Seit Beginn meiner Anstellung als Musikdozent am Sapir College, trug ich diesen Drang in mir: einmal am Tagesende in die Negev Wüste zu fahren und mir dort den Sonnenuntergang anzuschauen. Dieser südliche Teil Israels ist berühmt für sein besonderes Licht und eine gigantische rote Abendsonne.
Und der Tag kam. Es war gegen fünf Uhr nachmittags: Als sich meine Studentinnen und Studenten nach dem Seminar verstreuten, eilte ich zum Parkplatz, denn die Zeit war knapp: Zu dieser herbstlichen Jahreszeit verschwindet die Sonne fast im freien Fall im Mittelmeer.
Ich fuhr Richtung Westen, Richtung Meer. Der schönste Strand der Welt liegt nur 14 Kilometer entfernt, theoretisch ein Katzensprung. Doch ich hätte genauso gut planen können, zum Mond zu fahren. Zwischen meinem College in der Stadt Sderot und dem Strand liegt verbotenes Land, abgeschottet durch Zäune, Mauern, Kasernen und Warnhinweise, nur bloß nicht zu nahe zu kommen. Ein Land, zu dem keinem Israeli der Zugang gestattet ist – und das nun, zwei Jahre nach diesem einsamen Ausflug, zerstörtes, zerbombtes und verbranntes Land ist: der Gazastreifen.
Ich fuhr damals so schnell ich konnte. Ebenso schnell verwandelte sich die Landschaft vor meinen Augen: von Feldern und Dörfern zu beängstigend verlassenen Straßen. Bis auf mein Auto schien alles still zu stehen. Und schon nach vier Kilometern wurde mein Ausflug beendet – Zutritt verboten. Ich stieg aus dem Auto und sah, wie die Sonne über den nahen Dächern Gazas unterging. Sie war riesig und schien zum Berühren nah.
Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich einer lieben Freundin aus Gaza gegeben hatte: eines Tages diesen Sonnenuntergang zusammen mit ihr zu erleben. Obwohl wir uns vor acht Jahren das letzte Mal gesehen und seither kaum Kontakt hatten. Zu schmerzlich ist die Distanz, die durch ihr Gefangensein im Gazastreifen zwischen uns steht.
Sie war überrascht, meine Stimme am Telefon zu hören, doch sie verstand schnell und lachte. Still beobachteten wir das Schauspiel der Natur; gemeinsam, getrennt. Als es begann zu dämmern, fing Muna an, sich um meine Sicherheit zu sorgen. Wie immer versprachen wir einander, uns bald, sehr bald zu treffen. Eine knappe Stunde später kam ich zu Hause in Tel Aviv an.
»Hier zu lehren oder zu studieren bedeutet, in einem sinnlosen, grausamen Kampf gefangen zu sein.«

Am Sapir College Musik zu unterrichten beinhaltet ebenso viele Absurditäten wie dieser kleine Ausflug. Es kann vorkommen, dass, während wir in einer Vorlesung über Beethoven seiner Pastorale lauschen, die Studenten und Studentinnen plötzlich aufgeregt ihre Handys austauschen – mit der Nachricht, dass in der Nähe Raketen eingeschlagen haben. Sobald die Sirenen ertönen, stürmen alle gemeinsam in den nächstgelegenen Schutzraum.
Hier zu lehren oder zu studieren bedeutet, in einem sinnlosen, grausamen Kampf gefangen zu sein; während deine Brüder aus Gaza ihre Raketen auf dich feuern, bombardieren deine eigenen Leute diese mit Schiffen, Bomben, Panzern und Kampfjets. Im Süden Israels, nur 67 Kilometer von Tel Aviv entfernt, hängt das normale Leben am seidenen Faden: Es kann jederzeit enden, wie im Sommer 2014, den die Menschen mehr oder weniger im Schutzraum verbracht haben – wenn sie überhaupt einen hatten. Viele verloren ihre Lebensgrundlage, wenn nicht gleich ihr Leben – auf beiden Seiten der Grenze.
Gleichzeitig bedeutet am Sapir College Musik zu unterrichten auch pure Freude. Die Freude, einem schier unersättlichen Hunger nach Wissen zu begegnen. In Israel bieten die academic colleges, die meist außerhalb der großen Städte gelegen sind, eine Alternative zu den vier Universitäten: der Hebräischen Universität Jerusalem, der Universität Tel Aviv, der Universität Haifa und der Ben-Gurion-Universität des Negev.
Klar, Israel ist ein sehr kleines Land, im Vergleich zu Europa erscheinen die Entfernungen unbedeutend. Doch die Distanzen im Geiste sind hier allerorten eigentlich schon immer immens gewesen. Für die Studenten, die am Sapir College studieren, weit entfernt vom Zentrum (die besagten 67 Kilometer), heißt das, sich ein neues Zuhause zu schaffen, weit weg von ihrer Heimat.
»Wenn man nicht gerade dort geboren ist, fühlt es sich an, als betrete man unentdecktes, fremdartiges Terrain.«

Was zu diesen geistigen Entfernungen hinzukommt, ist das Klima: In diesem kleinen Land Israel verdichten sich die unterschiedlichsten Klimaextreme. So kann es sein, dass auf dem täglichen Weg zum College zuerst Berge, dann gemäßigtes Mittelmeerklima und schließlich die Wüste durchquert werden. Scheinbar endlose, gelbe Landschaft, immer durstig in der sengenden Hitze, öde im Sommer und dann plötzlich durch Grün erlöst im Winter. Wenn man nicht gerade dort geboren ist, fühlt es sich an, als betrete man unentdecktes, fremdartiges Terrain. Das danach drängt, erkundet zu werden: topografisch und noch viel mehr gesellschaftlich.
Deshalb sind die Studierenden am Sapir College Erforschende – nicht nur akademischer Inhalte. Dieses Verlangen nach Wissen, gepaart mit einem besonderen Sinn für das soziale Miteinander, ist mir von Anfang an aufgefallen. Neben der Tatsache, dass diese jungen Leute über Talent, Fantasie und Neugierde verfügen, trägt sie auch das besondere Gefühl, diesen Weg gemeinsam zu gehen; nicht nur als zusammengewürfelte Einzelgänger, die irgendwann wieder auseinander gehen.
Meine Musikstudenten und -studentinnen sind keine Musiker oder Musikerinnen. Sie belegen Musik als Wahlfach der freien Künste innerhalb des Culture Department. Ich lehre abendländische klassische Musik, meine Kollegen ergänzen das Curriculum mit Kursen über Populärmusik oder nicht-westliche Musik, meistens des Mittleren Ostens. In diesem Jahr haben wir einen Chor gegründet und bieten Seminare, Theorie und Hörtraining an. Unsere gemeinsame Arbeit ist ein Drahtseilakt: zwischen dem Anspruch, akademische Lehre auf höchstem Niveau anzubieten und der zeitweisen Notwendigkeit, die Studierenden ganz unten abzuholen.
»Wie kann es sein, dass junge Menschen in ihren Zwanzigern noch nie in ihrem Leben eine Violine oder ein Cello gehört haben?«

Natürlich wissen die Studenten und Studentinnen viel über Musik. Über ihre Musik; die Musik, die sie lieben. Dieses Wissen ist ein wertvoller Ansatzpunkt, wenn es darum geht, ihnen etwas über Musik beizubringen, die sie noch nicht kennen. Es scheint manchmal der einzige Ansatzpunkt zu sein. Wie kann es sein, dass junge Menschen in ihren Zwanzigern, aus allen Ecken Israels, mit allen möglichen Hintergründen, noch nie in ihrem Leben eine Violine oder ein Cello gehört haben? Von dem Spielen eines Instrumentes ganz zu schweigen. Wie kann es sein, dass sie die Instrumente eines Sinfonieorchesters nicht beim Namen nennen können, sich die Ohren zuhalten, wenn sie eine Oper hören und jeden »klassischen« Ton abwehren?
Ein maßgeblicher Teil der zionistischen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruhte auf Musik – wie es in Europa im 19. Jahrhundert der Fall war. Musik als Teil der nationalen Identität – auch wir sind durch diese prägende Phase gegangen. Und während dieser Phase erschien es als Berufung, als Pflicht, Musik zu lehren und zu lernen, neue israelische Musik zu erschaffen, Ensembles und vor allem Chöre zusammenzustellen, die die neuen Botschaften singen und verbreiten konnten.
Heute schwindet, wie in vielen Teilen der Welt, auch in Israel die Bedeutung von Musik. Musikerziehung ist ein Auslaufmodell.

Der Schwerpunkt lag auf der abendländischen Kunstmusik. Sie war das Zeichen einer hegemonialen und mächtigen Kultur und stellte damit die Myriaden an Klängen des jüdischen Erbes in den Schatten – vom palästinensischen ganz zu schweigen. Dennoch blieb das kulturelle Kapital unermesslich.
Heute schwindet, wie in vielen Teilen der Welt, auch in Israel die Bedeutung von Musik. Musikerziehung ist ein Auslaufmodell. Nur wenig ist vom goldenen Zeitalter der Musik von den 1940er bis 60er Jahren übrig geblieben.
Doch als Pioniere, tauchen hier und da Musiklehrer und -lehrerinnen auf, die daran wieder anknüpfen wollen. Das Institut am Sapir College verfolgt ebensolche Ziele: Musik zurück zu bringen, zu fordern, dass junge Menschen zumindest eine Chance haben, Musik in all ihrer Vielfalt zu erleben. Und junge Menschen mit etwas auszustatten, das viele als grundlegendes Menschenrecht ansehen: der Fähigkeit, mit anderen, vor allem aber mit sich selbst zu kommunizieren – über den non-verbalen und abstrakten Weg, den Musik ermöglicht.
Wir wollen die erhebende Erfahrung ermöglichen, dass Musik tief transformieren kann.

Hier wollen wir zeigen, dass klassische und ethnische Musik erlernt und verstanden werden muss, um ausgekostet werden zu können. Wir wollen die erhebende Erfahrung ermöglichen, dass Musik tief transformieren kann – und nicht immer nur Vergnügen bereitet. All dies bieten wir an, ob die Studierenden es annehmen, liegt an ihnen.
Die Studierenden werden mit fremder und auch befremdlicher Kunst konfrontiert, die schon immer auch Aversionen hervorrief; und können so erfahren, wie sehr auch eine neue Art von Musik genossen werden kann, wenn man sich intensiv mit ihr auseinandergesetzt hat. Unsere Hoffnung ist, dass diese jungen Menschen dadurch realisieren, dass auch der »Feind« auf der anderen Seite der Grenze – so nah und doch Lichtjahre entfernt – studiert und verstanden werden kann. Dass das Gefühl der Entfremdung eine Folge von Unkenntnis und nicht naturgegeben ist. Auch das kann zu einem bedeutsamen Wandel führen – der vielleicht noch wichtiger ist als die Musik selbst. ¶