Vergoldete Kuppeln, Zinnen aus rotem Backstein, verspielte Schmucksteine, dazu Türme in unterschiedlichsten Größen und Höhen. Ein bisschen erinnert das Schweriner Schloss an die Kulisse eines Disney-Märchenfilms. »Neuschwanstein des Nordens« nennen es Besucher, die sich bei gutem Wetter zu Hunderten im Alten Garten davor tummeln. Aber obwohl das Schloss der glänzende Vorzeigebau der Stadt ist, die sich gerade um Aufnahme ins Unesco-Welterbe bemüht, stiehlt es dem Theater links daneben nur auf den ersten Blick die Show.

Zwar beherbergt das Schloss den Landtag, die politische Bühne, doch im Theaterbau pulsiert die kreative Keimzelle des Landes, die das Spiel der Mächtigen zu seinen besten Zeiten auch immer hinterfragte, aufs Korn nahm oder subversiv boykottierte. 2016 fusionierte das Mecklenburgische Staatstheater mit dem Landestheater Parchim und ist seitdem das einzige Staatstheater Mecklenburgs mit sechs Sparten: Schauspiel, Musiktheater, Konzert, Ballett, der Niederdeutschen Bühne (Fritz Reuter Bühne) und dem jungen Theater am Standort Parchim.

Auf dem Theatervorplatz haben sich an diesem Sonntagnachmittag ein paar Dutzend Demonstranten versammelt. Ein verhaltener Protest gegen den russischen Angriffskrieg. Blau-gelbe Fahnen, neben Friedenstauben und Peace-Zeichen. Dass in Schwerin bereits vor dem Krieg die größte ukrainische Community Mecklenburgs lebte, fällt hier erstmal nicht auf. Laut einer Studie des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung ist Schwerin die am stärksten segregierte Stadt Deutschlands. Das heißt: Menschen hier leben strikt getrennt nach Einkommen und sozialem Status. Diese tiefen sozialen Gräben könne das Theater nicht übersehen, erklärt Intendant Hans-Georg Wegner später in der Theaterkantine.

An der Brandmauer hinter den Protestierenden ragt ein steiles M wie ein Dach empor. Das neue Logo des Hauses in vielen Regenbogenfarben. Man wolle künstlerisch weiter in die Stadt ausstrahlen, auch Menschen in den Randgebieten erreichen, die mit Theater bislang nicht viel am Hut hatten. Eine eigene Spielstätte im Plattenbauviertel Dreesch ist daher in Planung, wo viele Migranten aus Afghanistan, Syrien, Russland und der Ukraine leben. Zugleich möchte man an die Ära des Regisseurs und Intendanten Christoph Schroth anknüpfen, der das Haus zwischen 1974 und 1989 zu einem Anziehungspunkt für Theaterfans kritischer, innovativer Inszenierungen machte.
Der heutige Intendant Wegner stammt aus Dessau, war von 2013 bis 2021 Operndirektor am Nationaltheater Weimar und trat im August 2021 die Nachfolge von Lars Tietje an. Gemeinsam mit Regisseur Martin M. Berger und GMD Mark Rohde will er das Musiktheater-Profil des Schweriner Theaters neu zuspitzen.

Beim Blick in die Schweriner Theaterhistorie stolpert man neben Christoph Schroth vor allem über zwei weitere bekannte Namen: den Dirigenten Kurt Masur, der Schwerin von 1958 bis 1960 als Sprungbrett nutzte, bevor er an die Komische Oper ging. Und den Komponisten Friedrich von Flotow, der zwar kein origineller Tondichter war (er kupferte bei Auber und Donizetti ab), aber trotzdem mit seiner Oper Martha zum meistgespielten Opern-Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte. Noch heute schmettern Gesangsstudentinnen daraus Die letzte Rose. von 1855 bis 1863 jedenfalls war Flotow Intendant des Hauses – ein hübsches Zimmer mit geblümter Seidentapete erinnert an ihn. Dabei reicht Schwerins Theatergeschichte bis ins 16. Jahrhundert zurück. 1563 beauftragte Herzog Johann Albrecht I. den Kapellmeister David Köler eine Hofkapelle zu gründen. Sie ist der Ursprung der Mecklenburgischen Staatskapelle, die nach Dresden und Kassel als drittältestes Orchester in Deutschland gilt. Mitte des 18. Jahrhunderts holte der Theater-verrückte Herzog Christian Ludwig II. die von Johann Friedrich Schönemann geleitete Schauspieltruppe an den Mecklenburger Hof, deren Protagonist, Conrad Ekhof, auch als größter Schauspieler des Landes gefeiert wurde. Eckhof und Schönemann gründeten 1753 in Schwerin die erste deutsche Schauspielakademie, die nicht nur Praxis, sondern auch Theorie und Methodik vermittelte. Allerdings löste sie sich mit dem Tod von Herzog Christian Ludwig II. nach nur nur 13 Monaten wieder auf. Geblieben ist von diesem Intermezzo der Name des Conrad-Ekhof-Preises, mit dem seit 1998 jedes Jahr der beste Schauspieler des Hauses geehrt wird. Unter der Regierung Friedrich des Frommen (nomen est omen!) verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Kirchenmusik. Das änderte sich erst mit der Nachfolgeregierung Friedrich Franz I., der wieder weltzugewandtere Kunst präferierte und 1788 dafür sorgte, dass das Reithaus am Alten Garten zum Schauspielhaus ausgebaut wurde. Dieses jedoch brannte 1831 bei einer Vorstellung ab. Und so erging es auch dem schönen Nachfolgebau von Georg Adolf Demmler, der 1882 ebenfalls bei einer Vorstellung abbrannte. 1886 wurde dann das bis heute erhaltene Großherzogliche Hoftheater unter Franz Friedrich II. eröffnet – mit fortschrittlichen Brandschutzmaßnahmen und elektrischem Licht nebst einem theatereigenen Elektrizitätswerk.

Ein orangefarbenes Kabel schlängelt sich durch den Gang im Untergeschoss und weist den Weg Richtung Ost-Fassade, wo gerade renoviert wird. »Hier bröckelt immer irgendwo was«, sagt Franziska Pergande, die für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und mir jetzt die kreativen Katakomben des Hauses zeigt. Die Tür zur Requisite steht offen. In einer Ecke türmen sich Koffer, Rettungsringe, Hulahoop-Reifen, Schirme in unterschiedlichsten Größen und Mustern baumeln darüber. Daneben das Lampenlager, »Museum« hat ein Witzbold mit Edding vor das Schild mit der Aufschrift »Beleuchtung« gekritzelt. Der verwaiste Orchesterprobensaal wurde zur Coronatest-Station umfunktioniert. Hinter einem Vorhang lugt ein altes Plakat vor: Die Kapelle ehrt ehemalige Mitglieder. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte ist das einst 100 Musiker:innen starke Orchester auf 58 geschrumpft. Im Moment gibt es auch noch keinen festen Probensaal, vorübergehend probt man in der ehemaligen Druckerei der Schweriner Volkszeitung. Demnächst werde man in die Reithalle des Marstalls umziehen, aber auch das nur provisorisch.

Der neobarocke Theatersaal fasst 600 Plätze, samtrot bezogen auf drei Ränge verteilt. Prächtige Deckenlüster setzen Stuck-und Goldverzierungen und die Musen-Figuren an den Logen in Szene. Die Generalprobe für das 4. Sinfoniekonzert beginnt gleich, ein paar Posaunen tröten sich mit der Europahymne warm. Ein Hingucker ist die Großherzogliche Loge, mit eigenem Vorzimmer, das als Durchgang zum Konzertfoyer genutzt wird. Wo früher Herzog und die Herzogin samt Entourage über einen eigenen breiten Treppenaufgang zu ihrer Loge schritten, ist heute ein Aufzug für Rollstuhlfahrer installiert.
Drei Probebühnen sind im Haus untergebracht, die schönste direkt unterm Dach, sagt Frau Pergande. Kurz hineinschauen klappt allerdings nicht, gerade probiert die Fritz-Reuter-Truppe, die auch Klassiker ins Mecklenburger Platt übersetzt und damit deutschlandweit tourt.
Einmal im Jahr zum großen Opernball werden alle Türen geöffnet, die große Freitreppe, die die prächtige Loge mit dem Parkett verbindet, wird ausgefahren. Das Haus verwandelt sich in einen großen Tanzsaal, auf dem Polit- und Wirtschaftsprominenz mit Kreativen gemeinsam das Tanzbein schwingen. Diese Öffnung möchte Wegner auch für künftige Produktionen nutzen. So erstmals bei der Naturoper Wölfe, einem Auftragswerk des Schweriner Theaters, für die die estnische Komponistin Helena Tulve gerade noch die Musik schreibt. Das Libretto von Nina Gühlsdorf stützt sich auf Interviews mit Tierschützern, NGOs, Bauern und Jägern, erklärt Wegner. Mit Wölfe versuche man, das Genre des dokumentarischen Theaters auf die Oper zu übertragen. Denn um tatsächlich neue Formen im Musiktheater zu kreieren, müssten sich auch Produktionsweisen ändern. Zur Premiere jedenfalls soll ein Wald-Parcours durchs ganze Haus entstehen, Rasen werde dafür auf die Bühne gepflanzt, das Publikum sitze auf Strohballen.
Im Alten Garten, wo die früheren Openair- Sommerspektakel stattfanden, will Wegner einen Rollrasen in M-Form verlegen – da dürften dann auch Schafe grasen. Eine neue Idylle für die gespaltene Stadt? Wegner ist voller Vorfreude auf das Bild, wenn jeden Abend eine Schafherde das M abgrast und durch den Lustgarten getrieben wird.
Ein Format aus der Ära Schroth, das Wegner bis heute inspiriert, hieß »Entdeckungen«. Verschiedene Inszenierungen zu einem Thema verwandelten das Haus für einen Abend in ein großes Volksfest. Dabei wurden nicht nur alle Bühnen bespielt, sondern auch Stücke gezeigt, die sonst der Zensur zum Opfer gefallen wären. »Ein phantastisches Spektakel, das Publikum und Ensemble tatsächlich an einen Tisch brachte«, so Wegner.
Klar sei: Das Format lasse sich nicht eins zu eins übernehmen. Aber er wolle zeitgemäße Anklänge finden, ein Echo erzeugen, erklärt der Intendant jetzt am Tisch in der Theaterkantine. »Denn die DDR bleibt ein wichtiger biografischer Teil sehr vieler Menschen, die hier leben.« Und so geht es nicht nur um aktuelle Stoffe, die die Mecklenburger bewegen, sondern auch um die Vergangenheit. »Einmal pro Spielzeit wollen wir das Werk eines DDR- Komponisten aufführen – und sehen, was es uns noch sagt, beziehungsweise wie wir es für uns übersetzen können.«
Wegner hat das aktuelle Spielzeit-Heft mitgebracht: »öffnen und verteidigen« steht dort in dicken weißen Lettern. »Wir beobachten, dass viele Konflikte derzeit die Frage nach kultureller Identität stellen. Plötzlich sind wir wieder mit alten Ideologien beschäftigt, mit Weltbildern, die wir längst dachten hinter uns gelassen zu haben. Aber die Herausforderungen unserer Zeit, Klima, Migration, Geschlechteridentität spalten unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen die Entdecker:innen, die sich eine pluralistische, offene Gesellschaft wünschen, auf der anderen die Verteidiger:innnen, die um die Rahmenbedingungen kämpfen, mit denen sie aufgewachsen sind. Darauf muss ein Theater reagieren. Denn ich verstehe Theater als künstlerischen Freiraum, in dem Ambivalenz gelebt wird, Komplexität. Wo man Konflikte einfach stellvertretend durchführt, um sich vielleicht im realen Leben davor schützen zu können. Was können wir durch Offenheit neu entdecken? Und was an unserer Kultur ist es wert, verteidigt zu werden?« Noch bevor die neue Spielstätte im Dreesch in Planung ging, ließ Wegner im letzten Spätsommer Kunstrasen auf dem Ekhof-Platz ausrollen, brachte Künstler und Publikum zu kurzen Performances bei Pizza und Bier zusammen.
Am Abend sitze ich im kleinen quadratischen Bühnenraum des alten E-Werks und schaue mir Hedwig and the Angry Inch an – die Premiere des ersten queeren Rock-Musicals am Schweriner Theater. Eine Ost-West-Liebes-Story und zugleich das Drama, im »falsch« gelesenen Körper geboren zu sein. 15 Songs, die irgendwie an David Bowie, teilweise an frühe Iggy Pop-Balladen erinnern, handfest begleitet von einer vierköpfigen Band, fügen sich zur Lebensgeschichte des Ostberliner Jungen Hansel, der sich als Hedwig fühlt, in beengten Verhältnissen mit einer wenig empathischen Mutter lebt und sich in einen GI verliebt. Um ihrer Tristesse zu entfliehen, wagt Hedwig eine geschlechtsumwandelnde Operation, die misslingt, und ihr Leben an der Seite des GIs unmöglich macht.

Mit Live-Kameraprojektionen und direkten Ansagen ans Publikum switcht die Inszenierung zwischen Hedwigs Geschichte und den persönlichen Erfahrungen der Hauptdarstellerin Lili Alexander, die sich mit Ironie und Verve immer wieder direkt an ihr Publikum wendet und mit ihrer rauen warmen Altstimme unter blonder Perücke und falschen Wimpern so viel Unmittelbarkeit versprüht, dass es schwer fällt, sitzen zu bleiben. Dabei wird sie von der Mezzosopranistin Itziar Lesaka begleitet, die mal Background-Girl, mal Kamera-Frau ist oder in die Rolle von Hedwigs unsympathischer Mutter schlüpfen muss. Die klassische Stimme und das rockige Chanson-Timbre der Autodidaktin mischen sich nicht besonders gut, aber erzeugen Dissonanzen, denen man lange nachhört – und die den Raum für eine Diskussion im Anschluss freigeben. Mitglieder der Selbsthilfegruppe TIM* (trans* und inter* Menschen in Mecklenburg) e.V. sprechen von alltäglichen Vorurteilen und Hürden, vom Kampf gegen Eltern, die keine psychologischen Gutachten zulassen, entwürdigende Prozedere, geleitet von Psychologen, die dafür nicht ausgebildet sind. Die Hauptdarstellerin Lili Alexander sitzt nun zwischen den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe, diskutiert über Begriffe wie Transidentität und Nonbinarität, Klischees, Stereotype und die Grenzen der Sprache, die sich durch Pässe und Toilettenbezeichnungen wie dicke Mauern ziehen.

Die neue Schweriner Theaterleitung will nicht nur neues Publikum erobern und mit seinem Stamm-Publikum näher zusammenrücken, sondern auch dessen Neugierde auf Stoffe jenseits des Mainstream wecken. Machen Abonnenten das überhaupt mit? Abonnenten seien das »missverstandenste und unterschätzteste Publikums-Segment überhaupt«, sagt Wegner nach dem Publikumsgespräch. »Sie sind doch diejenigen, die seit Jahrzehnten ins Theater gehen, die können Theater lesen«, sagt Wegner, lacht und haut bekräftigend mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und selbst, wenn’s mal ganz schlimm wird, kommen sie trotzdem wieder.« Allerdings, das gibt Wegner zu, müsse man zwischen Konzert- und Musiktheater-Publikum unterscheiden. Die Abonnenten des Musiktheaters seien vielleicht aufgeschlossener. »Wenn man den zweiten, dritten Tannhäuser gesehen hat, dann kann man auch mal Ligetis Le Grand Macabre akzeptieren.«
Apropos Akzeptanz: Was gehöre seiner Meinung nach noch zum festen Opern-Kanon, wie sieht man das im Schweriner Theater? »Vielleicht noch 15 Werke«, erklärt Wegner, »die bekannten Opern von Mozart, Puccini, Wagner, Bizet… Bei den meisten ZuschauerInnen kann man aber von keinen umfassenden Repertoirekenntnissen mehr ausgehen.« Bereits bei Verdis Maskenball fragten die Leute, von wem die Operette sei, bei Benjamin Brittens Peter Grimes müsse man dann aufwändig erklären, warum es sich lohnt, das zu sehen. »Das kann man bedauern, man kann sich über den neu gewonnen Freiraum aber auch freuen.«
GMD Mark Rohde erklärt mir später, wie sehr er zwar Mozart und Brahms, überhaupt das gesamte klassisch-romantische Repertoire liebe – ihn zugleich aber Uraufführungen, insbesondere die Wiederentdeckungen einiger DDR Komponist:nnen bereicherten: »Udo Zimmermann beispielsweise entführt uns in seiner Oper Schuhu und die fliegende Prinzessin in eine Märchenwelt, in der eine politische Ebene darunter klingt. Zwei Orchester treten gegeneinander an, die man als Ost und West deuten könnte. Ein Werk voll subtil-kritischer Aussagen zur DDR. Aber es lässt sich auch weiter fassen, als Absage an jedes totalitäre Regime. Gerade deswegen ist das Stück heute wieder so spannend«, so Rohde. So könne Schwerin durch die Ausgrabungen wenig gespielter DDR- oder regionaler gefasst norddeutscher Komponisten nicht nur seinen ganz eigenen Kanon eröffnen, sondern werde auch seinem Erbe als Mecklenburgische Staatskapelle gerecht: »Während der Corona-Zeit haben wir bislang unveröffentlichte Ouvertüren und die 3. Sinfonie von Emilie Mayer eingespielt, die am 27. April im Handel erscheinen wird. Mayer stammt aus Friedland, Mecklenburg und ist den meisten heute völlig unbekannt. Im 19. Jahrhundert aber wurde sie als ›weibliche Beethoven‹ gefeiert.«
Im kleinen, sonnigen Büro erzählt mir der GMD schließlich von seinen dringlichsten Wünschen: weitere feste Stellen für sein A-Orchester, das die anspruchsvollen Aufgaben nur mehr mit Aushilfen bewältige. Bei der letzten Verkleinerung sei zwar ein Etat für Aushilfen zugesichert worden, »aber das ist eine Mogelpackung«, sagt Rohde, »weil man nicht kontinuierlich arbeiten kann, sondern im Grunde immer wieder einen Schritt zurück geht und ständig mehr Arbeit leistet, um das Niveau zu halten.«
Auch ein eigener Konzertsaal stehe auf der Wunschliste ganz oben, betont er. Das Konzertzimmer, ein Konstrukt aus Seitenwänden und Deckensegeln, das vor einigen Jahren in die Bühne des großen Saals eingebaut wurde, sei gerade jetzt in Corona-Zeiten zu klein. »Ein Teil des Orchesters saß auf der Bühne, der andere musste ins Zuschauerhaus ausweichen«, wodurch sich unterschiedliche Akustiken ergaben, die sich nicht mischen. »Wir haben mittlerweile das Konzertzimmer abgebaut, sitzen nun hinter dem Portal. Der Klang ist bereits jetzt viel homogener, weil er sich auf der Bühne mischt.« Trotzdem, kein Vergleich zu einem eigenen Saal. »Es muss ja nicht die Elbphilharmonie sein, aber ein schlichter Raum im Schuhkarton-Format würde schon viel bringen. Auch für das Spiel-und Selbstwertgefühl der Musiker.«
Zum Abschluss sitze ich am Montagabend ganz links im Parkett und höre das vierte Sinfoniekonzert. Die Staatskapelle ist jetzt um mindestens 15 Streicher-Aushilfen gewachsen und versucht, nach einer sehr leisen, tänzerischen Europahymne, ein zartes Gemeinschaftgefühl zu beschwören. Nicht angestrengt, eher verhalten, flüchtig, fragil und vielleicht dadurch so treffend. GMD Mark Rohde erklärt etwas steif, welche musikalischen Motive Tschaikowskys Serenade für Streicher opus 48 mit der 6. Sinfonie verbinden. Dann der erste Satz der Pathétique – wo bereits in der Durchführung die Welt untergeht. In wilden Streicherläufen, schnellen knatternden Blechfanfaren über dunklem unheimlichem Paukengegrummel – über das sich bis zum Zerreißen elegische Streicherflächen spannen, nach Erlösung schreiend. Der Streicherklang, zu dem Rohde noch am Mittag erklärte, wie schwierig es sei, ihn rund und homogen zu halten, wenn die Aushilfen wechselten, gestaltet alle Schattierungen dieser zutiefst verstörenden Musik. Vom transparenten Pianissimo bis hin zum brüllenden Forte schwingt in jeder Note die Sehnsucht nach Menschlichkeit. Da ist es beinahe egal, dass ein paar Horn-Einsätze kieksen und im hektischen Accelerando des dritten Satzes die Oboen nicht hinterherkommen. Das düstere Duett von Posaunen und Tuba im letzten Satz, das fast nicht mehr wahrnehmbare Zupfen des Kontrabasses lassen tief in ein Leben blicken, das, so einzigartig es ist, ganz beiläufig verschluckt wird. ¶