Die Partitur für die neue Oper South Pole an der Bayerischen Staatsoper ist dreitausend Stimmen-, eintausend Partiturseiten schwer. Bei ihrer Entstehung flogen ein paar Tastaturen aus einem Fenster in Krakau. Zwei Interviews mit polnischen Notensetzern.

Text Jeffrey Arlo Brown und Lena Pelull · Fotos Piotr Kolodziej · Datum 10.02.2016

VAN: Wie haben Sie mit dem Notensetzen angefangen? 

Piotr Kołodziej: Mitte der 1990er Jahre habe ich an der Hochschule Rzeszów Musik studiert, ich bin Musiklehrer von Beruf. Später, 1997, habe ich dann Musikwissenschaft, vor allem alte Musik, an der Jagiellonen-Universität in Krakau studiert. Das ist das Wichtigste für meinen heutigen Beruf als Notengrafiker und Notensetzer. 

Daraufhin habe ich auch ernsthaft angefangen mit Notensatz, am Anfang vor allem mit älterer Notationskunde: Mensuralnotation, Orgeltabulaturen und so weiter. Mir gefielen die Regeln und die Praxis des Notensatzes sehr. 

Aus Gesprächen mit Redakteuren vom Bärenreiter-Verlag oder Schott Music weiß ich, dass es auch in Deutschland keine Seminare gibt, die Notensatz oder Notengrafik lehren. Man arbeitet mal mit Urtextausgaben oder lernt, wie man einen Revisionsbericht macht, aber nicht, wie die Arbeit mit Noten wirklich aussieht. Man muss schon ein ziemlicher Autodidakt sein, auch, wenn es um die Software geht – Finale, Sibelius, oder Score. Man muss sehr fleißig sein, um vom Anfang an diese Basis aufzubauen. 

Welche Kombination an Fähigkeiten braucht man, um als Notensetzer zu arbeiten?

Wir sprechen hier über das Notensetzen als Fulltimejob. Wir machen das jeden Tag, die ganze Woche, seit 16 Jahren. Das ist unser Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, kein Notensetzer zu sein, das ist meine Liebe sozusagen.   

Also, was ist Voraussetzung? Die Notationsgrundlage, die Musiklehre, alle Regeln der Musik – das muss man sehr gut kennen. Man muss wissen, warum die Außengestaltung im Dreivierteltakt anders aussieht als die im Sechsachteltakt, die Akzente verstehen … ohne diese Basis kann man kein Notensetzer sein. 

Der zweite Punkt sind die Notensatzregeln. Man kann zwar darüber streiten, welche davon gültig oder ungültig sind, aber es gibt bestimmte Regeln – zum Beispiel wie man Akzente oder Staccatopunkte setzt –, die von den großen Musikverlagen in Europa und den Vereinigten Staaten akzeptiert sind und die man als Basis nehmen kann. Es gibt auch Bücher, so etwas wie Bibeln für Notensetzer. Behind Bars von Elaine Gould ist ein bekanntes Beispiel.

Danach kommen die Software-Kenntnisse. Im professionellen Notensatz kann man nicht entweder mit Finale oder Sibelius arbeiten, ich persönlich arbeite mit beiden. Wenn man technische Fehler macht, werden die guten Musikverlage diese entdecken, und das macht keinen guten Eindruck. Auch wenn es um die Daten geht, muss man Qualität liefern, die müssen sauber sein, es geht auch um die Ästhetik der Daten. Seit sieben, acht Jahren bin ich Beta-Tester bei MakeMusic (Hersteller unter anderem der Software Finale, die Redaktion): Ich versuche, Fehler zu entdecken und neue Möglichkeiten vorzuschlagen, die die Power User wirklich brauchen. Wir sind Teil einer Gruppe von Notensetzern, von denen es nicht viele auf der Welt gibt: wir machen vor allem zeitgenössische Musik. Sowie man ein tool für das Komponieren braucht, brauchen wir eines für große Aufträge wie Miroslav Srnkas South Pole oder Wagners Götterdämmerung, die dreitausend Stimmenseiten, beziehungsweise tausend Partiturseiten, hat. Wir versuchen auch an der Software mitzuarbeiten, um unsere Interessen zu schützen; die Hersteller wollten nämlich auch schon Funktionen entfernen, deren Beibehaltung wir uns erkämpft haben. 

Bei South Pole haben wir 77 Stimmen hergestellt, insgesamt ungefähr dreitausend Seiten. Die Partitur, die ich hier habe, wiegt circa vier oder fünf Kilogramm, und davon gibt es zwei Bände. Ich wusste nicht, wie Kirill Petrenko das dirigieren wollte – man braucht wirklich viel Kraft, um das zu blättern (lacht). 

Der nächste Punkt ist die Typografie: Textelemente oder zum Beispiel drei verschiedene Längen der Striche. Wenn es um die Vereinigten Staaten geht, benutzen wir meist das Chicago Manual of Style. In Deutschland sieht es wieder anders aus. Und jeder Verlag ist anders, da notieren wir uns dann, wie zum Beispiel Bärenreiter oder Universal Edition bestimmte Sachen haben möchten. 

Seit sechs, sieben Jahren erwartet man vom Notensetzer die ganze Produktion inklusive den Schriftsatz: Titelei, Inhaltsverzeichnis, Revisionsbericht, alles. Von mir bekommt man eine PDF-Datei, die gedruckt werden kann. 

Nochmal: Wir sprechen hier von den Musikverlagen, die wirklich gute Qualität liefern, wie Bärenreiter, Schott, Boosey & Hawkes, Universal Edition Wien.            

Selten machen wir auch Aufträge mit Noten aus den 1940er bis 1960er Jahren auf der Ebene der Bildbearbeitung. Ich habe eine neue Edition von Mahler gemacht – der Verlag wollte nicht ganz neu setzen, sondern nur die Fehler korrigieren und das Notenbild ein bisschen verschönern. Wir mussten die Noten wirklich sehr gut scannen –2.400 dp
i – und danach haben wir in Photoshop die unterbrochenen Linien und falsche Tonhöhen korrigiert. Kleine Pünktchen mussten gelöscht werden oder Halbnoten, die teilweise von Tinte bedeckt waren, die wollten einfach alles sauber haben. 



Worüber streiten Notensetzer/innen?

Zum Beispiel über die Position der Balken. Im Notensatz vor der Computer-Ära war das etwas anders: der Druck war ein bisschen unsauber und es konnte sein, dass die Balken und Linien mit Tinte irgendwie zusammenkleben. Man konnte nicht immer wissen, ob Sechzehntel oder Zweiunddreißigstel gemeint waren. Jetzt streiten die Notensetzer, wenn es um die Kurven geht oder ob der Notenhals die richtige Länge hat. Mitunter wird sogar innerhalb der Verlage bei den Redakteuren gestritten …     

Seit wann lagern Verlage das Notensetzen aus? 

In der Regel ist es so, dass kleinere Verlage eigene Notensetzer im Team haben, wohingegen die größeren, die – je nach Produktionsaufkommen – manchmal niemanden und dann wieder ganz viele Setzer brauchen, das Ganze ausgelagert haben. Die großen deutschen und österreichischen Verlage wie Bärenreiter oder Schott Music haben nur die Herstellungsabteilung, also kleine Druckereien. Kleinere Setzaufgaben übernehmen da die Lektoren selbst oder die Praktikanten oder wie bei Boosey & Hawkes auch die Redakteure. 

Wie ist das Arbeitsverhältnis zwischen den Verlagsredakteuren und ihrer Firma? 

Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt mit manchen Verlagsabteilungen durchaus Probleme, irgendwie funktioniert das nicht. Aber es gibt auch positive Beispiele, so wie Bärenreiter Kassel. Dort funktioniert es wunderbar. Generell muss die Kommunikation zwischen Redaktion bzw. Lektorat, Komponist und Notensetzer stimmen, das ist das zentrale Verhältnis. Bei der Produktion von South Pole hat dieses Trio, das aus dem Komponisten Miroslav Srnka, dem Lektor Michael Töpel vom Bärenreiter-Verlag und mir bestand, wirklich gut zusammengespielt und das unter ziemlich großem Zeitdruck. Miroslav hatte später geliefert als geplant, deshalb die Zeitnot. In der Regel kommt da erst der Unmut, dann die Nervosität, denn die Premiere kannst du nicht verschieben. Nach der Premiere sah man Miroslav lächeln, aber wenn ich zwei, drei Monate zurück denke, da sah das ganz anders aus (lacht). Komponisten sind immer zu spät. Ein Lektor im Bärenreiter-Verlag sagt immer ›zu viele Werke sind Spätwerke‹ (lacht). Zu dem Trio Komponist, Verlag, Notensetzer kommt ab einem gewissen Zeitpunkt auch noch das Opernhaus oder das Orchester hinzu. In diesem Quartett werden die Beteiligten oft schnell nervös und man ist viel damit beschäftigt, zu beschwichtigen. 

Klar sind Komponist, Dirigent und Orchester am Ende die wichtigen Protagonisten, aber ohne unsere Arbeit gäbe es kein Endprodukt. Wenn man das vierte Wochenende hintereinander gearbeitet hat und das nicht wertgeschätzt wird, sondern womöglich noch nicht schnell genug geht, ist das ärgerlich. Und so manche Musiker und Komponisten sind nicht besonders gut im Entschuldigen. (lacht) Dann müssen die Redakteure oder die Lektoren die Wogen glätten. Nach einer Uraufführung ist auf einmal alles ganz anders. Dann kommen Komponisten und sagen ›Hey, vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit, super gemacht!‹ 

Wir hatten Kontakt mit einem weiteren Notensetzer, der ebenfalls aus Polen stammt, und der sagte, es gäbe Verleger, die aufgrund der niedrigen Löhne vorzugsweise mit polnischen Notensetzer/innen arbeiten. Ist das auch ihr Eindruck? 

Ja, diese Ansicht teile ich. Die Stundenlöhne hier sind geringer, und wir sind billiger als die westeuropäischen Setzer. Nicht mehr so deutlich wie vor zehn Jahren, das Lebensniveau ist auch hier gestiegen. Bei einer Produktionen wie South Pole arbeiten wir im Vorfeld manchmal bis zu 120 Stunden pro Woche. Die Kosten für so was sind bei uns niedriger, aber eben nicht auf Kosten der Qualität! Deshalb wendet man sich bei solchen Mammutprojekten wie South Pole an uns. 

Waren Sie bei der Uraufführung von South Pole in München? 

Der Bärenreiter-Verlag hatte mich eingeladen, aber ich war nach der Arbeit an der Partitur so müde, dass ich mich entschuldigen musste: Sieben Monate Arbeit, wochenlang wenig Schlaf, Schichtarbeit. Ich wollte Zeit mit meinen Kindern verbringen und musste meine Ehe retten, die sehr unter der Arbeitsbelastung gelitten hatte. Ich wollte kein Opfer dieser Südpol-Expedition werden. Immerhin hatten schon zwei Tastaturen dran glauben müssen, die habe ich während des Arbeitsprozesses aus Ärger aus dem Fenster geworfen. Und ein Minikeyboard habe ich kaputt gemacht. Ja, manchmal muss man sich abreagieren. ¶

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