Wer in jungen Jahren zuhause nicht singt, tanzt, ein Instrument spielt oder aufmerksam Musik hört, fängt damit spätestens und in jedem Fall im Rahmen des Musikunterrichts in der Grundschule an – so die Idee. Eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt jetzt, dass es an deutschen Grundschulen keine Selbstverständlichkeit mehr ist, als Schüler:in überhaupt in allen Klassenstufen Musikunterricht zu bekommen. Die Studie unternimmt den Versuch, im föderalen Dickicht aus Stundentafeln, Bedarfsberechnungen und Datenerhebungen ganz unterschiedlicher Stellen einen länderspezifischen, aber auch bundesweiten Überblick zu geben und Prognosen auszusprechen. Das Ergebnis: Es fehlen in ganz Deutschland gut 23.000 ausgebildete Musiklehrkräfte. Und: Mehr als die Hälfte des Musikunterrichts an Grundschulen wird »fachfremd«, also von Lehrer:innen, die nicht Musik(-pädagogik) studiert haben, gegeben. Besserung ist wegen zu erwartender Pensionierungswellen bei steigenden Schüler:innenzahlen nicht in Sicht. Es braucht also ganz klar mehr Nachwuchs, mehr Absolvent:innen von Lehramtsstudiengängen für Grundschule mit dem Fach Musik. Wir fassen deswegen an dieser Stelle nicht nur die Ergebnisse der quantitativen Studie zusammen, sondern fügen eine weitere Perspektive hinzu: Welchen Handlungsbedarf sehen Studierende und Leitungen der entsprechenden Studiengänge an Universitäten und Musikhochschulen?
Do the math.
In Deutschland gibt es viel zu wenig Musiklehrkräfte. So viel ist schnell klar. Wo genau sie fehlen und wie die Leerstellen (nicht) gefüllt werden, ist schwieriger zu beantworten. Die einzelnen Bundesländer machen einerseits sehr unterschiedliche Vorgaben sowohl bezüglich der vorgeschriebenen Menge des Musikunterrichts als auch über Kombination oder Austauschbarkeit mit anderen (ästhetischen) Fächern. Anderseits findet auch die Datensammlung zu Musiklehrkräften, fachfremdem Unterricht und Unterrichtsausfall auf Länderebene statt, in den Kultusministerien, in den Statistischen Landesämtern und anderen Stellen. Zusätzlich bieten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes und des Sekretariats der Kultusministerkonferenz (KMK) Informationen. Die schwierige Ausgangslage der Studie der Bertelsmann-Stiftung nimmt damit schon einen Handlungsaufruf vorweg: Es braucht ein systematischeres Monitoring zum Musikunterricht an Grundschulen!
Die Studie kommt aber auch mit den zusammengetragenen Daten zu eindrücklichen Ergebnissen: Wie viel Musik überhaupt in der Grundschule angedacht ist, unterscheidet sich von Land zu Land, überall soll jedoch in allen Jahrgangsstufen eigentlich mindestens eine Stunde Musik pro Woche auf dem Plan stehen. Um den von den Ländern angedachten Umfang an Musikunterricht in der Grundschule fachgerecht unterrichten zu können, bräuchte es bundesweit 40.437 Musiklehrkräfte. Allerdings sind aktuell nur 17.290 ausgebildete Musiklehrkräfte in der Grundschule tätig. Es fehlen somit 23.147 Grundschul-Musiklehrer:innen. Im schlimmsten Fall fällt der Musikunterricht so einfach aus. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise haben 5 Prozent der Grundschulkinder keinen Musikunterricht. In Schleswig-Holstein besuchen 2,7 Prozent und in Thüringen 9,6 Prozent der Kinder Schulen, an denen überhaupt kein Musikunterricht erteilt wird.

Aktuell werden viele Lücken gefüllt, indem Musik fachfremd unterrichtet wird. So unterrichten nur in 42,8 Prozent der Schulstunden Musiklehrkräfte, die das auch studiert haben. An vielen Schulen findet sich keine einzige ausgebildete Musiklehrkraft, in Bremen in über einem Drittel der Grundschulen.
Werden zur Bekämpfung dieses Mangels in naher Zukunft keine grundlegenden Maßnahmen ergriffen, prognostiziert die Studie, dass 2028 über 25.000 Musiklehrkräfte für die Grundschule fehlen und der Anteil des fachgerecht erteilten Unterrichts weiter auf 39 Prozent fallen werden. Das liegt vor allem daran, dass in den nächsten Jahren viele Lehrkräfte altersbedingt den Schuldienst verlassen werden und Schüler*innenzahlen voraussichtlich steigen, während die Zahl des qualifizierten Nachwuchses sinkt.
Streichen, aufstocken, ersetzen?
Die Bertelsmann-Studie schlägt eine Vielzahl von Handlungsoptionen vor. Die unkomplizierteste: Musikunterricht streichen oder die Anzahl der Stunde pro Klassenstufe verringern. Das kann, will man eine zumindest grundlegende kulturelle Bildung für alle Kinder ermöglichen, aber natürlich nicht das Ziel sein. Ebenfalls schnell umzusetzen wäre es, wenn »einfach« alle ausgebildeten Musiklehrkräfte in Teilzeit ihre Stundenkontingente aufstockten. Diese Forderung vernachlässigt allerdings die persönlichen Beweggründe, die zur Stundenreduktion geführt haben und sicherlich nicht mittelbar zu ändern sind. Auch die Möglichkeit, mit Lehrer:innen von Musikschulen zu kooperieren, wie es in NRW bereits vielfach passiert, sieht die Studie kritisch, da hier eher instrumentale Kompetenzen als musikalische Bildung im Zentrum stehen. Zudem seien die Musikschullehrkräfte häufig nicht für den Umgang mit Gruppen ausgebildet.
Mehr Lehrkräfte! Nur woher?
Es ist also klar: Wir brauchen langfristig mehr voll ausgebildete Musiklehrkräfte für die Grundschule. Klar ist auch: Wer jetzt ein Musiklehramtsstudium aufnimmt, ist in frühestens 6 Jahren fertig mit der Ausbildung. Es braucht also gleichzeitig kurzfristige Lösungen.
Sogenannte Quer- oder Seiteneinsteiger:innen haben jahrelange Berufserfahrung im Bereich Musik, aber nicht Lehramt studiert. Sie können kurzfristig einspringen. Um sowohl die Qualität des Unterrichts zu gewährleisten als auch die Neulinge vor völliger Überforderung zu schützen, bedarf es verbindlicher Standards und Ausbildungsmöglichkeiten für diese Gruppe, für deren Planung und Umsetzung die Bertelsmann-Studie die Kultus- und Wissenschaftsministerien und die Ausbildungsinstitutionen in der Pflicht sieht. Auch die Nachqualifizierung von fachfremd Unterrichtenden wäre eine Option, die jedoch ebenfalls besser durchdachter Modelle und Weiterbildungsmöglichkeiten bedarf.
Die langfristige Lösung kann nur lauten: Mehr Musiklehrkräfte für die Grundschule ausbilden und den Hochschulen entsprechend mehr Geld für mehr Personal, Räume und Ausstattung zur Verfügung stellen. Die Bertelsmann-Studie fordert außerdem die Musikhochschulen auf, zu prüfen, inwiefern sie Musiklehramt für die Grundschule als Studiengang einführen können. Aktuell bieten lediglich sechs Musikhochschulen in Deutschland derartige Ausbildungen an. In vielen Bundesländern kann man Grundschullehramt grundsätzlich nur an Universitäten studieren.

Das eigentliche Problem ist aber in erster Linie nicht der Mangel an Studienplätzen, sondern an Bewerber:innen für die entsprechenden Studiengänge. »Vor 2017 durften wir gar nicht mehr als 15 Studienplätze anbieten«, erklärt Andreas Ickstadt, der den Studiengang für das Lehramt Musik an Grundschulen an der Universität der Künste (UdK) in Berlin leitet. »Jetzt finden wir nicht genug Bewerber:innen für die 68 Plätze, die wir haben. Im Studiengang Musik für Gymnasien und integrierte Sekundarschulen haben wir die Studierendenzahlen massiv steigern können. Bei Grundschule stagniert es. Dabei ist Berlin seit Jahren der Spitzenreiter bei Zulassungen und Immatrikulationen beim Musiklehramtsstudium für Grundschule. Alle Hochschulen haben also mit zu wenig Bewerber:innen zu kämpfen. Das ist ein bundesweites Problem.« Sophie von Streit, Grundschullehramtsstudentin der UdK, sieht als eine Bewerbungshürde die Aufnahmeprüfung. Sie hat die Prüfung bestanden und ist mit ihrem Studiengang grundsätzlich sehr zufrieden. In Gesprächen mit anderen Interessierten zeigt sich ihr aber: »Viele trauen sich wegen des elitären Rufs der Musikhochschulen nicht, sich zu bewerben. Und später unterrichtet man eh alles. Wenn man gerne Musik lehren möchte, muss man das nicht vorher studiert haben, das ist den meisten klar.« Eine ganz ähnliche Diagnose stellt Thomas Busch vom musikpädagogischen Institut der Universität zu Köln: »Die Bereitschaft, eine Aufnahmeprüfung zu absolvieren, ist zurückgegangen. Wer willens ist, sich so einer Prüfung zu stellen, kommt meistens aus dem Gymnasium und möchte dann auch gerne wieder dorthin. Auch die Musik-Anteile sind im Lehramtsstudium für Gymnasien höher. Für solche Studiengänge gibt es ausreichende Bewerberzahlen. Aber auch bei der Bewerbung für Grundschule schwingt der Nimbus mit, dass man die Prüfung nicht schaffen kann. In der Tat bestehen aber in Köln gut 90 Prozent der Bewerber:innen, die sich der Prüfung stellen und werden auch angenommen.« In Berlin sind es (entgegen anderslautender Berichte) laut Andreas Ickstadt immerhin knapp 70 Prozent.
Eigentlich haben viele ein großes Interesse an Studiengängen, die auf künstlerische Lehre an Grundschulen abzielen, das zeigt sich an der Universität zu Köln. Hier kann man, neben den klassischen Musik- und Kunstgrundschulehramtsstudiengängen, »ästhetische Erziehung«, eine Verbindung aus Musik, Bildender Kunst und Bewegung, als Grundschulfach studieren – ohne vorangegangene Aufnahmeprüfung. »Im Studiengang ästhetische Erziehung für Grundschule haben wir jedes Jahr um die 1.000 Bewerber:innen. Und vielleicht 20 Bewerbungen für den Studiengang Musik an Grundschulen«, so Thomas Busch. »Da ist es schwierig, die Studienplätze auszuschöpfen. In der Landesfachgruppe Musikpädagogik, dem Zusammenschluss aller Ausbildungsstandorte in Nordrhein-Westfalen, bearbeiten wir dieses Thema seit anderthalb Jahren intensiv. Wir versuchen, mit Verbänden und Ministerien zu kooperieren, unter anderem mit der Kampagne ›Lehrer werden NRW‹, zu überlegen: Wie kann man die Ausbildung im Studiengang Grundschule stärken? Durchweg alle Standorte, an denen es in NRW eine Lehramtsausbildung im Fach Musik gibt, haben Schwierigkeiten, ihre Studienplätze auszuschöpfen.«

Bundesweit sind Grundschullehramtsstudierende außerdem seit einigen Jahren verpflichtet, bei bestimmten Fächern zusätzlich intensiv Mathematik und Deutsch zu studieren, so auch bei Musik. Vor allem die Aussicht, Klausuren in höherer Mathematik bestehen zu müssen, kann Angst machen. »Aus der Studienberatung hören wir, dass es die Leute abschreckt, wenn sie hören, dass sie Mathematik studieren müssen«, so Andreas Ickstadt. In Berlin erlebt er einen Bewerber:innenschwund, seitdem diese Drei-Fach-Vorgabe in Kraft ist. Eine Zweifach-Lösung könnte hier für mehr Bewerber:innen sorgen, müsste aber politisch auf Bundesebene gewollt sein. Zudem sind an vielen Hochschulen einzelne oder mehrere der verpflichtenden Fächer zulassungsbeschränkt, also nur mit einem (sehr) guten Abitur studierbar. Den Numerus clausus für alle Musik-Grundschullehramts-Bewerber:innen zu streichen, könnte hier Abhilfe schaffen.
Thomas Busch von der Universität zu Köln sieht weitere Handlungsmöglichkeiten: »Ich glaube, dass wir dazu aufgefordert sind, über die Flexibilisierung unserer Aufnahmeprüfung nachzudenken, weil das ein großer Hinderungsgrund ist. Das sehen wir hier in Köln ganz stark durch den Studiengang ›ästhetische Erziehung‹: Es gibt keinen Mangel an Menschen, die in der Schule die Künste unterrichten wollen, auch nicht für die Grundschule. Es gibt aber einen eklatanten Mangel an Menschen, die bereit sind, sich für das Fach Grundschulmusik zu bewerben. Und das führe ich sehr stark auf die Aufnahmeprüfung zurück.« Ganz abschaffen lassen sich die Aufnahmeprüfungen aus juristischen Gründen nicht so einfach. »Solange der Senat das nicht außer Kraft setzt, sind wir verpflichtet zu prüfen«, so Andreas Ickstadt. »Das war Ende des Jahres in Berlin im Gespräch, die Eignungsprüfung abzuschaffen, ist jetzt aber wieder vom Tisch. Die Durchführung der Zulassungsprüfung hat aber auch sachliche Gründe: Wir müssen ja sicherstellen, dass die Studierenden das Studium innerhalb der Regelstudienzeit schaffen können. Wir kriegen nicht mehr Absolvent:innen, wenn zwar mehr Studierende anfangen, dann aber unterwegs aussteigen.« Thomas Busch sieht aber auch andere Möglichkeiten, die Prüfung zu flexibilisieren und den Studiengang zu öffnen: Mehr Instrumente (auch digitale) zulassen, Jazz, Rock und Popmusik stärken. Oder die Aufnahmeprüfung in einen Einstufungstest umwandeln, »bei dem Bewerber:innen nach einem Eingangstest zum Beispiel in Gruppen A, B und C, in unterschiedliche Niveaus, aufgeteilt werden. So könnte man den Hauptfachunterricht flexibilisieren.«
Dass wir heute viel zu wenig ausgebildete Musiklehrkräfte haben, ist nur ein Teilaspekt des allgemeinen Lehrkräftemangels an Grundschulen. Warum der Nachwuchs ausbleibt, ist auf eine Vielzahl von Problemen zurückzuführen: das schlechte Ansehen des Berufs, Arbeitszeiten von durchschnittlich fast 50 Stunden die Woche, steigende Herausforderungen im Umgang mit den Schüler:innen und Eltern. Speziell für das Fach Musik könnte das mangelnde Studieninteresse aber auch schon eine Quittung für den lückenhaften Musikunterricht im letzten Jahrzehnt sein, vermutet Studentin Sophie von Streit: »Wir haben vielleicht auch das Problem, dass jetzt eine Generation ins Studienalter kommt, die selbst in der Grundschule wenig Musikunterricht oder wenig guten Musikunterricht hatte. Die kommen dann wahrscheinlich auch nicht auf die Idee, Musik auf Grundschullehramt zu studieren. Das ist eine Art Teufelskreis.« ¶