Nach Whats-up-Folgen über Mahler, Brahms, Saint-Saëns, Schumann, Wagner, Telemann, Webern, Tschaikowsky und Strauss fragen wir heute: Wissen wir zu wenig über Gabriel Fauré (1845–1924)? Und gibt es gar Neuigkeiten aus dem Bereich der Forschung? Das beantwortet Nicolas Southon, der Chefredakteur der Fauré-Gesamtausgabe, die im Bärenreiter-Verlag erscheint.

Nicolas, wirst du böse, wenn Leute zu dir sagen: ›Fauré? Ich kenne nur seine Pavane…‹?

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Ja, ich werde sehr wütend und möchte dann mit demjenigen eigentlich kein Wort mehr wechseln! (lacht) Nein, natürlich nicht. Aber ganz ehrlich: Wenn jemand sagt, er kenne nur die Pavane, dann weiß er eigentlich überhaupt nichts über Fauré! Und oft höre ich Dinge wie: ›Ich liebe die Pavane aus der Werbung für X oder Y!‹ – meistens für ein Parfüm, für ein Modelabel, jedenfalls fast immer für etwas Edles und Protziges. Andererseits kennt so jemand, der wenigstens weiß, dass die Pavane op. 50 (1887) von Fauré stammt, in der Regel auch andere Werke von ihm, mindestens noch das Requiem op. 48 und ein paar Lieder, wie Après un rêve op. 7 Nr. 1, Les berceaux op. 23 Nr. 1 oder Les Roses d’Ispahan op. 39 Nr. 4. Aber du hast recht: Die meisten Menschen kennen nur wenig von Fauré – und wenn, dann immer die gleichen Werke. Das ist bei vielen Komponisten so. Aber speziell bei Fauré wird es zu einem echten Problem, denn seine Stilistik hat sich im Laufe seines Lebens ganz erstaunlich gewandelt. Stell dir vor, von Richard Wagner würden alle nur den Rienzi kennen: Das wäre doch schade, oder? Obwohl natürlich auch der Rienzi seine Vorzüge hat…

Du bist der Chefredakteur der kritischen Gesamtausgabe von Faurés Werken. Hast du nach der sehr intensiven musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Noten Faurés auch jetzt ein konkreteres Bild seines Charakters?

Ich mache das ja zusammen mit dem Editionsleiter Jean-Michel Nectoux. Das Ganze wird seit 2010 bei Bärenreiter herausgegeben. Und das ist eine sehr aufregende und wichtige Arbeit. Ja, wir kennen Fauré jetzt sehr gut, vor allem Dank Jean-Michel, der schon seit fünfzig Jahren in der Fauré-Forschung tätig ist. Er hat sogar einige Personen getroffen, die Fauré noch persönlich erlebt haben, so zum Beispiel seinen ersten Sohn Emanuel und seine Schwiegertochter Blanche Fauré-Fremiet, Nadia Boulanger, die Faurés Schülerin war, den Geiger Robert Krettly, der Faurés erstes Streichquartett uraufführte und noch vor den Augen von Marcel Proust musizierte, die Sängerin Madeleine Grey und ihren Kollegen Charles Panzéra, der Faurés Liederzyklen Mirages op. 113 und L’Horizon chimérique op. 118 uraufführte und viele andere mehr. In all diesen Jahren hat Jean-Michael die ganze Welt bereist, um alle Quellen in privaten Sammlungen und öffentlichen Bibliotheken einzusehen. All das hat ihm ermöglicht, sich ein einzigartiges und umfassendes Bild von Fauré zu machen. Er hat eine wichtige Biographie geschrieben, Faurés Briefwechsel veröffentlicht, viele Artikel geschrieben und so weiter. Ich bin sehr glücklich, dass ich mit ihm zusammenarbeiten darf. Wir beenden jetzt gerade die Arbeit an dem ›Fauré-Katalog‹, also quasi dem Köchelverzeichnis für Fauré. Doch um deine Frage zu beantworten: Ja, ich habe jetzt ein sehr präzises Bild von Faurés Persönlichkeit. Er war sensibel, freundlich, integer und blieb bescheiden, auch als er später in seinem Leben mit zahlreichen Ehrungen bedacht wurde. Er war nie ein Karrierist und sich trotz seiner Bescheidenheit, fernab jeglicher Hochnäsigkeit, durchaus der Bedeutung seiner eigenen Musik bewusst.

Was ist an Faurés Musik einzigartig?

Das ist eine schwere Frage, vor allem, weil es komplexer als bei anderen Komponisten ist, über Faurés Musik zu reflektieren. Seine Musik ist schwer zu fassen, schwer zu beschreiben – und voller verschiedener Temperamente. Nehmen wir als Beispiel sein Requiem: Auf der einen Seite ist es tiefgründig und himmelsgleich, bewegend und ernst, aber doch fern von überbordender Feierlichkeit oder Trauer. Fauré selbst hat sein Requiem  berceuse de la mort, also Wiegenlied des Sterbens genannt – und diese Komplexität der Gefühle bei ihm ist es, die viele seiner Werke kennzeichnet. Faurés Musik ist einzigartig, weil man sie kaum beschreiben kann. Sie hat eine Leichtigkeit an sich – und zwar in der Art, wie sie gemacht ist und wie wir sie aufnehmen. Andererseits ist sie voller Inbrünstigkeit, in ihrer Stimmung, ihren harmonischen Linien und in ihrer komplexen Machart. Es ist bei ihm schwer, Klischeeformulierungen wie ›Klarheit‹, ›Feinheit‹ und ›Charme‹ zu vermeiden. Diese Ausdrücke entsprechen zwar nicht der Komplexität des Ganzen, sind wiederum aber auch nicht ganz falsch.

Ist es in Ordnung, angesichts von Werken wie den späten Barkarolen für Klavier von einer ›angenehmen Merkwürdigkeit‹ bei Fauré zu sprechen?

›Merkwürdigkeit‹, zweifellos. Gerade, was seine letzte Schaffensphase anbelangt. Eine Schaffensphase voller Meisterschaft und voller neuer Perspektiven, mit sehr speziellen und komplexen Vorgängen in Tonalität und Modalität. Andererseits würde ich von ›angenehm‹ gar nicht einmal sprechen! Ich meine, Faurés Musik ist nicht in dem Sinne ›angenehm‹ als dass sie ›leicht zugänglich‹ wäre. Der Hörer muss schon etwas beitragen, eine Leistung vollbringen – wie beim späten Beethoven, wenn dieser Vergleich erlaubt ist. Die Musik der späten Schaffensphase Faurés wird häufig als ein bisschen herb, kompliziert und wunderlich betrachtet – und so kommt es, dass viele Hörer gar nicht weiter vordringen als zu Faurés zweiter Schaffensphase. Natürlich liebe ich die früheren Klavierwerke von ihm, die zweite und vierte Barkarole: sehr charmante Musik mit herrlichen Harmonien. Besonders liebe ich aber die letzten Stücke dieser Art, die Barkarole Nr. 11: sehr kraftvoll, fast aggressiv, unerbittlich und in ihrem ganz merkwürdigen Charakter voller eindrucksvoller Meisterschaft im Komponieren für das Klavier. Ein wahrer Fauré-Liebhaber weiß, wie einzigartig dessen Spätwerke sind.

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Du hast von den späten Ehrungen Faurés gesprochen. Er Hatte auch sehr bedeutende Ämter inne, so war er von 1905 bis 1920 Direktor des Pariser Konservatoriums, wo Damals Claude Debussy und Maurice Ravel – mit beiden hatte er ja eine Menge zu tun – studierten. War Fauré auch ein guter ›Musikpolitiker‹?

Fauré war in der Zeit von 1896 bis 1905 ein sehr angesehener Kompositionsprofessor. Seine besten Studenten waren Maurice Ravel, Florent Schmitt, Alfredo Casella und George Enescu. Fauré hatte früh die Pariser Schule für Kirchenmusik von Louis Niedermeyer besucht, ging aber selbst nie auf das Pariser Konservatorium. Deshalb war es eine ziemliche Überraschung, als er dort 1905 Direktor wurde. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass er wirklich ein ›Musikpolitiker‹ war. Denn so etwas hätte nicht zu ihm gepasst. Fauré war in mittelständischen Verhältnissen am Rande der Pyrenäen – also weit weg von Paris – aufgewachsen und hatte eine solche institutionelle Karriere vermutlich nie bewusst angestrebt. Dass er von Camille Saint-Saëns allerdings früh unterstützt wurde, darüber war er sehr glücklich. Saint-Saëns war sein Lehrer im École Niedermeyer und beide wurden enge Freunde. Dank Saint-Saëns, der das entsprechende Amt von 1858 bis 1877 bekleidet hatte, wurde Fauré 1896 Titularorganist an der Pfarrkirche La Madeleine in Paris. Diese sehr noble Kirche liegt im 8. Arrondissement, in dem sich auch der präsidiale Élysée-Palast befindet. Dieses eminent wichtige Organistenamt öffnete Fauré viele Türen in der High Society von Paris. Saint-Saëns wirkte außerdem bei der Einsetzung Faurés als Konservatoriumsdirektor mit. Fauré wurde damit auch quasi gleichzeitig Mitglied der Académie des Beaux-Arts in Paris.

Beide erwähnten Komponisten – Debussy und Faurés Schüler Ravel – arbeiteten sich ja auf ihre Weise an Richard Wagner ab, vor allem Debussy voller Hassliebe… Was hatte Fauré selbst für eine Haltung zu Wagner?

Wie alle Komponisten dieser Zeit, insbesondere die französischen, war Fauré fasziniert von Wagner. Er reiste mehrmals nach Bayreuth und mit seinem Freund André Messager improvisierte er in den Salons höherer Kreise Tänze aus Ring-Leitmotiven auf dem Klavier. Später gaben die beiden diese Improvisation sogar als gedruckte Komposition heraus: die sehr komischen Souvenirs de Bayreuth. Ähnliches hatte Emmanuel Chabrier zuvor mit Wagners Tristan angestellt. Die Faszination für und der Respekt vor Wagner hinderte die französischen Komponisten also nicht, sich über ihn und seine Musik lustig zu machen. Wagner war derart präsent, die Franzosen mussten sich einfach an ihm abarbeiten! Fauré ist dabei einer der wenigen Komponisten zu dieser Zeit, die nicht sonderlich stark von Wagner beeinflusst waren. Anders als beispielsweise Ernest Chausson, aus dessen Werken Wagner manchmal fast zu stark herausklingt, wohingegen Debussy quasi aus der bewussten Anti-Haltung zu Wagner erst zu seinem Personalstil fand. Fauré ging dagegen einfach seinen eigenen Weg. Dieser Weg wäre vermutlich selbst dann so verlaufen, wie er verlief, hätte Wagner nie existiert. Und genau das können wir über Chausson und Debussy eben nicht sagen. Diese verschiedenen Haltungen zu Wagner kann man aber auch ganz einfach mit den Geburtsjahren der drei Komponisten erklären: Fauré wurde 1845, Chausson 1855 und Debussy 1862 geboren. Fauré war schon ein eigenständiger – wenn auch noch junger – Komponist, als Wagners Name erstmals so richtig auffiel in Frankreich. Chausson stand vollkommen unter dem Einfluss des Bayreuther Meisters. Debussy zunächst ebenfalls, doch konnte er, wenn ich das so ausdrücken darf, die französische Musik von Wagner befreien. Und selbst in Faurés Musik taucht Wagners Einfluss dann und wann auf, so beispielsweise in der Schauspielmusik zu Pelléas et Mélisande aus dem Jahr 1898. Das am meisten von Wagner beeinflusste Werk Faurés ist allerdings ganz klar seine Oper Pénélope (1907–1912). Schon aus dem Vorspiel zum ersten Akt tönt Wagner heraus. Zu dieser Zeit war es einfach sehr schwierig, ein ›Musikdrama‹ zu schreiben, ohne die ganzen ›Rezepte‹ Wagners zu verwenden und dabei kein bisschen wie Wagner zu klingen.

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Sind alle Werke Faurés überliefert oder ist es möglich, dass plötzlich noch neue Werke von ihm auftauchen?

Es sind bereits unbekannte Werke von ihm wiederentdeckt worden. In einem von Peter Jost betreuten Band unserer Gesamtausgabe haben wir das verworfene Allegro aus dem Violinkonzert op. 14 und in einem anderen, von Robin Tait verantworteten, die Orchestersuite F-Dur op. 20 aufgearbeitet. Und es gibt noch eine Reihe weiterer neuer Fauré-Werke zu entdecken. Momentan bereiten wir gerade einen Band mit Klaviermusik vor, herausgegeben von Jean-Pierre Bartoli, in dem einige Stücke zum ersten Mal überhaupt erscheinen werden. Eines dieser Werke, die Klaviersonate Faurés, wurde gerade von dem Pianisten Nicolas Stavy in Paris uraufgeführt und wird auch bald auf CD zu hören sein. Die Sonate entstand zu der Zeit, in der Fauré im École Niedermeyer studierte. Das Ganze ist irgendwo zwischen Mozart, Haydn und Beethoven angesiedelt. Natürlich nur ein Art Stilübung, aber trotzdem ein sehr feines Stück. Und in dieser Gesamtausgabe mit den Klavierwerken wird es noch eine ganze Reihe weiterer Überraschungen geben.

Welcher Interpret hat für dich einen besonderen Zugang zu der Musik von Fauré?

Der für mich ideale Interpret von Faurés Liedern ist Bernard Kruysen: einfach, natürlich, klar, nicht affektiert. Gérard Souzay sang Faurés Lieder auch ganz hervorragend. Meine Lieblingsinterpretation von Faurés Oper Pénélope ist immer noch die mit Régine Crespin von 1956.

Bei der Kammermusik habe ich keine besonderen Präferenzen, allerdings schätze ich die Aufnahmen von Jean Hubeau und die aktuelleren von Pascal Rogé. Bei den Klaviereinspielungen zählt die von Jean-Philippe Collard zu den ›Klassikern‹. Auch Jean-Claude Pennetier hat die Klavierwerke aufgenommen. Karine Deshayes mag ich auch sehr. Sie hat einige Lieder und Liedzyklen von Fauré aufgenommen und wäre eine ganz wundervolle Pénélope, quasi eine Reinkarnation von Régine Crespin. Eric Le Sage hat außerdem die gesamte Kammermusik eingespielt und wird auch das Klavieroeuvre aufnehmen. Ich kann gar nicht alle Musikerinnen und Musiker aufzählen, die ich für ihre Fauré-Interpretationen schätze… Es gibt auch viele junge Musikerinnen und Musiker, nicht nur in Frankreich, die Fauré im Repertoire haben…

What’s up with … Fauré? Über die komplexen Gefühle eines Unbeschreiblichen in @vanmusik.

Welches Stück Musik würdest du einem Fauré-Einsteiger empfehlen?

Ich würde eine ganze Reihe von Werken empfehlen, um Fauré näher zu kommen. Das Requiem darf natürlich dabei nicht fehlen, die Klavier-Ballade op. 19 in der Version mit Orchester, die sechste, elfte und dreizehnte Nocturne, die Barkarole Nr. 11, das erste Klavierquartett, das zweite Klavierquintett oder das Klaviertrio. Auch einige Lieder sollte man sich anhören, wie zum Beispiel N’est-ce pas?, Le secret und La mer est infinie. Nicht zu vergessen die berühmten Lieder, von denen ich zu Beginn schon gesprochen habe! (lacht) Wer diese Lieder nach ein paar Mal hören nicht mag, dem kann ich auch nicht helfen! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.