Ein Interview mit dem Regisseur und Oscarpreisträger Morgan Neville
»Das Gerede von Musik als universale Sprache ist ein ziemlich abgenutztes und missbrauchtes Klischee«, sagt der syrische Klarinettist Kinan Azmeh, einer der Protagonisten des Dokumentarfilms The Music of Strangers. Dass Musik in ihrer kulturellen Verwurzelung aber zumindest Heimat und Identitätsraum im Angesicht von Krieg und Vertreibung bieten kann, zeigt der Film über Yo-Yo Ma und das von ihm gegründete Silk Road Ensemble, der am Montag bei der Berlinale Europapremiere feierte. Und er zeigt die Lebensgeschichte eines der Superstars des Klassik-Jet-Sets, der in der kulturellen Expedition einen Fluchtweg fand aus der Enge und den Fallstricken des eigenen »Wunderkind«-Daseins. Der Regisseur des Films, Morgan Neville, gewann vor zwei Jahren den Oscar für die Dokumentation über Background-Sängerinnen, 20 Feet from Stardom. Wir haben ihn vor der Premiere des Films in Berlin getroffen.

VAN: Beim letztjährigen Toronto International Film Festival warst du mit zwei Dokumentarfilmen vertreten. In einem begleitest du Keith Richards bei der Aufnahme einer Soloplatte, The Music of Strangers porträtiert Yo-Yo Ma und sein Silk Road Ensemble. Sind sich die beiden in Toronto begegnet?
Morgan Neville: Ich habe versucht, sie zusammenzubringen, und sie hätten sich gerne getroffen, aber da beide jeweils nur einen Tag vor Ort waren, ist daraus nichts geworden. Die sind sich ähnlicher, als man annehmen würde.
Wie das?
Keiths Religion ist Musik, sie ist die eine Sache, an die er immer geglaubt hat, die ihn nie verraten hat, und als ich darüber mit ihm nachzudenken begann, wurde mir klar, dass das bei Yo-Yo genauso ist. Musik gibt ihm Sinn und Trost. Und der kulturelle Dialog in der Musik, die Überwindung von Fremdsein und Fremdheit, was dann kulminierte in der Gründung des Silk Road Ensemble, war für ihn die Möglichkeit einer Sinnstiftung jenseits der Trampelpfade der klassischen Musik.

Wie war dein erstes Zusammentreffen mit Yo-Yo Ma?
Er wollte über eine mögliche Konzertaufnahme sprechen, also haben wir uns getroffen. Es war ein super Abend, wir haben viel Wein getrunken, lustige Geschichten erzählt, über Musik gesprochen, philosophiert. Er ist einer der charmantesten Menschen, die ich je getroffen habe, und ich war sofort bereit, ihn mit der Kamera überallhin zu begleiten. Er hat an dem Abend auch ein paar Dinge gesagt, die mich wirklich überrascht haben, zum Beispiel, dass im Mittelpunkt seines Lebenswegs die Frage steht, wie man mit Musik etwas erreichen kann, das über sie hinausgeht. Das hat sofort in mir nachgehallt, weil ich mir als Filmemacher immer eine ähnliche Frage stelle. Aber ich habe dabei bei Weitem nicht die Energie, die Yo-Yo hat.
Zum Beispiel?
Am Ende eines Drehs war er immer der Letzte am Set; ich erinnere mich an viele Szenen in Hotels, wo er in Gespräche mit dem Portier oder der Rezeptionistin vertieft war und wir ihn förmlich in den Bus schleifen mussten. Für ihn ist das das Schöne an seinem Beruf. Ich wünschte, ich hätte diese Energie. Immerhin lebt er seit 40 Jahren on the road.
Im Film sagt Yo-Yos Sohn, dass er als Kind dachte, sein Vater würde am Flughafen arbeiten…
Ja, aber er hat es irgendwie hinbekommen, dabei nicht zynisch zu werden, was in diesem Geschäft bestimmt nicht einfach ist. Außerdem ist er ein echter Spaßvogel und wahnsinnig gut darin, dass sich alle Menschen in seiner Gegenwart wohlfühlen. Er würde dir niemals sagen, was zu tun ist. Er öffnet dir die Tür, durchgehen musst du selber.
Es ist viel Musik im Film; in technischer oder intellektueller Hinsicht wird aber kaum darüber gesprochen.
Das ist auch der Grund, warum viele Leute, die wir interviewt haben, letztlich nicht im Film zu sehen sind.

Bobby McFerrin und John Williams kommen vor; wer hat es nicht in den Film geschafft?
Viele großartige Leute, Emanuel Ax zum Beispiel. Die Sache ist die: Man kann ein intellektuelles Gespräch über Musik als universale Sprache führen, man kann darüber sprechen, wie Tonalität funktioniert, und so weiter und so fort – aber letztlich hält Musik all diese Informationen bereits auf einer emotionalen Ebene bereit, und je mehr man da erklärt, desto weniger stark und unmittelbar wirkt es. Beim Cutten habe ich gemerkt, dass man über all diese hintergründigen Kommentare vielleicht ein Buch schreiben könnte, aber dass sie eher dabei stören, wenn man im Film eine lebendige Geschichte erzählen will.
Besteht darin die Verbindung zwischen Musik und einem guten Film?
Ja, ein guter Film sollte spielen wie gute Musik, rauf und runter, wie Ebbe und Flut, laut und leise. Darüber habe ich in den letzten Jahren viel gelernt: Jedes Mal wenn ich einen Dokumentarfilm sehe, der versucht, von Beginn an einen bestimmten, klugen Gedanken oder eine politische Überzeugung rüberzubringen, erinnert mich das an Spinat essen (lacht), als würde jemand sagen, du musst dich jetzt damit beschäftigen. Wenn du wirklich möchtest, dass die Leute dir zuhören, dann muss man sich mit den Charakteren, um die es geht, identifizieren, muss ihnen Raum und Zeit geben.
Das Silk Road Ensemble spielt Musicawi Silt, ein Arrangement zu einem Stück des äthiopischen Komponisten und Sängers Girma Bèyènè; Sanders Theatre, Harvard University, April 2015
Neben Yo-Yo Ma porträtierst du die Geschichten von vier weiteren Mitgliedern des Silk Road Ensembles: dem syrischen Klarinettisten Kinan Azmeh, der galizischen Gaitaspielerin Cristina Pato, dem iranischen Kamantschespieler Kayhan Kalhor und der chinesischen Pipaspielerin Wu Man. Nach welchen Kriterien hast du die vier ausgewählt?
Mir ging es bei der Auswahl sowohl um eine halbwegs repräsentative geographische und Geschlechter-Verteilung, als auch um unterschiedliche Erfahrungshintergründe. Im Westen, vor allem in den USA, wird häufig angenommen, dass Kultur zwar etwas Schönes, aber auch ein Privileg ist. Im Falle von Sparmaßnahmen wird Kunst meist als erstes weggekürzt; dabei sind all die Dinge, die sie lehrt – Improvisation, Kreativität, Zusammenarbeit – essentielle Elemente einer Gesellschaft. Wenn Musiker wie Kayhan aus Gesellschaften berichten, in denen sie einen hohen Preis dafür zahlen mussten, ihren Beruf ausüben zu können, dann mahnt das an die Kraft der Kunst. Und viele der Revolutionen, die in China, im Iran, vielleicht auch in Russland oder Syrien passieren, sind nicht nur politische oder religiöse, sondern auch kulturelle Revolutionen, weil Kultur beziehungsweise deren Zerstörung ein adäquates Mittel ist, Menschen zu unterdrücken.
»Im Angesicht von Krise und Tragödie gibt es dieses Ohnmachtsgefühl, man fragt sich, was man selbst überhaupt bewirken kann. Ich spiele dieses Stück Holz und Silber und versuche es, mit der Welt in Beziehung zu setzen. Kann es eine Gewehrkugel stoppen, kann es einen politischen Gefangenen befreien? Nein, kann es nicht. In der Hinsicht werden einem die Grenzen des eigenen Tuns bewusst. Aber gleichzeitig will man diese Ohnmacht herausfordern, man will irgendetwas tun, man will nicht pessimistisch zu Hause rumsitzen und sagen »Ich kann eh nichts daran ändern.« Wenn man den Aufstand in Syrien als Wunsch der Menschen versteht, seine Stimme laut und deutlich hörbar zu machen, dann habe auch ich mit meinem Instrument ein Mittel, laut zu sein, ob im Flüchtlingslager oder im Konzertsaal. Und wenn man dabei auch nur einen einzelnen Menschen erreicht, hat man schon etwas bewegt. Ich finde es lohnt sich, in dieser Hinsicht störrisch und hartnäckig zu sein.« Kinan Azmeh, syrischer Klarinettist des Silk Road Ensemble

Du bist ein Musik-Geek und hast Filme über Pop-Kultur, Iggy Pop, Johnny Cash, Keith Richards, Background-Sänger/innen gemacht. Jetzt hast du einen Dokumentarfilm über einen der Protagonisten der Klassik-Szene gedreht. Wie ist dein Eindruck dieser Szene?
Morgan Neville: Eine Gemeinsamkeit mit der Pop-Szene ist sicherlich, dass das Umfeld wahnsinnig dysfunktional ist. Niemand bewegt sich darin, wenn er nicht eine ganz große Leidenschaft für die Sache hat. Nur so kann die Musikindustrie überhaupt überleben. Die Klassik ist für mich der verklemmteste Teil der Musikwelt, in der es den Beteiligten scheinbar wahnsinnig schwer fällt, sich überhaupt und in irgendeiner Form emotional zu zeigen. Die Arbeit mit Yo-Yo war unter anderem aus dem Grund so spannend, weil er wie ein offenes Buch vor einem liegt. Komisch, dass es in der Klassik nicht mehr Leute gibt wie ihn.

Einige Szenen im Film haben in der Zwischenzeit noch mehr Relevanz bekommen als zur Zeit der Aufnahmen, zum Beispiel die in einem Flüchtlingslager für syrische Flüchtlinge in Jordanien.
Es ist furchtbar, dass es immer noch schlimmer statt besser wird. Der Dreh ist mittlerweile eineinhalb Jahre her, und die Lage hat sich eindeutig verschlechtert, auch in Syrien selbst. Zur Premiere heute Abend sind syrische Flüchtlinge eingeladen, es kommen wohl auch einige syrische Musiker. Ich bin gespannt, wie der Abend läuft, da ich den Film selbst noch nie mit einem europäischen Publikum gesehen habe.
Du hast als politischer Journalist angefangen. Wenn du die aktuellen medialen und politischen Debatten verfolgst, bist du froh, dass du nicht länger im politischen Tagesgeschäft aktiv bist?
Ja, ich vermisse den politischen Journalismus nicht. Nicht, weil ich mich nicht mehr für Politik interessiere, sondern weil mich dieses offene Türen einrennen, dieses preaching to the converted, sowohl der linken wie rechten Medien, vor allem in Amerika, gelangweilt hat. Ich habe für das linke Wochenmagazin ›The Nation‹ geschrieben und mit allem übereingestimmt, wofür sie standen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ich Einfluss auf viele Leute hatte. Da hat sich schnell Frustration breitgemacht, als ich jung war. Und ich kam immer wieder auf die Frage, wie man politische Differenzen mit Künstlerischem überbrücken könnte. Mein Film über Johnny Cash (Johnny Cash’s America, 2008) stellt genau diese Frage; wie kann es sein, dass alle, Christen, Republikaner, Demokraten, Punk Rocker, diesen Typen lieben? Was hat er, auf das man sich so einigen kann? Und in Best of Enemies geht es andersherum um die Frage, was passiert, wenn das politische Argument abgeschafft wird, und welche Rolle die Medien darin spielen. In der Hinsicht mache ich also immer noch politische Arbeit. ¶
Der Dokumentarfilm The Music of Strangers kommt bald in die Kinos, genaue Termine stehen noch nicht fest. Yo-Yo Ma spielt im März drei Konzerte in Deutschland: