden-Meister« – und Dickensons Ansinnen war es tatsächlich, die Technik ihrer linken Violin-Griffhand bei ihm zu optimieren.
Ab 1906 tourte Dickenson für fast zehn Jahre als erfolgreiche Solo-Geigerin durch Europa. Nach einem zeitweiligen Wohnsitz in Berlin ließ sich die Künstlerin ab 1909 in Wien nieder. 1913 heiratete sie den Diplomaten Michael Auner. Dieser stammte vermutlich aus Rumänien und zog nach der Heirat mit Mary Dickenson zwischenzeitlich ins siebenbürgische Sibiu (Hermannstadt). Hier kamen auch die zwei Kinder Dickenson-Auners zur Welt. 1917 wurde ihr Ehemann zum Militärdienst eingezogen. Mary Dickenson-Auner floh daraufhin mit ihren Kindern über Wien in eine ländliche Region in den Niederlanden.
Erst 1920 wurde die Familie Dickenson-Auner wiedervereinigt. Mary Dickenson-Auner konnte ihre Laufbahn als Geigerin fortsetzen und spielte beispielsweise den Violinpart (am Klavier: der legendäre Pianist Eduard Steuermann) bei der Österreichischen Erstaufführung von Béla Bartóks Sonate für Violine und Klavier No. 1 op. 21 1922 in Wien. Wenige Jahre später beschäftigte sich Dickenson-Auner vor allem mit der Entwicklung innovativer violinpädagogischer Inhalte, um junge Musiker:innen in Wien altersgerecht an das Geigenspiel heranzuführen.
Während des Zweiten Weltkrieges erhielt Dickenson-Auner – aufgrund ihrer britischen Herkunft – ein Auftrittsverbot. Nach einer einvernehmlichen Scheidung von ihrem Ehemann 1934 fokussierte sich Dickenson-Auner nun, auch aufgrund des Spielverbots, auf das Komponieren. Mit gutem Erfolg wurden ihre Werke nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeführt und auch wiederholt vom Österreichischen Rundfunkt gesendet.
Mary Dickenson-Auner verstarb am 25. Mai 1965 mit 84 Jahren in Wien.
Mary Dickenson-Auner (1880–1965)
Irish Symphony op. 16, 1. Satz: Andante (1941)
Dickenson-Auner pflegte engen Kontakt zu einigen der wichtigsten Musikavantgardist:innen ihrer Zeit und war unter anderem Mitglied in Schönbergs geschichtsträchtigem »Verein für musikalische Privataufführungen«. Außerdem war sie als Dichterin und Librettistin aktiv. Entsprechend komponierte Dickenson-Auner viele Kammermusikwerke, aber auch zwei Oratorien, fünf Symphonien und drei Opern.
Ihre irische Herkunft ließ Mary Dickenson-Auner – ganz bewusst inszeniert und voller Stolz – gleich aus mehreren ihrer Werke hinübertönen, so auch aus der bis heute auf Konzertprogrammen vereinzelt auftauchenden Irish Symphony op. 16 aus dem Jahr 1941.
Über einer eingedunkelten Grundfläche spielt sich eine Oboe frei, die durchaus trübe Atmosphäre nicht zu ernstnehmend. Tatsächlich switcht die Grundstimmung nach einem engschrittigen Gang nach unten seitens der Streicher schnell um, eine Klarinette als Übergangstool nutzend. Die vermeintlich durch und durch tonale Gesamtsituation wird durch eine schön angeschrägte, schönbergisch-verhangene Avantgarde-Insel absolut interessant umgedeutet. Gewisse Streicherseligkeiten tauchen nun auf, wiederum den Charakter der Musik anders deutend. Entsprechend geht es weiter. Viele (irische) Inseln werden hörbar, fühlbar, erlebbar… Eine sehr lohnenswerte, völlig unerhörte Musik: lebendig, unterhaltsam, witzig, avantgardistisch, harmonisierend, großartig. ¶