Meinem Besuch im Staatstheater Cottbus droht bereits an der Bühnenpforte das vorzeitige Aus: »37,6 Grad!« grummelt der Pförtner und wedelt mit einem Thermometer vor meiner Nase. »Dit sieht nich jut aus. Wir wollen uns ja keen Superspreader ins Haus holen«, sagt er und presst das Thermometer gleich noch einmal an meine rechte Schläfe. Schuld am Temperaturanstieg ist der Sprint, den ich vom Bahnhof zum Schillerplatz hinlegen musste, wegen der Zugverspätung. Dazu die Ehrenrunde um den prächtigen Jugendstilkoloss, vorbei an Streitwagen-ziehenden Panthern, Laternen, die aus dem Rücken einer Sphinx wachsen, geflügelten Greifen über glitzernden Wasserfontänen und dicken Putten, die um steinerne Blumenbouquets tanzen. Der Bühneneingang liegt versteckt in einer Nische. Ich ringe nach Atem und einer Erklärung. Der Pförtner schüttelt missbilligend den Kopf, seufzt und drückt mir das Thermometer jetzt an die linke Schläfe. »Naja, nu siehts n’ bisschen besser aus: 37,4. Aber lassn’ Se bloß die Maske uff!«

Großes Haus am Schillerplatz • Foto © Marlies Kross
Großes Haus am Schillerplatz • Foto © Marlies Kross

Ich hetze an Schiller und Goethe vorbei, die im Foyer Besucher beäugen und die zentrale Abendkasse bewachen. Durch eine kleine Holztür schlüpfe ich ins Parkett. Über mir setzen weitere Raubkatzen zum Sprung an. In den Nischen des ersten Rangs erinnern mannshohe Vasen an die goldenen Zeiten der italienischen Renaissance, aus den Balustraden wachsen barbusige Fräuleins, die ihre Arme lässig über den Stuck legen. Auf der Bühne hingegen ein nüchternes Arrangement: In zwei Reihen stehen acht Stühle im vorgeschriebenen 1,5 Meter-Abstand. Generalprobe zum ersten Konzert der neuen Spielzeit: Brahms Klavierstücke opus 119 in einer Bearbeitung für Kammerorchester von Detlev Glanert. Die Intermezzi mit ihren verlorenen Melodien füllen die großen Lücken zwischen den Pulten mit zarter Melancholie. Mitten im Andantino un poco agitato in e-Moll ein plötzlicher Bruch: Das Cello ist zu laut. Dirigent Alexander Merzyn feilt präzise, bis die Balance aus Schwermut und Leichtigkeit stimmt.

Schon im März dieses Jahres wollte ich über das einzige Vierspartenhaus Brandenburgs schreiben. Es sollte der Versuch sein, die vielbeschworene blühende Theaterlandschaft, die so oft als Alleinstellungsmerkmal für Deutschland herhalten muss, in Nahaufnahme zu zeigen – und dabei nicht auf die bekannten Hauptstadtbühnen zu schielen, sondern sich etwas abseitiger umzusehen, in der Provinz. Aber was heißt eigentlich Provinz. Immerhin handelt es sich beim Cottbuser Haus seit 1992 um ein Staatstheater – und was für eines. Der Prachtbau des Berliner Architekten Bernhard Sehring gilt als eines der schönsten Jugendstiltheater Europas. Mit dem damals frisch gekürten Cottbuser Generalmusikdirektor Alexander Merzyn hatte ich ein Gespräch vor dem 3. Philharmonischen Konzert verabredet.  Die Konzertreihe der vergangenen Spielzeit war den musikalischen Eigenheiten Deutschlands und seiner Nachbarländer gewidmet, an jenem 13. März stand Beethoven auf dem Programm mit der Solistin Antje Weithaas. Doch kurz bevor ich in Berlin in den Zug steigen wollte, kam der Anruf, dass auch Brandenburg seine Bühnen wegen der Infektionsgefahr mit sofortiger Wirkung schließe. Freitag, der 13.

Alexander Merzyn, hier dirigierend bei einem Konzert unter freiem Himmel anlässlich der Spielplanpräsentation im Park Branitz (2018) • Foto © Marlies Kross
Alexander Merzyn, hier dirigierend bei einem Konzert unter freiem Himmel anlässlich der Spielplanpräsentation im Park Branitz (2018) • Foto © Marlies Kross

Jetzt, sechs Monate später, treffe ich Alexander Merzyn nach der Generalprobe im Intendanzgebäude in der Lausitzer Straße. Eine ehemalige Kaserne aus dem 19. Jahrhundert, heller Backstein, etwa 500 Meter weit vom Theater entfernt. Die Gänge in gelblichem Ocker bemühen sich um Heimeligkeit. Merzyn öffnet das Fenster in seinem Büro: Der Blick fällt auf eine grüne Brache. Früher exerzierten hier Soldaten, seit Sommer 2009 spielt man Theater: etwa Hauptmann von Köpenick oder Goldonis Diener zweier Herren. Zuletzt fand ein Theaterjahrmarkt statt, ein üppiges Openair-Spektakel, erzählt Merzyn. Vor seinem Schreibtisch drängen sich Stutzflügel und Ledercouch, darauf liegen ein paar Notenblätter und ein Stapel frischgedruckter Programmhefte. Merzyn organisiert Tee, schiebt ein paar Hefte zur Seite und bietet mir den freigewordenen Platz an. Nach dem Eröffnungskonzert heute gehe es gleich weiter mit den Proben zu Tschaikowskys Mazeppa. Er zieht eine dicke, grün eingebundene Partitur vom Schreibtisch »unsere Corona-Fassung«, sagt er und zeigt mir die vielen mit Büroklammern markierten Striche. Die Proben laufen gut, die Regisseurin Andrea Moses suche noch nach einer Form, wie sie die Liebesgeschichte glaubhaft auf Abstand inszenieren könne – mit Solisten die Maske tragen müssen. Für den Chor sei auf der Bühne zu wenig Platz, wahrscheinlich werde deswegen auch der zweite Rang bespielt.

Szenenfoto aus der Oper Mazeppa • Foto © Marlies Kross
Szenenfoto aus der Oper Mazeppa • Foto © Marlies Kross

»Den Normalzustand habe ich hier noch nicht erlebt«, sagt Merzyn und versinkt für einen Moment in seinem Schreibtischstuhl. Vor Cottbus war Merzyn, der 1983 in Kiel geboren wurde, als erster Kapellmeister am Landestheater Coburg engagiert. Ursprünglich hatte er Violoncello bei Jens Peter Maintz in Berlin studiert, spielte im Deutschen Symphonie-Orchester unter Kent Nagano und beim RSB unter Marek Janowski. Das Dirigieren begleite ihn aber schon seit der Kindheit, sagt er, auch sein Vater war Dirigent. 2009 folgte dann das Dirigierstudium in Weimar bei Nicolas Pasquet, Gunter Kahlert und Anthony Bramall.  

Als Merzyn 2017 als erster Kapellmeister nach Cottbus kam, sei die Stimmung »zum Schneiden« gewesen, erinnert er sich. Sänger:innen und Musiker:innen des Ensembles hatten dem damaligen Generalmusikdirektoren Evan Christ einen autoritären Arbeitsstil und einen cholerischen Umgangston vorgeworfen. Unmittelbar vor einer Premiere knallte es. Christ wurde das Dirigat verweigert, die Vorstellung drohte zu kippen. Der damalige Intendant bat Merzyn einzuspringen. Der rettete den Abend  – »mit großem Feingefühl«  – wie die Märkische Oderzeitung schrieb. Merzyn bleibt »das große Drama« in Erinnerung, in das er »absolut unvorbereitet hineingeraten« war. »Bei der Premiere brannte die Luft. Dass sie trotzdem zum Erfolg wurde, war auch das große Verdienst des Orchesters, das mich mit unglaublichem Vertrauen durch den Abend trug.« Christ wurde beurlaubt, Intendant Martin Schüler verkündete seinen Rücktritt, auch der damalige Stiftungsrat musste gehen. Am Theater wollte man den Neustart, eine Leitung, die mit Künstler:innen auf Augenhöhe kommuniziert. Interimsintendant Serge Mund bot Merzyn den Posten des kommissarischen GMD an. Der Weg zur endgültigen Stelle sei trotzdem nicht vorhersehbar gewesen, sagt Merzyn. Er musste sich regulär bewerben – schaffte es am Ende, sich gegen 140 Mitbewerber:innen durchzusetzen. Eineinhalb Jahre habe das gedauert.

Als ihn der Stiftungsrat im Dezember 2019 offiziell als neuen GMD bestätigte, blieb zum sorglosen Luftholen wenig Zeit. Das Virus war bereits im Land, Mitte März dann der Lockdown.

»Die ersten beiden Wochen haben wir im Schockzustand verbracht«, sagt Merzyn. »Wie überall wusste auch hier niemand, wie es weitergehen sollte, alles war dicht – und ja, auch im Theater war es totenstill.« Anfang April regte sich zumindest das Orchester wieder. »Wir fingen mit Freiluftkonzerten vor Seniorenheimen an. Die Programme dazu erarbeiteten die Musiker:innen selbst, die sich immer wieder zu neuen Ensembles zusammenfanden. Anfangs hatten wir Probleme mit der Genehmigung, es durften ja keine Versammlungen stattfinden. Daher haben wir die Auftritte nicht angekündigt, sondern kleine Überraschungskonzerte gegeben, Flashmobs, von denen nur die Heimleitung wusste. Daraus entwickelte sich eine Reihe: Konzerte für Cottbus. Und solange das Wetter mitspielte, haben wir täglich die unterschiedlichsten Orte der Stadt bespielt.«

Spielten in Ströbitz ein »Konzert für Cottbus«: Die Musiker*innen (v.l.n.r.): Johannes Müller, Karl Berkel und Priscila Baggio Simeoni • Foto © Doris Tuchan 
Spielten in Ströbitz ein »Konzert für Cottbus«: Die Musiker*innen (v.l.n.r.): Johannes Müller, Karl Berkel und Priscila Baggio Simeoni • Foto © Doris Tuchan 

Merzyn hat sich hinter dem Schreibtisch aufgerichtet und sucht nach dem aktuellen Spielplan. Im Rückblick werde ihm noch einmal bewusst, wie fest das Theater, auch das Orchester in der Stadt verwurzelt sei. Und wie sehr er sich vom Zuspruch der Menschen hier getragen fühle. Dafür sei er dankbar. »Wir haben mehr als 600 Konzert-Abonnenten, das sind viele für eine Stadt und ein Haus dieser Größenordnung. Etliche von ihnen besitzen ihr Abo bereits seit Jahrzehnten. Immer wieder sprechen mich Leute an, deren Eltern und Großeltern schon Abonnenten waren oder noch sind.«

Das Haus sei ein großes Bürgertheater, sagt Merzyn, was auch seine Geschichte erzähle. Der Bau wurde 1905 von der aufblühenden Textilindustrie in Auftrag gegeben, 1945 hatten ihn die Nazis als Munitionslager missbraucht. Das Theater stand kurz vor der Sprengung, doch beherzte Cottbuser verhinderten das. »Von Anfang an haben sich die Bewohner der Stadt mit ihrem Theater identifiziert – das ging durch alle Schichten, bis heute.« Merzyn trifft auch Leute, die nur selten oder nie in den Vorstellungen sitzen, und trotzdem stolz von »ihrem Haus am Schillerplatz« sprechen.

Das Cottbuser Theater bemüht sich um einen Austausch mit seinem Publikum, der weit über das Künstlerische ins Politische weist. Es will eine Öffnung über die Landesgrenze hinweg, ohne dabei regionale Besonderheiten zu übergehen. Das hat seit der Intendanz Christoph Schroths Tradition und zeigte sich in der Arbeit des früheren Schauspieldirektors Jo Fabian, der sich offensiv mit der sozialen und politischen Spaltung der Stadt auseinandersetzte. Eine Stadt, die von einer liberalen Bürgerschaft geprägt ist, zugleich als Zentrum rechtsradikaler Netzwerke gilt, die seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet werden, in der vormittags Bürger:innen für Toleranz und Weltoffenheit auf die Straße gehen und nachmittags Nazis demonstrieren, in welcher sich SPD und AFD über Jahre ein Kopf-an Kopf-Rennen lieferten, und die AFD seit September 2019 stärkste Kraft im Parlament ist. Um den kontroversen Haltungen einen konkreten Raum auf der Bühne zu verschaffen, gründete Fabian den Cottbuser BürgerSprechchor, der die Bevölkerung einlädt, ihre Stimmen ins Theater hineinzutragen, um von dort wieder herauszurufen. Auch unter der neuen Intendanz des Schweizers Stephan Märki soll der Chor laut bleiben. In welcher Intensität, bleibt abzuwarten. Märki, der zuvor Theater in Potsdam, Weimar und Bern leitete, spricht in der Presse von seiner »ostdeutschen Seele« im neuen Spielzeitheft von der Lausitz als »europäischem Labor«, die ein »Melting Pot verschiedener Sprachen, Kulturen und Herkünfte« sei.  

»Vieles, was hier gut funktioniert, ist seit langem gewachsen«, sagt Alexander Merzyn. Dass die neuen Formate, die Corona-bedingt entwickelt wurden – vom Autokino, über die Flashmobs, bis hin zum digitalen Spielplan, der zu allen ausgefallenen Veranstaltungen einen Ersatz im Netz bot –  großen Anklang fanden, liege einfach daran, dass das Theater zum Selbstverständnis vieler Menschen hier gehöre. Ob die neuen Konzertformate fortgesetzt werden? Merzyn zuckt mit den Schultern. Vieles hänge davon ab, wie sich die Corona-Lage weiterentwickele. Vor allem aber brenne man darauf, wieder physisch vor Publikum zu spielen, man konzentriere sich jetzt auf den Spielbetrieb im Haus, der unter strengen Auflagen erst langsam wieder anlaufe. 160 Personen seien bei den Philharmonischen Konzerten im Publikum zugelassen, lediglich 100 bei einer Opernaufführung wie Mazeppa. Das sei bei einem Haus mit 620 Plätzen sehr unbefriedigend. Merzyn hofft auf ein Hygiene-Konzept, das längerfristig mehr Menschen berücksichtige – auf der Bühne und im Zuschauerraum. Brandenburg sei da restriktiver als Berlin, wo man ja schon über die Schachbrett-Variante diskutiere. Für die Abonnent:innen plane man Zusatzkonzerte – aber ob die tatsächlich angenommen würden, müsse man abwarten. Vielen treuen Besucher:innen stecke schlichtweg die Furcht vor dem Virus in den Knochen. Immerhin: Im Zuge der Corona-Maßnahmen und Sicherheitsüberprüfungen am Theater habe man dem Haus eine sehr moderne Abluftanlage bescheinigt. »Die ist CO2-gesteuert. Die Firma, die das untersuchte, sagte, es sei so, als säße man im Freien!« Merzyn lacht. »Ein wichtiges Siegel, das man eigentlich fett aufs Programmheft drucken müsste!«

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Die erneut steigenden Infektionszahlen beobachtet man auch hier am Haus mit großer Sorge. Glücklicherweise sei das Orchester in ein wissenschaftliches Sponsoring gerutscht, alle Musiker würden gerade wöchentlich umsonst getestet. Das erleichtere den Probenbetrieb ungemein. Merzyn wünscht sich weitere Tests für Sänger:innen, Schauspieler:innen und Tänzer:innen. Erst dann könne man auch wieder spartenübergreifend arbeiten. Ab Januar seien zumindest Projekte geplant, in welchen das komplette Philharmonische Orchester auf der Bühne sitze. Trotzdem bleibe man vorsichtig. »Corona zwingt uns, die Nähe in der Distanz zu suchen – das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. So stehen jetzt Stücke im Fokus, die sich mit kleinem Ensemble bewerkstelligen lassen. Dabei kann man wunderbare Entdeckungen machen, die uns zur intimen Atmosphäre des Hauskonzerts zurückführen. Aber natürlich können wir so keine Brucknersinfonie spielen. Und klar ist, das Orchester brennt darauf, wieder in vollständiger Besetzung auf der Bühne zu musizieren.«

Abends sitze ich im mit 160 Plätzen ausverkauften Eröffnungskonzert – rechtsaußen im ersten Rang. Zwei Stühle weiter hat sich ein Paar in beigem Anzug und rosafarbenen Kostüm gesetzt. Er zupft an der verrutschten Maske, sie nestelt schimpfend am Programmheft, das zwischen die roten Plüschklappsitze gerutscht ist. Ins leise Fluchen mischen sich die absteigenden Terzen aus Brahms h-moll Intermezzo – ätherisch, schwermütig und dabei klarer und zugleich verlorener als vormittags in der Generalprobe. In der feinen Orchestrierung Detlef Glanerts, die Merzyn elegant, mit sparsamen Gesten dirigiert, treten die komplexen Motivverknüpfungen überraschend plastisch hervor.

Schönberg hat Brahms als »Fortschrittlichen« verehrt. Im Klagen der Klarinette, in ihrer sich in Variationen stets neu erfindenden Melodie verstehe ich plötzlich, warum.  

Als Gustav Mahler die Lieder eines fahrenden Gesellen für großes Orchester schrieb, muss Schönberg noch die Schulbank gedrückt haben. 35 Jahre später soll er die Lieder des bewunderten Meisters bearbeitet haben, so steht es im Programmheft. Eine Kammerfassung für 10 Instrumente, für die nun drei zusätzliche Stühle auf die Bühne geschoben werden, auf denen eine Flötistin, ein zweiter Kontrabass und ein Schlagzeuger Platz nehmen. Sänger Nils Stäfe, seit drei Jahren fest am Haus engagiert, steht etwas abseits. Im dunklen Frack sieht er aus wie ein zu schnell gewachsener Schulbub. Sein schöner Bariton aber verströmt das Leid des unglücklich Verliebten ebenso wie die bittere Ironie, mit welcher Mahler seine Phrasen immer wieder überraschend bricht. Stäfe hat den Mut, Spitzentöne im zartesten Pianissimo ausklingen zu lassen und besitzt genug Verve für die dramatische letzte Phrase des dritten Liedes. Schönbergs reduzierte Umarbeitung ist keine spektakuläre Neuinterpretation der Mahler-Lieder, aber eine pointierte, moderne Lesart des romantischen Vorbildes, die oftmals zu feingliedrig schattierten Instrumentenwechseln innerhalb einer einzigen Melodielinie führt. Merzyn und die Cottbuser Philharmoniker interpretieren sie als Humoreske, als verstörendes Nebeneinander von Trauer und Freude, Volkston und Kunstlied.  

Als die Orchesterwarte zum letzten Teil des Konzerts weitere Pulte auf die Bühne schleppen, ertönt Zwischenapplaus. »Wird etwa das komplette Orchester spielen?«, flüstert die Dame im rosafarbenen Kostüm zwei Sitze weiter. Nein, nicht ganz. Aber zum Neustart des Spielbetriebs will Merzyn zumindest die große Streicherbesetzung auf der Bühne zeigen.

Das Ensemble bringt Arnold Schönbergs Verklärte Nacht und ihre Extreme aus spätromantischem Pathos und chromatisch aufgelöstem Kolorit in eine Balance voller Spannung – ohne dabei die existenziellen Ausnahmezustände zu überhören.

Ein Glücksfall für das Cottbuser Theater. Mit Klarheit und Empathie treffen Musiker:innen, Sänger und Dirigent den richtigen Ton – einen Ton, der Widersprüche nicht auflöst, aber transparent macht. So wie in Brahms etwas komplizierter Satzbezeichnung des zweiten Intermezzo im op. 119: Andante un poco agitato. Gehend, aber auch ein wenig gehetzt. Komplexe Wahrheiten sinnlich erfahrbar machen, ohne sie zu vereinfachen, ist Aufgabe der Kunst. Eine leise Revolution. In einem Konzert in Cottbus kann man sie erleben. ¶