Noch ist das Dirigentenpult verwaist, und Tamires staunt über den Sala São Paulo. Die Schatten auf den Säulen, die Balkone in zwei Stockwerken, die Intarsien auf den Holzvertäfelungen, die Lampen über ihr, die wie Wassertropfen aussehen. Tamires stellt sich vor, wie sie herunterfallen und den Saal fluten. Unter dem Dirigentenpult erahnt sie die erste Saalreihe im Licht der Bühnenbeleuchtung, wo eine ältere Dame im türkisgrünen Seidenkleid unaufhörlich in ihr Handy tippt. Rechts neben Tamires pendelt Carlos auf seinem Sitz nervös hin und her wie eine Wespe im Landeanflug. Tamires’ Vorfreude ist so groß, dass es in ihr gluckst. In einer der hinteren Reihen sitzt ihre Patentante, die aus Angst einzuschlafen eigentlich nie ins Konzert geht. Ihre Mutter ist jetzt tausend Kilometer weit entfernt in Goiânia, ihr Vater wahrscheinlich vor dem Fernseher. Das dritte Pult der ersten Geigen sortiert hektisch die Noten: Tristan und Isolde, Tannhäuser, Lohengrin, Parsifal. Tamires liebt Wagner, weil »es ordentlich rummst« und es viel zu tun gibt für die Hörner.
Am Bühnenrand geht die Tür auf und der Dirigent schwingt herein. Er springt aufs Pult, fletscht die Zähne und ruft in den Applaus hinein ein »Vamos gente« ans Orchester. Als er die Arme ausbreitet, blickt Carlos darauf wie auf einen Schicksalsdaumen. Mit durchgedrücktem Rücken greift Tamires mit der rechten Hand in den Schallbecher, hebt ihr Horn an und setzt beim ersten Flügelschlag des Dirigenten auf den Punkt ein.
Heliópolis, Stadt der Sonne, ist die größte Favela São Paulos. 80.000 Bewohner oder 100.000 oder 120.000 – genau weiß das niemand. Vom Sala São Paulo bis zu Tamires’ Wohnung sind es etwa 20 Kilometer. Über die Avenida Ipiranga und die Avenida do Estado geht es entlang der zäh fließenden Kloake des Tietê immer tiefer hinein in das Favelalabyrinth; Kaskaden geflickter Backsteinfassaden, die übereinandergebaut und ineinander verschachtelt sind. So eng beisammen, dass es kaum einen Ort gibt, der vor Blicken schützt. Über den engen Gassen hängen Kabelknäuel wie schwarze Girlanden.

»Die Zukunft der klassischen Musik liegt in Südamerika«, sagte Simon Rattle 2007 in einem Interview. Wir sind nach Heliópolis gekommen, um über einen Zukunftsort zu schreiben: das Instituto Baccarelli, die Musikschule in der Favela. Wenn hier die Zukunft der klassischen Musik liegt, ist dann Tamires eine ihrer Hoffnungsträgerinnen?
Zwei Tage vor dem Wagner-Konzert stehen wir mit unserem Filmteam in ihrer Wohnung in Heliópolis; sie wohnt auf 20 Quadratmetern zusammen mit einer Freundin. Die beiden teilen sich ein Schlafzimmer; vor dem Spiegel siedeln Kolonien von Wimperntusche, Nagellack und Parfumdöschen. Tamires ist achtzehn. Seit zehn Jahren besucht sie das Instituto Baccarelli; seit zwei Jahren ist sie Hornistin in der Sinfônica Heliópolis, dem Sinfonieorchester des Instituts. Sie trägt ein pinkfarbenes T-Shirt, auf dem »Yes Way« steht. Selbst der Abfalleimer unter der Spüle ist pink. Tamires kocht sich in der Küche auf dem Gasherd eine japanische Instantnudelsuppe – ihr »Grundnahrungsmittel« – und sprudelt dann los. Die Trennung der Eltern, als sie fünf war, und das Aufwachsen bei ihrer Tante. Ihre Mutter, die stets neuen Glücksrittern verfiel, in Gewalt und Drogen gestrandete Freundschaften, Neid und Missgunst in der Familie, »wo niemand irgendwas zu tun hat und alle nur rumhängen und reinreden«. Und ihr gleichgültiger Vater. (»Wenn ich ihn fragen würde: ›Papa, soll ich vom Hochhaus springen?‹, würde er antworten: ›Klar, es ist dein Leben‹.«). Wäre man nichts als ein Bündel dessen, was einem im Leben widerfährt, dann wäre Tamires’ Biografie bis hierhin vermutlich die eines Fehlstarts.

»Ich war immer nur das schwarze Schaf, die ›Verlorene‹. Diejenige, die vermutlich mit 15 schwanger wird. Aber in einem Fluss voller Piranhas schwimmt das Krokodil auf dem Rücken.«
Draußen zieht der Wind durch die engen Gassen und lässt die Bettlaken an den Wäscheleinen wie aufgeblasene Zelte über den Terrassen baumeln. Das Filmteam wird langsam nervös, weil sein stadtteilfremdes Auto auf der Straße zunehmend argwöhnische Blicke auf sich zieht. Gegenüber steht ein Mann im Unterhemd und rasiert sich nass. Drinnen schlürft Tamires die Suppe und erzählt weiter: von der Musik, ihrem Horn und Begegnungen mit dem internationalen Klassik Jetset; mit Zubin Mehta und Joshua Bell – die ihr vollkommen unbekannt waren, bis sie plötzlich vor ihr standen. Und davon, dass sie jetzt ein glücklicher Mensch sei.
Tannhäuser und Drogen im Plauderton, Zubin Mehta in der Favela, ein Horn und die Rettung der klassischen Musik. Alles verschwimmt zu einem Brei vermeintlicher Widersprüche. Und je größer deren Anzahl, desto verlockender die Versuchung, alles auf einen Nenner zu bringen. Und dazwischen lauter wundersame Hypothesen, in denen Musik als Allheilmittel auftaucht. Kommt nach der militärischen Befriedung der Favelas die Kulturbürgerliche?
Unser Film über Tamires, das Instituto Baccarelli und Heliópolis
Edilson Ventureli ist der musikalische Leiter des Instituto Baccarelli. Auf seinem Schreibtisch liegen die Partitur von Parsifal und eine neue CD-Einspielung von Brahms’ Klavierkonzerten. Von hier fällt der Blick auf die geduckten Häuser der Favela, deren Ausmaße von oben nur zu erahnen sind, weil Heliópolis fast unsichtbar in die Ecke getrieben ist zwischen Ausfahrtstraßen und Abwasserflüssen. In der Ferne drohen die endlosen Hochhausschluchten São Paulos wie eine riesige heranrollende Lawine. »Wenigstens vergisst man hier nie, wo man sich befindet«, sagt Edilson, und es klingt so, als müsse er sich dessen öfter vergewissern.
Was in den 1960er und 1970er Jahren als illegale Bebauung begann, hat mittlerweile den Status eines »bairro«, eines offiziellen Stadtteils, nicht vergleichbar mit Slums in Indien, Bangladesch oder Nigeria: Es gibt Abwasserversorgung, Elektrizität, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, gepflasterte Straßen. Trotzdem haben 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner keine geregelte Arbeit, nur 35 Prozent einen Schulabschluss, und das monatliche Durchschnittseinkommen in Heliópolis beträgt weniger als 200 Euro. Und noch immer ist nicht jeder Taxifahrer bereit, hierherzufahren.
Außerhalb Brasiliens kennt man vielleicht Fernando Meireles Film City of God und die Favelas Rio de Janeiros auch deshalb als einen Klischeecocktail aus roher Gewalt, Armut, Samba, Sex, Drogen und Caipirinha. Das hat die Stadteile dort zu einer Top-Attraktion für Armutsvoyeure, Celebrities und Politiker gemacht; es gibt eine Seilbahn, die Touristen mitten in die einstmals berüchtigte Favela Complexo do Alemão gondelt, und Touranbieter, die »Favela Adventures« heißen. Die Satiregruppe Porto dos Fundos hat einen Videoclip veröffentlicht, in dem eine Gruppe Touristen in einem offenen Pick-up auf Armutssafari durch die Favela gekarrt wird.
In einigen »befriedeten« Favelas regiert jetzt die Polizei, was oft nur heißt, dass statt der Dealer andere abkassieren, insbesondere mit der Gentrifizierung: Viele Favelas in Rio liegen in bester Hanglage, gleich hinter den Top-Strandbezirken wie Leblon und Ipanema, mit traumhaften Blicken auf die zerklüftete Bucht. Heliópolis liegt nicht am Strand und es kommen auch keine Touristen. Aber aufgrund der attraktiven Lage haben sich auch hier die Immobilienpreise in den letzten Jahren verdreifacht; das wild wuchernde São Paulo verleibt sich langsam seine Peripherie ein. Und letztes Jahr war Megan Fox da und hat sich eine Capoeira-Aufführung angeschaut.
Orte wie Heliópolis erreichten das öffentliche Bewusstsein in Brasilien selbst lange Zeit nur in Hiobsbotschaften: 1996 brannten hier Hunderte Häuser, die Backsteinfassaden bildeten ein Meer aus Brandbeschleunigern; 20 Menschen starben. Der Dirigent Silvio Baccarelli sieht die Brandkatastrophe im Fernsehen und bekommt die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Gegen das Ohnmachtsgefühl im Angesicht von Katastrophen kämpft jeder mit seinen eigenen Mitteln. Baccarelli fährt nach Heliópolis und bietet der ersten Grundschule, die er dort sieht, Musikunterricht an. Seine Vision ist es, über die Musik den Kindern das Bewusstsein des eigenen Wertes, der eigenen Stimme, der Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu vermitteln.

Heliópolis, Stadt der Sonne, ist die größte Favela São Paulos. 80.000 Bewohner oder 100.000 oder 120.000 — genau weiß das niemand.
Die Zusage des Schulleiters kommt erst sechs Monate später – »vermutlich hatte er es satt, dass Silvio da immer wieder aufkreuzte und ihn mit seinen Ideen nervte«, sagt Edilson. Nach einigen Monaten hat Baccarelli bereits mehr als 30 Schülerinnen und Schüler, die er in seinem eigenen Haus im bürgerlichen Vila Mariana unterrichtet. Mit einem Mietwagen lässt er sie zum Unterricht abholen und danach wieder nach Hause bringen, vier Jahre lang, wöchentlich. Es gibt keinen richtigen Plan und keine Finanzierung.
2006 zieht das Institut dann in eine ehemalige Saftfabrik in Heliópolis um, drei Jahre später mit der Hilfe von Sponsoren in einen fünfstöckigen Neubau mit 2800 Quadratmetern Fläche, 35 Klassenräumen, Proberäumen für die Orchester, Bibliothek, Instrumentenarchiv, Umkleideräumen. Das Institut gleicht seitdem einem riesigen Frachter, der in einem Fischerdorf gestrandet ist. Mittlerweile durchlaufen hier mehr als 1.000 Schülerinnen und Schüler die verschiedenen Etappen der musikalischen Ausbildung, von der Früherziehung über die Chorgruppen in die diversen Orchester. »Unser größtes Problem stellte sich bald als größtes Glück heraus: die Tatsache, dass wir nie einen richtigen Masterplan hatten. Also fragten wir uns immer wieder neu: ›Wie sollen wir dies jetzt machen und wie könnte jenes funktionieren?‹«
Das Institut ist zu einem Ort geworden, der neben dem musikalischen auch ein soziales Versprechen macht. Tamires erzählt von der Mutter einer Hornistenkollegin, die als Putzfrau »bei den Reichen« arbeitete, in deren Häusern oft klassische Musik lief. »Da entschied sie sich, ihre Tochter ins Institut zu schicken. Um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen.« Es gibt mittlerweile einen von Volkswagen gesponserten Schulbus, und in der Powerpoint-Präsentation des Instituts ist von »systemischem Einfluss«, »Zukunftsinvestment« und »nachhaltigem Wachstum« die Rede. Laut Edilson gibt es inzwischen viele – auch in der Politik –, die Interesse haben, in Heliópolis zu investieren, »weil man hier etwas bewegen kann.« Die Wand im Proberaum des Orchesters sieht aus wie eine jener Werbetafeln, vor denen bei Filmpremieren Interviews gegeben werden. Bei der Sponsorensuche hilft, dass klassische Musik auch in Brasilien in die Phalanx bürgerlicher Statussymbole gehört, neben der Gucci-Tasche, Sushi und BMW. Die Musikgruppen des Instituts werden jetzt oft zu Autohauseröffnungen oder Firmenfeiern eingeladen. Sie haben Faith No More bei Rock in Rio begleitet, in Roger Waters’ Show The Wall gesungen und beim Papstbesuch 2007 gespielt; und auf der Hochzeit des Formel-1-Fahrers Felipe Massa den Hochzeitsmarsch. Edilson weiß, dass der Grad schmal ist: zwischen Charity-Flair und der Chance, den Studierenden des Instituts eine Bühne zu geben.
Trotzdem sind von den ursprünglich 50 Schülerinnen und Schülern, die mit Tamires anfingen, nur drei übrig geblieben; ihre Schwester und ihre Cousine sind schon vor Jahren abgesprungen. Viele Familiengeschichten in Heliópolis sind verschachtelt und verknotet, zwischen Zuzug und Wegzug, voller abgebrochener Anfänge. »Es ist schwer, mit den Schülern in Kontakt zu bleiben, viele wechseln ihre SIM-Karten öfter als die T-Shirts«, sagt Edilson. Spätestens mit 16 müssen Jugendliche in Heliópolis auch die Familie mitfinanzieren und neben der Schule arbeiten, in Restaurants, Kiosks, als Reinigungskräfte. Musik, und dazu noch klassische, gilt hier nicht als etwas, womit man Geld verdienen kann. Um das Gegenteil zu beweisen, wird den Studierenden in den Orchestern ab einem gewissen Niveau und Alter ein Gehalt gezahlt, mit dem die meisten in ihren Familien die Großverdiener sind. Sonst könnten wohl die wenigsten bleiben. Auch den Lehrkräften wird mehr gezahlt als an öffentlichen Musikschulen. Tamires verdient derzeit 1000 Reais, etwa 400 Euro im Monat. Genug, um die Miete zu zahlen und selbstständig zu leben.
Es ist ein strahlender Sonnentag. Über den Dächern von Heliópolis zittern bunte Papierdrachen durch den Herbsthimmel. Einige haben aufgemalte Gesichter, die sich im Wind zu Fratzen verziehen. Früher, vor der mobilen Kommunikation, wurden die Drachen als Signal an die Drogenhändler eingezogen, wenn die Polizei in die Favela eindrang. Tamires übt in einem der kleinen Proberäume des Instituts ihre Orchesterpartitur. Manchmal übt sie auch in der Schule für ein Examen. Dann fragen sie die anderen Mädchen, ob das Musik sei, was sie da spiele. Und ob sie mal auf ein richtiges Konzert mitgenommen werden wolle. Ihr macht es nichts aus, dass sie für verrückt, uncool und unmodisch gehalten wird. »Die anderen haben nicht dieselben Chancen gehabt, also kann ich nicht wirklich was Gemeines über sie sagen.«
Als die Instrumentenwahl anstand, wollte sie eigentlich Geige lernen, aber sie fiel durch den Einstufungstest. »Und zufällig war dann ein Test für Horn angesetzt, den ich eigentlich gar nicht mitmachen wollte, weil ich das Instrument nicht kannte.« Sie hatte es immer mit einer Tuba verwechselt, machte den Test dann aber doch und bestand. Heute sagt sie, dass das Horn wie eine Tochter für sie sei, auf die sie ihr Leben lang aufpassen wolle.

Tannhäuser und Drogen im Plauderton, Zubin Mehta in der Favela, ein Horn und die Rettung der klassischen Musik. Alles verschwimmt zu einem Brei vermeintlicher Widersprüche. je größer deren Anzahl, desto verlockender die Versuchung, alles auf einen Nenner zu bringen.
Das Institut wurde schnell zu ihrem Lebensmittelpunkt; dabei gab es einen Moment, in dem auch Tamires dem Institut fast den Rücken gekehrt hätte: Sie hatte immer davon geträumt, noch einmal mit ihrer Mutter und ihren Brüdern zusammenzuwohnen. »Als es dann so weit war, dachte ich: Jetzt sind meine Träume wahr geworden.« Bis ihre Mutter nach fünf Monaten einen neuen Mann kennenlernte und 1.000 Kilometer weiter weg nach Goiânia zog. »Ich bot ihr an, das Institut zu verlassen und Geld nach Haus zu bringen – damit sie bleibt.« Aber ihre Mutter ging trotzdem. Es ist der Moment, in dem sich Tamires’ routinierter Plauderton kurz auflöst. »Was hätte ich in Goiânia tun sollen? Die Wand anstarren? Ein Fisch ohne Wasser?« Kurz darauf bot man ihr im Institut eine Praktikumsstelle in der Sinfônica an, dem musikalischen Flaggschiff des Instituts. Das gab ihr die Möglichkeit, unabhängig zu sein und bei ihrer Tante auszuziehen.
Seit einigen Monaten assistiert sie zusätzlich in einer der musikalischen Früherziehungsgruppen des Instituts. Wenn sie auf der blauen Schaumstoffmatte sitzt und zur Klaviermusik Entspannungsübungen vormacht, wahrnimmt, wie die Kinder jede ihrer Bewegungen gebannt verfolgen und aufnehmen, sich um sie scharen, dann merkt ein Beobachter schnell, dass sie hier in ihrem Element ist. Tamires redet viel davon, etwas weitergeben und Verantwortung übernehmen zu wollen. Einige Schülerinnen hat sie schon davon überzeugt, am Institut zu bleiben, indem sie ihnen von der Wichtigkeit erzählt hat, die eigenen Träume zu verwirklichen. Aus ihrem Mund klingt das nicht wie ein auswendig gelernter Kalenderspruch.
Geschichten wie diese sind der Klassikwelt oft zu Kopf gestiegen, spätestens seit das venezolanische Projekt El Sistema und seine Protagonisten wie der Dirigent Gustavo Dudamel dort zu Heilsbringern avanciert sind. Man braucht dort dringend neue Geschichten. Und so werden seitdem unentwegt »perspektivlose Menschen mit Forte und Presto aus den Slums geholt«, passiert eine »soziale Revolution mit Geigenbögen« – und Mozart und Beethoven werden zum »Ausweg aus dem Teufelskreis von Armut, Drogen und Gewalt«. Als die Sinfonica Heliópolis 2010 beim Beethovenfest in Bonn zu Gast war, schrieb eine Zeitung darüber, wie der »geduldige Klangerzieher« insbesondere »die zwei kaffeebraunen Hornistinnen« lobte.
Wenn man ihn auf solche Aschenputtelgeschichten anspricht, legt Edilson die Hände zusammen und inhaliert für eine Weile die Luft im Hohlraum. Dann erzählt er Geschichten von havarierten Biografien, talentierten Musikern, die statt der Musik- eine Drogenkarriere begannen, von Familien, in denen »Musiker sein« keine Existenzberechtigung hat. Und davon, dass kein Schüler und keine Schülerin ein einfacheres Leben in Heliópolis hat, nur weil er oder sie Musik macht.
Auch wenn man sich mit Tamires und anderen Schülern im Instituto Baccarelli unterhält, ist weniger von der Musik die Rede, von Beethoven oder den Idealen der Aufklärung, vom Aussterben der klassischen Musik oder deren Zukunft. Sondern von einem Ort, an dem im richtigen Moment Perspektiven und Möglichkeiten angeboten werden: »Als hätten sich, gerade als meine Mutter die Tür zugeschlagen hat, neue Türen geöffnet.« Geschichten über den passenden Zeitpunkt, über ergriffene Chancen und verschlossene Türen kann man vermutlich auch in Fußball- oder Kunsthandwerksschulen erzählen.
Zwei Wochen nach dem Wagner-Konzert: Generalprobe im Sala São Paulo, 1.498 Plätze, 87 leere Stuhlreihen, wie zum Appell angetreten. Wieder spielt Tamires mit der Sinfônica Heliópolis. Auf dem Programm steht Lalos Cellokonzert. Der Cellist Antonio Meneses ist einer der wenigen brasilianischen Klassikstars. Er erzählt nach der Generalprobe begeistert vom Meisterkurs, den er am Vortag in Heliópolis gab. Vom Enthusiasmus und der Lernbegierde, der überraschenden Qualität der Schüler und ihrer Fähigkeit, Ratschläge sofort umzusetzen. Man hört so etwas oft, wenn Profimusiker sich in Bildungsprojekten engagieren. Vermutlich liegt es auch daran, dass Impulse im Klassikbetrieb selten so direkt und gerade zurückkommen oder Musik von Brahms oder Mahler ohne das Gepäck von Perfektionismus, Aufführungspraxis und Dienst nach Vorschrift gespielt wird. Vermutlich ist es das, was Simon Rattle mit der südamerikanischen Zukunft der klassischen Musik meinte. Einerseits.
Andererseits steckt auch Augenwischerei dahinter, wenn so getan wird, als könnten es junge Musikerinnen und Musiker mit Biografien ohne bildungsbürgerliche Fragmente wirklich schaffen. Angesichts der Talentflut aus Europa, Asien und Amerika. Und angesichts der Tatsache, dass die meisten musikalischen Karrieren durch die Trampelpfade vorheriger Generationen angelegt wurden. Gustavo Dudamels Vater war Posaunist; Abreu, Gründer von El Sistema, ist Sohn einer Opernsängerin. Die soziale Wirklichkeit in Heliópolis sieht ein maximal gefördertes »Wunderkind«-Dasein nicht vor. Und das ästhetische Urteil der Klassikwelt kann gnadenloser sein als in jeder anderen Musikszene: Die vormals gepriesene »Lust am Spiel« ist dann technisch und interpretatorisch plötzlich doch zu wenig. In der Sinfônica spielen mittlerweile Musiker aus ganz Brasilien, ungeachtet ihrer sozialen Herkunft. Wenn man im Institut nach vielversprechenden Nachwuchshoffnungen fragt, wird ein Cellist namens Luiz Fernando Ventureli genannt. Er ist der Sohn von Edilson.
Tamires denkt nicht daran, als sie an diesem Abend ihre Sachen zusammenpackt und aus dem Saal auf die Straße tritt. Eine brasilianische Flagge knistert im kühlen Abendwind, hier, mitten in Cracolândia, wo das Zentrum der Stadt aussieht wie lungernde Hunde. Sie fährt jetzt erst mal zurück nach Heliópolis, ihrer Heimat, wo sie sich so wohlfühlt. Eines Tages würde sie gern eine Ausbildung zur Lehrerin machen und Kinder unterrichten. Oder vielleicht in die USA gehen, um Horn zu studieren. Sie war noch nie im Ausland. Aber hinter dem unbekümmerten Plauderton erklingt eine Bestimmtheit, in der diese Träume wie reife Früchte erscheinen, die sie nur ernten muss. ¶
Genau einen Monat nach dem Konzert im Sala São Paulo, in der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 2013, brennt es erneut in Heliópolis. Wieder werden die Backsteinfassaden zu Briketts, wieder Dutzende von Häusern zerstört. Drei Menschen sterben, fast 1.000 werden obdachlos.