VAN: WARUM HAT GEORG PHILIPP TELEMANN EINEN EHER SCHLECHTEN RUF ALS ›VIELSCHREIBER‹?
Ralph-Jürgen Reipsch: Den Begriff des Vielschreibers hat Telemann im 19. Jahrhundert erhalten. Aber auch Haydn hat viel komponiert, Mozart hätte vermutlich ebenso viel wie Telemann komponiert, wenn er länger gelebt hätte. Wäre er auch unter das Verdikt des Vielschreibers geraten? Das 19. Jahrhundert ist ohnehin sträflich mit Telemann umgegangen. Man hat – ohne sich die Mühe zu machen, in die vielen überlieferten Werke hineinzuschauen – einmal geäußerte Negativurteile immer wieder völlig unkritisch voneinander abgeschrieben und es hat sich daraus ein Negativexzess herausgebildet, der noch heute nachwirkt. Die Tatsache, dass Telemann ein so großes Oeuvre hinterlassen hat, ist wohl Teil dieses Problems. Es ist zu groß, um sich schnell mal ein Bild zu machen. Da ist es einfacher, unreflektiert Meinungen zu kolportieren. Man sollte diese alten Lexikonartikel daher heute einfach beiseitelassen und sich ein eigenes Urteil bilden. Glücklicherweise gibt es heute viele gute Aufnahmen von Telemann-Werken – teils als Zyklen angelegt, wie beispielsweise die Einspielungen der Violinkonzerte oder der Bläserkonzerte, aber auch die Oratorien und die Kirchenmusik sind in den vergangenen 20 Jahren immer präsenter geworden. Ich habe den Eindruck, dass viele Musiker heute ›ihren Telemann‹ für sich entdeckt haben, die Rezipienten und auch die Musikwissenschaft scheinen den Interpreten im Erkenntnisprozess manchmal noch etwas ›hinterherzuhinken‹, aber auch da ist vieles in Bewegung. Ohne Telemann so etwas wie einen Heroenkult anzuwünschen, denn das hat er wirklich nicht verdient, glaube ich aber sagen zu können: Sein Werk ist im Kommen.
WAR TELEMANN WIRKLICH SO EIN FLEISSIGER KOMPONIST?
Ja, das war er durchaus. Er begriff schon früh, dass er eine unglaubliche musikalische Begabung besitzt, die er als eine Art Gottesgeschenk sah und mit der er einfach wuchern musste. Und das hat er sein ganzes Leben lang getan. Es gibt keine musikalische Werkgattung der Zeit, die er nicht bearbeitet hätte, die er nicht auch mit mustergültigen Exempeln zu verbessern oder zu entwickeln versucht hat. Im Bereich der Kirchenmusik – dem umfangreichsten Schaffensbereich – hat er bedeutsame Spuren hinterlassen. Ein Beispiel ist die Entwicklung des Kirchenmusiktypus, den wir heute landläufig und nicht ganz korrekt als ›die‹ Kirchenkantate, besser aber als ›gemischt madrigalische Kantate‹ bezeichnen. Zusammen mit dem wohl wichtigsten kirchenmusikalischen Dichter, dem Theologen Erdmann Neumeister, hat er um 1710 den Jahrgang ›Geistliches Singen und Spielen‹ vorgelegt, mit dem er einerseits diese Form festschrieb, die aus Rezitativen, Arien, Bibelsprüchen und Kirchenliedern besteht, und andererseits zugleich eine unglaubliche Vielfalt der Möglichkeiten in der musikalischen Umsetzung der geistlichen Dichtung repräsentierte – sozusagen als kirchenmusikalisches ›Musterbuch‹ oder ›Referenzopus‹. Er war also nicht nur fleißig, sondern auch innovativ!
WARUM HALTEN MANCHE TELEMANNS MUSIK FÜR HARMLOS?
Ich weiß nicht so recht, was unter ›harmloser Musik‹ zu verstehen ist. Falls damit gemeint ist, dass eine solche Musik weitgehend wirkungslos wäre, dann umschreibt der Begriff so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Telemanns Musik ausmacht. Seine Musik sollte etwas bewirken bei den Musikern – und vor allem auch bei den Hörern: Das war sein Ziel, darauf war alles angelegt. Sie sollte in die Öffentlichkeit wirken. Telemann hat versucht, seine Hörer durch eine große Variabilität, Kurzgliedrigkeit in der Melodik, durch einen abgemessenen Wechsel der Affekte, der Satztechniken, der gebotenen Textverständlichkeit und so weiter aufmerksam zu machen – und vor allem aufmerksam zu halten! Das kann man heute meines Erachtens im Selbstexperiment noch nachvollziehen. Eine Voraussetzung ist, dass seine Musik gut interpretiert wird. Und natürlich muss sich der heutige Hörer auf Telemanns im ersten Moment manchmal vielleicht ungewohnt erscheinende Musik einlassen wollen. Die Bereitschaft muss da sein, die Neugierde. Telemann klingt nun einmal anders als die Musik von Vivaldi, Bach oder Händel, für die wir bereits gewisse Hörgewohnheiten ausgeprägt haben.
WAS WAR TELEMANN FÜR EIN TYP?
Er war ein homme galante, wahrscheinlich ein Sanguinicus, obgleich er in seiner Kinderzeit melancholische Züge gehabt haben soll. Auf jeden Fall ein geistvoller und kommunikativer Mann, der viele Sprachen beherrschte, vor allem das Französische. Er kannte sich in der Literatur der Zeit gut aus und unterhielt ein riesiges Korrespondenz-Netzwerk in ganz Deutschland und darüber hinaus. Er war ein gläubiger Christ – stammte ja aus einer Pfarrersfamilie – und sah sein Hauptbetätigungsfeld in der Kirchenmusik. Aber er hat keinen Widerspruch darin gesehen, auch Opern zu schreiben.
Musikalisch gesehen war er mit einem großen wie angemessenen Sendungsbewusstsein versehen, er wusste mit der ihm von Gott verliehenen Begabung umzugehen. Sein Ziel war, dem Nächsten zu nutzen und ihn zu ›ergötzen‹ und er sah seine Musik in guter lutherischer Tradition als Lob Gottes.
Telemann verstand hervorragend mit der Feder umzugehen. Aus seinen Briefen und anderen Texten ist zu entnehmen, dass er ein sehr feines Gespür für Ironie und Satire besaß. Ich kenne keine verletzenden Äußerungen bei seiner Kritik an anderen: Das ist alles fein dosiert verpackt in Doppeldeutigkeiten, die dem Angesprochenen – so er Gespür dafür besaß – reichlich Anlass zum Nachdenken bot. Wie gesagt, er war ein gebildeter homme galante und somit ein Mann der Diplomatie und kein cholerischer Dickschädel.
HATTE TELEMANN EIN FRAUEN-PROBLEM?
Ich weiß nicht, warum er ein Problem mit Frauen gehabt haben soll. Wenn man seine Autobiographien genau liest, so erkennt man, dass er seine übrigens sehr musikalische Mutter überaus verehrt hat.
Man lese auch sein wunderbares Trauergedicht auf den Tod seiner ersten Frau, die nach der Geburt des ersten Kindes im Kindbett starb. Da tritt einem eine echte, wahrhafte Trauer entgegen, die einem noch heute schier das Herz zerreißen möchte. Der Tod seiner geliebten Louise war ein existenzieller Verlust für ihn.
Über die dann offenbar nicht so glückliche zweite Ehe kennen wir eigentlich nur die Äußerungen aus der Gerüchteküche der Zeit. Das ist für einen Historiker schlecht zu greifen. Fakt ist wohl, dass seine Frau Maria Catharina in Hamburg Schulden gemacht hat, die dann um 1736 eine Trennung von Tisch und Bett bewirkt hat. Nach der damaligen Rechtssprechung war eine Scheidung im heutigen Sinne de facto so gut wie unmöglich. Sie ist dann später zurück in ihre Heimatstadt Frankfurt am Main gezogen und dort bis zum Lebensende geblieben.
Als Telemann sie 1714 in Frankfurt heiratete, war sie ungefähr 17 Jahre alt. Sie war in Frankfurt gut sozialisiert. Sie scheint sich zunächst erfolgreich dagegen gesträubt zu haben, die Stadt zu verlassen, als ihr Mann erwog, wieder zurück nach Thüringen zu gehen. Sie musste ihm dann aber 1721 nach Hamburg folgen, in eine Stadt, die sie möglicherweise in ihrer Lebendigkeit und Andersartigkeit überforderte. Eine völlig andere Mentalität schlug ihr dort entgegen. Sie musste überdies zehn Kinder großziehen, eine Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes und neun eigene Kinder, von denen viele dann allerdings das Erwachsenenalter nicht erreichten. Auch hatte sie einen sicher viel besuchten Haushalt mitsamt der Angestellten zu führen. Das wird zweifellos nicht so einfach gewesen sein. Was zwischen Maria Catharina und Georg Philipp konkret vorgefallen ist, wissen wir nicht, darüber sollte man auch nicht spekulieren.
Noch eine Anmerkung zu Telemanns Frauenbild. Erstaunt war ich vor einigen Jahren, als ein Dokument bekannt wurde, nach dem Telemann um 1753 eine Kompositionsschülerin unterrichtet haben soll, eine ›Mademoiselle Schulz‹. In einem Gottesdienst hat Telemann eine Kirchenmusik aus ihrer Feder aufgeführt, die leider nicht mehr erhalten ist. Und dies sieht mir nun nicht nach einem ›Problem‹ mit dem weiblichen Geschlecht aus, sondern könnte vielmehr auf sehr moderne, wenn sie so wollen ›aufgeklärte‹ Umgangsformen hinweisen.
TELEMANNS LUKAS-PASSION (1744) WIRD IN DEN LETZTEN JAHREN IMMER HÄUFIGER AUFGEFÜHRT. WAS UNTERSCHEIDET DIE LUKAS-PASSION STILISTISCH VON DEN BEIDEN GROSSEN PASSIONEN VON JOHANN SEBASTIAN BACH?
Nicht nur die Passion von 1744 wird heutzutage aufgeführt, auch andere Passionsmusiken. Es sind heute alle 23 erhaltenen Evangelien-Passionen sowie die Passionsoratorien nach freien Dichtungen ediert oder zumindest als Aufführungsmaterial greifbar. Telemanns Passionen nach den vier Evangelisten sind in der Regel kürzer und prägnanter als die Bachs, sie waren den liturgischen Gegebenheiten und Anforderungen in den Hamburger Kirchen angepasst, die auf eine lange Passionstradition zurückblicken konnten. Sie sind durchaus vom theatralischen Stil der Oper beeinflusst. Es ging Telemann dabei vorrangig um eine affektiv unterstützte Verdeutlichung des Passionsgeschehens, wodurch letztendlich die Herzen und Köpfe der Gottesdienstbesucher erreicht werden sollten. Dabei sind die zwischen 1722 und 1767 entstandenen Passionen durchaus auch einem stilistischem Wandel unterzogen gewesen, der sich einerseits in der Konzeption der Libretti und der Stellung und inhaltlichen Aussage der freien Dichtung zeigt, also anhand der Arien, Accompagnati und Chöre. Andererseits lässt sich seit den 1740er und 50er Jahren auch ein musikalischer Wandel hin zum so genannten empfindsamen Stil feststellen. Man kann also sagen, dass es auch bei den Passionen Telemanns eine große stilistische und formale Vielfalt gibt. Es ist meines Erachtens eigentlich für jeden Kirchenmusiker, der sich heute mit der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt, ein Muss, sich auch einmal mit dieser Werkgruppe Telemanns zu befassen, die in der damaligen Zeit durchaus beispielhaft war. Es ist einfach gute Musik.
BESTEHT DIE MÖGLICHKEIT, DASS NOCH MEHR BISHER UNBEKANNTE MUSIK VON TELEMANN AUFTAUCHT?
Das geschieht durchaus noch. Vor einigen Jahren habe ich plötzlich neun unbekannte Flötenduette in die Hand bekommen, die ich inzwischen auch ediert habe. Vor kurzer Zeit tauchte der verschollene Druck von Telemanns Gamben-Fantasien auf. Gerade ist eine bis vor wenigen Jahren unbekannte Altonaer Festmusik von 1760 auf CD erschienen. Das sind dann schon Sternstunden für Musikwissenschaftler und Musiker.
Ein sehr wichtiges Ereignis war 1999 die Wiederentdeckung des Notenarchivs der Sing-Akademie zu Berlin in Kiew. Dort tauchten viele verschollen geglaubte Telemann-Quellen wieder auf, darunter 62 dort singulär überlieferte Kompositionen.
Es gibt aber auch Fälle, bei denen Werke, die man Telemann bislang zugeschrieben hatte, als Kompositionen anderer identifiziert werden. Vor etwa einem Jahr musste ich eine recht schöne Ostermusik aus dem Telemann-Werkverzeichnis streichen und dem Magdeburger Domorganisten Georg Tegetmeyer sozusagen wieder »zurückgeben«. Sie sehen, es sind nach wie vor Überraschungen in beiden Richtungen zu erwarten. ¶