Die Abramović-Methode für Musik, erprobt an der Alten Oper Frankfurt.

Text · Fotos © Alte Oper Frankfurt, Achim Reissner · Datum 27.3.2019

Schon die Bekanntgabe vor einem Jahr machte neugierig: Unter dem Titel »Anders hören: Die Abramović-Methode für Musik« kündigte die Alte Oper Frankfurt ein »großangelegtes neues Kunstprojekt« von Marina Abramović an, einer »der bekanntesten und einflussreichsten Künstlerinnen der Welt«. Was würde das wohl werden?

Dies ist der dritte Teil unserer Serie »Zukunftsmusik« über Visionen, Innovationen und die Frage: Die Idee ist gut – ist die Welt schon bereit? In der ersten Folge widmeten wir uns der neuen Generation junger Klassiklabels, in der zweiten stellten wir die Basel Sinfonietta vor. Die Serie entsteht im Rahmen unserer Development-Partnerschaft mit der Bank Julius Bär.

Das vielversprechende, medial geschickt lancierte Projekt wurde dann im Herbst von Intendant Stephan Pauly gemeinsam mit der »weltbekannten Performance-Künstlerin« pünktlich zum Vorverkaufsstart etwas genauer vorgestellt:

»Wir laden Sie ein, an zwei Terminen gemeinschaftlich die Abramović-Methode zu erleben: In verschiedenen Übungen lernen Sie dabei, die Sinne zu schärfen und sich selbst in einen Zustand der Konzentration zu begeben. Lassen Sie das Erlebte sich setzen – um dann aus der gewonnenen Erfahrung heraus einen Konzertabend der besonderen Art zu erleben, der die Regeln und Normen des klassischen Konzertbetriebs außer Kraft setzt. Die Teilnahme an der Abramović-Methode und der Konzertbesuch bilden eine untrennbare Einheit.«

Man darf der Alten Oper gratulieren, dass »das außergewöhnliche und höchst prominent besetzte Ereignis« schon bald ausverkauft war. Was allerdings auch nicht weiter überrascht, wenn so ein geheimnisumwobenes Heilsversprechen, zumal verknüpft mit dem Namen des Performance-Superstars schlechthin, auf die nie aus der Mode kommende Sehnsucht nach Entschleunigung, innerer Einkehr und Sammlung stößt: mithin das, was sich viele Menschen ohnehin von klassischer Musik erhoffen. Leider wurde das marketingmäßig pointierte Versprechen »Drei Termine – eine Erfahrung« jedoch nicht ganz eingelöst. Vielmehr waren es sehr unterschiedliche Erfahrungen, die sich in den Übungsterminen und im Konzert machen ließen.

Ich bin dann mal weg.

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Durch die lärmige Frankfurter Innenstadt mit drei Großdemonstrationen am selben Tag und als Zugabe einem eskalierenden Youtuber-Flashmob geht es zur Alten Oper, die dort mittendrin ruht. »Dem Wahren Schoenen Guten« steht auf dem Dachfries.

»Sie befinden sich jetzt in einem Raum der Stille«, wird man vom Einlasspersonal freundlich begrüßt, »bitte bewegen Sie sich ruhig und geben Ihre Sachen an der Garderobe ab.« Erleichtert allen Ballasts folgt im Durchgang zum Saal eine weitere Instruktion der ganz in schwarz gekleideten Achtsamkeitscoaches des Abramović-Teams, die uns auf Deutsch und Englisch ansprechen – bei einigen angereichert mit dem typischen Abramović-Akzent. Neben Anweisungen für die nun folgenden Stunden wird jedem von uns als Hilfsmittel ein praktisches Utensil anvertraut, ein professioneller Kapselgehörschutz mit einem Dämmwert von beachtlichen 31 Dezibel. Entwickelt als Schutz für Arbeitsumgebungen mit sehr hoher Lärmbelastung, wirkt dieses Hilfsmittel hier Wunder: als Eintrittskarte in das Reich der Stille, aber auch als Kopf- und Körperhörer.

Diesseits der Stille

Denn während die ohnehin kaum noch vorhandenen Umgebungsgeräusche im großen Saal der Alten Oper komplett absorbiert werden, richtet sich das Hören nur noch nach Innen. Die im Konzertsaal angebotenen Übungen, von denen die meisten aus dem Standardrepertoire der Achtsamkeitslehre oder anderen Abramović-Performances bekannt sind, erhalten dadurch einen zusätzlichen Reiz, gewinnen an Intensität.

Es ist in jedem Fall faszinierend, erstmal das ruhige, aber rege Treiben zu beobachten und dann allmählich selbst Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Anfangs dauert es noch etwas, bis sich die Gedanken von dem unmittelbar vorher Erlebten, den hektischen Eindrücken der Frankfurter City entfernen. Ähnlich wie beim Eintauchen in Kirchen oder Kunstmuseen, wenn sie denn nicht gerade überfüllt sind, ist es allein schon ein Genuss, sich von der Ruhe anstecken zu lassen, die großzügig gestaltete Räume inmitten von lauten Städten bieten können. So entfaltet auch hier der holzgetäfelte Große Saal des nach dem Wiederaufbau 1981 eröffneten Konzerthauses mit seiner leicht in die Jahre gekommenen Einrichtung eine angenehm klare, gediegene Aura. Dass Knarzen des Parketts an manchen Stellen bemerkt man beim gemächlichen Abschreiten des Saales dank des Gehörschutzes nicht, alles scheint wie in Watte gepackt in diesem Schweigekloster.

Selbstbetrachtungen

Die verschiedenen Achtsamkeits- und Präsenzübungen in absoluter Stille tun wirklich gut: ultralangsame Bewegungen, Reiskörner und Linsen separieren und zählen, den Blick in Farbflächen versenken und sich dazwischen sitzend oder auf einer Liege ausruhen. Zur Entschleunigung und meditativen Ruhe, die eine intensive Eigenwahrnehmung von Körper und Geist ermöglichen, kommen noch Begegnungen mit den anderen Teilnehmern: ob es der gegenseitige Blick ist, für den man sich paarweise gegenübersitzend anschaut, oder allein durch Tast- und Geruchssinn geschieht, wenn man sich mit Augenbinde und Gehörschutz quasi blind und taub in einem geschützten Bereich frei bewegen und berühren kann, also gewissermaßen in einem Achtsamkeits-Darkroom. Man soll, darf sich den Fremden zuwenden, muss es aber nicht. Alles ist angenehm zwanglos, bleibt stets innerhalb der Regeln und funktioniert genau deswegen erstaunlich effektiv. Eine große Dankbarkeit stellt sich zunehmend ein. Wie verzaubert erscheint alles beim Verlassen der Alten Oper, ich bin immunisiert gegen jegliche Hektik und den ganzen Stadtlärm.

Schluss mit lustig

Leider ist das Erlebnis am Konzerttag zunächst ein gänzlich anderes, zu dem alle Teilnehmer der zwei mal fünf Übungstermine gleichzeitig geladen sind. Der fünffache Besucherandrang sorgt für entsprechend Stau an den Garderoben, der sich trotz größter Mühe des Personals nicht rechtzeitig auflösen will. Auf den gutgemeinten Hinweis hin, sich doch unbedingt zu beeilen, da es erst später einen Nacheinlass geben soll, hasten die eigentlich pünktlichen Besucher die Treppen hoch. Indes, die ganze Hatz ist umsonst, denn die letzten etwa 150 Personen bleiben zu Beginn der Veranstaltung tatsächlich außen vor und verpassen die Einstimmung durch die Meisterin höchstpersönlich. Auch im Saal ist es mit der Achtsamkeit nicht mehr weit her, wenn es darum geht, sich noch einen Sitzplatz zu sichern.

Nach einer kurzen Ansprache von Marina Abramović übernimmt Lynsey Peisinger, ihre künstlerische Mitarbeiterin, das Wort und stimmt eine kollektive Einsumm- und Körperübung an. Ein Hauch von Kirchentag liegt in der Luft; nicht zuletzt auch, weil die Lüftung der großen Anzahl von Menschen im Parkett, von denen ein Teil sich seiner Schuhe entledigt hat, zunächst nicht viel entgegenzusetzen hat.

Jetzt! Die Kraft der Gegenwart

Meine Gedanken sind während des Einsummens noch bei den unglückselig vor der Tür Zurückgebliebenen. Doch anstatt sie einfach still und leise oben in den zweiten Rang zu platzieren, lässt man sie draußen vor Monitoren der Dinge harren und erst nach etwa fünfundzwanzig Minuten denkbar unachtsam herein – just dann, wenn Carolin Widmann unten im Parkett die ersten Töne anstimmt. Also strömen die Nacheingelassenen nun von beiden Seiten im ersten Rang herein, und ohne Gehörschutz ist das Knarzen der Holzdielen wieder bestens zu vernehmen. Anders hören?

»Die Musik auf einer tiefergehenden Ebene wahrnehmen« stellt man sich doch anders vor. Ein grundsätzliches Problem ist zudem, dass das Konzert im Großen Saal einfach ein zu groß dimensioniertes Event ist, in dem sich die Solisten über die großen Distanzen hinweg erstmal behaupten müssen. Auch wenn die Musiker an unterschiedlichen Positionen spielen, ist jeweils ein Großteil des Publikums zu weit weg. Um das auszugleichen, werden die Instrumente im Saal teilweise dezent verstärkt, was wiederum einer unverfälschten Hörerfahrung im Wege steht. Das Husten oder das raschelnde Bonbonpapier der unmittelbaren Sitznachbarn ist dadurch leider präsenter als die Künstler und ihre Musik. All diese Umstände erschweren es zunächst, als Zuhörer wirklich präsent zu sein und an »die reinigende Wirkung der Übungen« anzuknüpfen.

Liebe dich selbst und es ist egal was du hörst.

Ein weiteres Problem des Konzerts ist die Beliebigkeit. Die Aneinanderreihung der Solostücke wirkt doch arg zufällig, was offenbar so gewollt ist; eine Dramaturgie ist jedenfalls nicht zu erkennen. Dabei sind die meisten Stücke von Bach über Klassik bis zur Moderne sowie indische und chinesische Musik auf Instrumenten wie Geige, Cello, Flöte, Akkordeon, Klavier, Orgel, Sitar oder Pipa jeweils für sich schön anzuhören. Doch werden sie in der pausenlosen Abfolge zu einem Potpourri, das einen auch außerhalb des Konzertsaals verfolgt. Über Lautsprecher in alle Gänge und das Foyer übertragen, in dem das Publikum zwischendurch Erfrischung sucht, gibt es kein Entkommen, keinen Ort der Stille. In einem Zwischenfoyer fängt eine Journalistin die Besucher ab mit der Frage: »Und, hat die Abramović-Methode bei Ihnen schon gewirkt?«

Im Konzertsaal sind permanent Kameraleute und ein Fotograf unterwegs, die sich zwar unauffällig von Aufritt zu Auftritt bewegen, aber dennoch auffallen. So wie am Vortag die Übungseinheit muss eben auch dieses einmalige Ereignis optimal in Ton und Bild festgehalten werden, um es dem Vergehen, der Einmaligkeit zu entreißen und in die mediale Verwertungskette zu überführen. Die Anleitungen zu den Übungen sind übrigens schon online als Videos bei Arte zu finden, eine gekürzte Fassung des Konzerts folgt am 30. März hier. Auf der Webseite heißt es dazu: »So eröffnet Arte Concert auch den Zuschauern zu Hause die Möglichkeit, Übungen nach der Abramović-Methode durchzuführen und so die Musik anders wahrzunehmen.«

Hieran zeigt sich exemplarisch ein generelles Paradoxon der Präsenz-Künstlerin Abramović: Soll es doch vorgeblich immer um echte, reale Begegnungen gehen, haben die wenigsten sie als Performerin jemals live erlebt. Es gibt derzeit wohl keine Künstlerin, die sich in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie medial besser vermarktet als sie. Die einmalige Wiederbegegnung mit ihrem ehemaligen Partner Ulay aus »The Artist Is Present« werden die meisten schon irgendwo gesehen haben, als immer wiederkehrendes Video.

Sorge dich nicht. Höre!

Doch liegt es letztlich nicht vor allem an mir selbst als Konzertbesucher? Bin ich zu kritisch, zu vorurteilsbeladen? Ein Konzert wie dieses ist ja ein Angebot, sich frei zu bewegen und die eigene Präsenz zu finden. Die anfängliche Skepsis überwindend suche ich mir also einen Platz auf der Bühne zwischen dem Aris Streichquartett und dem Flügel, an dem noch Fazil Say erwartet wird. Inmitten der vielen Menschen und umspielt von der Musik stellt sich Entspannung ein, das Hören beginnt endlich Freude zu machen. Die Intensität der Musik kommt hier in unmittelbarer Nähe zur Entfaltung, was sich vor allem körperlich erfahren lässt. Hilfreich ist auch, dass sich nur noch etwa die Hälfte des Publikums im Saal befindet. Statt Gedränge ist nun achtsames Kuscheln angesagt. Auch die Luft ist mittlerweile wieder angenehmer und die verbliebenen Menschen haben ihren Platz gefunden, im Konzertsaal wie im Universum. Nun beginnt der Flow, ein Musikstück nach dem anderen rieselt sanft vorüber. Das ist zwar keine »Musik für das denkende Ohr« wie im Berliner Pierre Boulez Saal, aber sehr angenehm und zeitvergessen machend. Unbewusst…

Man möchte der Alten Oper in jedem Fall wünschen, dass sie die beschrittene Richtung fortsetzt, mit neuen Konzertformaten zu experimentieren. Jedoch sollte an dem Konzertdesign, um es mit Folkert Uhde zu sagen, noch ein wenig gearbeitet werden. »Anders hören« lässt sich anders besser. Das kann in speziellen, aufwändigen Settings sein, so wie vor einigen Jahren in der grandiosen Trilogie Into the Dark von Sabrina Hölzer mit dem Solistenensemble Kaleidoskop oder hier und da in ortsspezifischen Klanginstallationen und Durationals. Oder einfach in ganz normalen Konzerten ohne Schnickschnack, Star-Branding und -Marketing, in denen Programm, Raum, Licht, Anordnung und Publikumsanzahl sorgsam aufeinander abgestimmt sind. In denen achtsam musiziert und zugehört wird, ohne Kameras, ohne Mobiltelefone – ganz intim, echt und präsent. ¶

... studierte Informationswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und Musikwissenschaft. Er ist als Musikmanager tätig und gründete das Unternehmen bastille musique, das die Bereiche Künstleragentur, Live-Produktion und Plattenfirma kombiniert.