Anlässlich des Branchentreffens und Mini-Symposiums zur Zukunft der »Alten Musik« im Radialsystem am 5. März 2018 haben sich Folkert Uhde und Elina Albach Gedanken über Zukunftsperspektiven der »Alten Musik« gemacht und Ideen für potentielle Impulse zur Diskussion gestellt. Elina Albach hat einen Ausschnitt der Denkanstöße zusammengestellt.
»Wir befinden uns historisch gesehen an einem interessanten Punkt. Alte Musik war anfangs eine subversive, ikonoklastische Bewegung. (…) Jetzt befinden wir uns in einer neuen Ära, in der sich die Historische Aufführungspraxis auf einem sehr hohen Niveau bewegt. Und das birgt die Gefahr, dass es auf eine eigene Art wieder orthodox wird, das der Funke der Fantasie wieder erlischt. Wir müssen den jungen Musikerinnen und Musikern klarmachen, dass sie kühn sein müssen, nicht gut. Wir dürfen niemals selbstgefällig werden.«
Diese Zeilen waren vor knapp einem Monat in einem Interview mit Mark Padmore hier in VAN zu lesen. Da ich mich zu der Generation zähle, die Padmore adressiert, möchte ich eine kurze subjektive Einschätzung zur Gegenwart der sogenannten »Alte-Musik-Szene« voranstellen.
Die angesprochene neue Ära ist eine Folge der Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Seit sich die »Alte Musik« in den 1960er und 1970er Jahre gleich einer Protestbewegung formierte, hat sich vieles verändert. Heute ist die »Alte Musik« im traditionellen Konzertleben angekommen und aufgegangen. Nicht nur die »Alte Musik« hat dabei das Konzertleben geprägt und verändert, auch das Konzertleben hat die »Alte-Musik-Bewegung« modifiziert und beeinflusst.
Eine Neudefinition unseres Genres, unserer »Szene« und unserer Haltung sind für unsere Generation unumgänglich, um auch in den kommenden Jahrzehnten relevant zu bleiben. Der Luxus, in einer etablierten Szene mit exzellenten Ausbildungsstätten ausgebildet zu werden, online auf permanent verfügbare Wissensbestände, Noten und Quellen zugreifen zu können und vollendete Kopien barocker Instrumente spielen zu dürfen, führt manchmal eher zu Imitation und Reproduktion des Konzertverhaltens unserer Lehrergeneration. Ein »Funke der Fantasie« oder eine Aufbruchsstimmung ist nicht unbedingt zu spüren – die Protesthaltung längst vergangen. Wie können wir daraus den Mut zu Experimenten und eine produktive Kühnheit wiedererwecken und mit unserer künstlerischen Tätigkeit verbinden?
Faszination Klanglichkeit: Alleinstellungsmerkmal stärken
Nicht das »Alte/Antike/Historisierende« der Instrumente ist das Besondere. Es ist das Klangspektrum, das Ausübende und Zuhörende fasziniert. Das gilt es als Alleinstellungsmerkmal zu nutzen und gegebenenfalls mit Verstärkung hörbar und erfahrbar zu machen.
»Der höhere Reichtum an Klangfarben auf dem barocken Instrumentarium sowie das komplexere Vorkommen von Obertönen hat etwas mit dem Schwingungsverhalten zu tun. Je leichter etwas schwingt, desto lauter und vermeintlich langweiliger wirkt es. Je ›komplexer‹ etwas schwingt, desto interessanter ist es, aber auch leiser. Durch die tendenziell immer lauteren und komprimierteren Mixe gehen die Nuancen der Klangfarben und der Spielweise der Alten Musik verloren – oder um es mit einfachen Worten zu sagen: Der Klang wird wortwörtlich platt gemacht.« (Jürgen Reis, Chief Engineer MBL Akustikgeräte)
Kompromisse auf Kosten der Musik und des Klanges wirken sich negativ auf die auditiven und emotionalen Eindrücke des Publikums aus. Gerade bei Aufnahmen und in (oft zu großen) Konzertsälen müssen wir den Klang primär in den Vordergrund stellen und individuell optimal unterstützen. Das erfordert eine größere Konsequenz seitens der Musiker und Veranstalter: Entweder müssen wir kleine Besetzungen und Solo-Rezitals in entsprechend intimen und akustisch passenden Räumen programmieren oder in großen Sälen adäquate technische Lösungen (Verstärkung, objektbasierte Verstärkung, Raumsimulations-Software) integrieren.
»Alte Musik« im Zeitalter ihrer vielfältigen technischen Reproduzierbarkeit
Die Entwicklung der »Alte-Musik-Szene« der letzten Jahrzehnte ist eng mit der der Plattenindustrie verknüpft. Sie lässt sich in drei Phasen unterteilen: 1976 befindet sich die »Alte Musik« mit den »Archiv Produktionen« noch in einer absoluten Nische. In den 1980er-Jahren beginnt mit »Das Alte Werk« die Hochzeit der Aufnahmeindustrie, welche ein neues Marktsegment erschließt, ein neues Publikum und neue Umsatzmöglichkeiten generiert: die Erfolgsgeschichte von Ensembles wie der Akademie für Alte Musik, dem Freiburger Barockorchester oder Concerto Köln ist mit dieser Boom-Phase verbunden. Wie die Gegenwart der CD-Aufnahmen aussieht, ist bekannt: statt CD-Käufen wird gestreamt, Aufnahmen werden nicht mehr von Labels, sondern von den Künstlern selbst finanziert. Die dadurch entstehenden Folgen sind unübersehbar. Neu über Aufnahmen und Produktionen nachzudenken, steht für unsere Generation daher hoch oben auf der Tagesordnung. Eine Hinwendung zurück zum Musik-Erleben im Konzertformat anstelle einer rein akustischen Musikrezeption wäre eine Möglichkeit, den Einmaligkeitsaspekt eines Live-Konzerts dem allzeit verfügbaren (und unkuratierten) Streaming entgegenzustellen.

Re-Branding – Inhaltliche Neudefinition des Begriffs »Alte Musik«
Bezeichnet der Begriff »Alte Musik« noch das, was er in den letzten Jahrzehnten benannt hat? Passen seine Bedeutungsebenen zu unserem heutigen Wirkungsspektrum? Wenn man ein fachfremdes Publikum und insbesondere jüngere Generationen für die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts begeistern möchte, sollten wir für das Sprechen und Schreiben über sie über Begriffsalternativen nachdenken. Die beispielhafte Suche auf Youtube zeigt: »Alte Musik«, das sind Schlager und Songs der 90er, nicht Monteverdi und Muffat. Wäre ein Re-Branding eine Möglichkeit, den Begriff inhaltlich neu zu definieren und zu gestalten, so wie Marken wie Birkenstock oder Produkt-Ausdifferenzierungen wie Craft Beer es geschafft haben, ein Image neu und positiver zu besetzen? Die »Alte Musik« an sich und die historische Aufführungspraxis sind kein hinreichendes Alleinstellungsmerkmal mehr. Wir müssen ihre einzigartigen Charakteristika gezielt herausarbeiten und in den Mittelpunkt stellen.
Neue Zielgruppen und neue Kommunikationsformen
Mein Eindruck der Konzerte, in denen ich als Cembalistin auftrete, ist, dass das Publikum zum großen Teil aus Zuhörern im Alter zwischen 70 und 90 Jahren besteht. Das soll hier nicht bewertet werden, führt bei mir allerdings des Öfteren zu dem Wunsch, auch Zuhörer meiner Generation im Konzertkontext anzutreffen.
Wir glauben, dass wir ein neues und jüngeres Publikum nur durch eine Modernisierung der Konzertformate gewinnen, und nur dann, wenn wir dabei gleichzeitig keine Abstriche bei der Darbietungsqualität machen und nicht auf eine Banalisierung der Musik setzen. Dabei können wir auch Potentiale des Zeitgeists nutzen: Die weit verbreitete Sehnsucht nach analogen Klängen, nach Vinyl und handgefertigten Originalen, kann mit dem Bewusstsein für die klanglichen Charakteristika barocker Instrumente und ihrer Manufakturen, dem originalen Aussehen der handgeschriebenen Faksimile und der Ästhetik der Barockära verbunden und kommunikativ vernetzt werden. Barockmusik kann als haptisches und sinnliches Erleben kommuniziert und wieder als ästhetisches Gesamtkonzept gedacht werden.

Gesucht: Zeitgenössische oder zeitgemäße Kultur der »Alten Musik«
Wir brauchen eine zeitgenössische und zeitgemäße Kultur der »Alten Musik«. Dies betrifft sämtliche Parameter der Musikausübung, der Terminologien und Definitionen, der Konzertformate, der Klangimmersion und Kommunikation, der Aufnahmeindustrie usw. Wenn wir an alledem arbeiten, damit experimentieren und darüber reflektieren, schlägt die »Alte Musik« bald vielleicht wieder Fantasie-Funken. ¶