Das Klima ist vergiftet, der öffentliche Diskurs durch ideologische Eiferer und Desinformation korrumpiert, die mehrheitlich prekär lebende Gesellschaft tief gespalten. Wer sich von den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien eine Wende erhoffte, schaut nach der ersten Runde um so bedrückter in Zukunft. Auch wenn Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der sozialdemokratische Gegenspieler des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro, nach der Stichwahl Ende Oktober vermutlich zum dritten Mal das Spitzenamt übernehmen wird, bleibt der Kulturkampf zwischen einem evangelikal befeuerten Autoritarismus und Verfechtern einer aufgeklärten, liberalen, weltoffenen Demokratie bittere Realität. Höchste Zeit, an einen Universalkünstler zu erinnern, der – aus dem Geist der Musik schöpfend – zeitlebens die widersprüchlich flirrende Vielfalt seiner brasilianischen Heimat feierte: Mário de Andrade.

Für die kulturelle Moderne in Brasilien hat sich kaum einer leidenschaftlicher und umfassender eingesetzt als Mário de Andrade. Als Pianist ausgebildet, war er nicht nur eine Lichtgestalt der brasilianischen Literatur- und Kunstavantgarde des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein Pionier der Musikethnographie und öffentlichen Kulturpolitik. Zu seinem Vermächtnis gehört nicht zuletzt ein Libretto, von dem er sich die erste genuin brasilianische Oper versprach: Café. Ein komplexer, ein politischer Text, der die vitale kulturelle Vielfalt Brasiliens gegen die kalte Logik kapitalistischen Verwertungsdenkens beschwört. Achtzig Jahre hat es gedauert, bis das Theatro Municipal in São Paulo sich traute, das Werk vertonen zu lassen und auf die Bühne zu bringen.

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Sein Land hat Mário de Andrade nie verlassen. Doch die Neugier dieses genius universalis kannte keine Grenzen. Mit glühendem Nachdruck definierte er sich als Brasilianer. Doch sein allzu früh abgerissenes Leben war eine einzige Expedition, kontinuierliche Suche nach Identität, nach emotionalen, kulturellen, spirituellen Wurzeln. Dabei ging es ihm weniger um die eigene Person als um die Natur, die Seele, die Essenz des wimmelnden Menschenparks, dem er sich verbunden fühlte. Um die innere Verfassung einer spätgeborenen Nation, die sich auf der Fahne ordem (Ordnung) und progresso (Fortschritt) verordnet hat, in der Regel aber lieber einer situativ improvisierenden Intelligenz als langfristiger Planung vertraut. Die Zukunft Brasiliens, sie lag für ihn in der Besinnung auf die kreative Vitalität einer multiethnischen Gesellschaft, die, durch ihre koloniale Geschichte, durch despotische Eliten und extreme soziale Spannungen gezeichnet, aus kontroverser Vielfalt Funken für eine neue Ausrichtung des alten Traums von Glück, Freiheit, Teilhabe für alle schlagen würde. Und es war dieser Traum, dem er, wie niemand zuvor, eine vielstimmig poetische Prägnanz verlieh, die ihresgleichen suchte – und bis heute nachklingt.

Mário de Andrade 1916 • Foto: Wikimedia Commons (Public domain)

Dass Mário de Andrade, 1893 in São Paulo geboren, 1945 ebendort gestorben, während der 1920er-Jahre zu einer Schlüsselfigur des Modernismo, der Kunstavantgarde seiner Heimat werden würde, war nicht abzusehen. Der Sohn einer bürgerlichen Familie, deren Geschichte sich nicht nur nach Europa, sondern auch nach Afrika zurückverfolgen lässt, galt als Wunderkind am Piano und schien auf dem besten Wege, international Furore zu machen. Ein Schock, den der Unfalltod des jüngeren Bruders auslöste, führte zu einem Tremor, der die Hoffnungen des jungen Virtuosen abrupt zerstörte. Einige Jahre lebte er mit den Eltern zurückgezogen auf dem Land. Gleichwohl blieb die intensive Beschäftigung mit Musik ein wesentliches Movens seiner Entwicklung. Die zweite Leidenschaft: das Studium der Muttersprache, des brasilianischen Portugiesisch, in allen Facetten. Zu einer Zeit, als in den Salons der gehobenen Schichten noch französisches Parlando hallte (das er perfekt beherrschte), als sich Politik, Verwaltung und Presse noch an den imperialen Kodes der ehemaligen Kolonialmacht orientierten, spürte Mário de Andrade dem dissonanten Zauber der Alltagsjargons nach, den Tönen, den Rhythmen, dem Melos, die den Zungenschlag der Zugewanderten, Verschleppten und Verdrängten färbten. Zumal den Wörtern, Wendungen, Namen aus indigenen Sprachen.

Es war diese scheinbar beziehungslose, kontrastsatt-hybride Vielstimmigkeit, die der hellhörige Philologe als elementare Eigenschaft eines postkolonialen Selbstbewusstseins ausmachte. Nicht im Homogenen, sondern im Polyvalenten, nicht in ausgeklügelter Harmonie, sondern in spielerischer Heuristik, nicht in abgezirkelten, sondern in offenen Formen sah er die Blüten, aus denen das von Stefan Zweig später zu einem ewigen Projekt der Zukunft verklärte Land Honig saugen sollte. Eine radikal demokratische, eine visionäre Diagnose, der Andrade mit dem 1928 erschienenen Roman Macunaíma ein schwindelerregend kühnes Denkmal setzte. Das Buch wirkt wie das wirbelnde Prosaexperiment eines mit allen Tricks vertrauten Laut- und Wortjongleurs, der, ein Lächeln im Gesicht, tausend Bälle in der Luft hält – Abenteuergeschichten und Schauermärchen, Sex- und Drogeneskapaden, Farce, Fantasy und Groteske, Drama und Komödie, Dada, Parodie und Satire, nüchterne Chronik und surreale Traumsequenz. Mittendrin: Macunaíma, der »Held ohne Charakter«, ein Indio aus dem Urwald, den es auf der Jagd nach einem verlorenen Glücksstein quer durch das riesige Land und in die Maschinenstadt São Paulo verschlägt, und der am Ende als »großer Bär« zum Himmel auffährt. Wie ein Rhapsode, der die fala impura, die unreine Rede einer dynamisch vibrierenden, kunterbunt sprühenden »Zivilisation der Hitze und des Lichts« besingt, zugleich wie ein Künstler-Demiurg, der den Riten, Kulten und Gebräuchen, denen er unterwegs begegnet, Reverenz erweist, indem er sie benennt und beschreibt, folgt die Titelfigur einem durchweg brasilianisch imprägnierten Parcours der Metamorphosen.

Schon die 1922 veröffentlichte Gedichtsammlung Pauliceia Desvairada, mit der Mário de Andrade gleichsam die moderne Lyrik Brasiliens erfand, offenbart sein eminent musikalisches Sprachverständnis. Sound und Semantik, klangliche Materialität und tiefere Bedeutung sind hier unauflöslich verschmolzen. Musik, die flüchtigste aller Künste, blieb die treibende Kraft aller Ambitionen: des Klavierlehrers, der am Konservatorium von São Paulo unterrichtete; des Ethnologen, der in den 1930er-Jahren Lieder, Tänze und Gesänge des ruralen Nordostens und anderer Regionen dokumentierte; schließlich des Literaten, der unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise von 1930 (als der für Brasilien so wichtige Kaffeemarkt einbrach) sowie der Diktatur des vom Militär installierten Präsidenten Getúlio Vargas an einem Libretto für eine Choroper zu arbeiten begann.

Die Kaffeeplantage ist abgewickelt, das Arbeitsvolk sich selbst überlassen, die gemordete Natur nurmehr Stückwerk, das wüste Land wird neu vermessen: Café, zweite Szene, mit dem Coral Paulistano • Foto © STIG

Als ein Fest kollektiver Selbstermächtigung, eine Prozession der Vielen ist Café konzipiert. Große Oper, aber ohne Solisten. Eine dreiaktige tragédia secular mit Orchester, die in Brasilien spielt, die bürgerlich-europäischen Fesseln des Genres abstreift. Die Vision, die er auf die Bühne zu bringen hoffte, war nichts weniger als das erste genuin brasilianische Stück Musiktheater. Ein Werk, das ästhetisch avanciert, doch unmittelbar zugänglich sein würde. Ein Stoff, der Geschichte und Gegenwart Brasiliens behandelt, aus der Perspektive der Geknechteten und Verdammten. Eine Passion, die nicht auf einen Opfertod, sondern eine Rebellion zuläuft. In freien Metren mäandert der Text von Schauplatz zu Schauplatz – vom Hafen in Santos, wo sich unverkäufliche Kaffeesäcke stapeln und arbeitslose Stauer die Zeit mit einem Kartenspiel (truco) totschlagen; von der stillgelegten Plantage, auf der Besitzer, Landarbeiter und Spekulanten sich heftige Wortgefechte liefern, bis zu einem Pseudoparlament, in dem ein durchgeknallter Abgeordneter (O Deputadinho da Ferrugem) über rostige Töpfe schwadroniert und eine allegorische Mutterfigur (A Mãe) das nahe Ende der Schuldigen prophezeit; vom Exodus der Einsamen, Alten und Kinder bis zur Apotheose des Aufstands und eines neuen Lebens.

Arbeiterinnen und Arbeiter, das Nichts vor Augen, bedrängen Emissäre der Bodenspekulanten: Café, zweite Szene, mit dem Coral Paulistano, Solisten und Schauspielern • Foto © STIG

Zwölf Jahre, so lange wie an keinem anderen Manuskript, hat Mário de Andrade an dem Text für die Café-Oper gefeilt. Erst im Dezember 1942 war die aus einem Füllhorn verschiedener Register collagierte Szenenfolge fertig. Choral, Madrigal, (Vokal-)Quintett, Kanon, Ballett(-Pantomime), Hymne – die Zwischentitel der einzelnen Sequenzen deuten an, dass sich der Autor für die Vertonung durchaus eine Auseinandersetzung mit tradierten Formen wünschte. Freilich dachte er dabei an Komponisten wie Heitor Villa-Lobos, der die europäische Kunstmusik als erster aus dem Geist heimischer Traditionen befragte. Vor allem aber an den etwas jüngeren Francisco Mignone, der gleichfalls mit Rhythmik, Melodik und Harmonik populärer brasilianischer Genres arbeitete. Allerdings scheint Mignone nie auf das Begehr des Freundes (der Café sogar dessen Frau Liddy Chiaffarelli widmete) eingegangen zu sein, nicht einmal Skizzen sind überliefert. Erst fünf Jahrzehnte später unternahm der aus NS-Deutschland nach Brasilien emigrierte, zeitweilig sehr einflussreiche Musikpädagoge Hans-Joachim Koellreutter (zu seinen Schülern gehörte der Bossa Nova-Star Tom Jobim) einen ersten, 1996 in Santos präsentierten Versuch, das Libretto für die Opernbühne zu erschließen – ohne dessen kaleidoskopischer Farbigkeit gerecht zu werden. Und es sollten weitere zweieinhalb Jahrzehnte verstreichen, bis sich die Gelegenheit für einen zweiten Anlauf bot.

Es bedurfte gleich zweier für die Geschichte Brasiliens bedeutsamer Jubiläen, des 200. Jahrestages der Unabhängigkeitserklärung und der Erinnerung an die 1922, vor einhundert Jahren in São Paulo von Malerinnen und Bildhauern, Poetinnen, Romanciers und Tonkünstlern veranstaltete Semana de Arte Moderna. Spiritus rector der damaligen konzertierten Aktion: Mário de Andrade. Als zentrales Forum des Programms, das auf die Emanzipation vom ästhetischen Denken und Wertekanon der Alten Welt zielte, diente das Theatro Municipal, ein Haus, das bis heute in Betrieb ist. Gute Gründe, um den vielleicht einflussreichsten Multikünstler und Kulturpolitiker der Stadt – auf seine Initiative geht die Kulturabteilung der städtischen Verwaltung zurück – mit einer Produktion seiner bahnbrechenden Concepção melodramática (em três atos) zu würdigen.

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Die musikalische Umsetzung wurde Felipe Senna anvertraut, einem jungen Komponisten, der, etwa in Stücken für Kammerensemble oder Orchester, bewusst mit Idiomen aus diversen Regionen Brasiliens arbeitet. »Bis heute«, sagt Senna, »findet man in den Opernhäusern und Konzertsälen unseres Landes vor allem Repertoire aus Europa. Es gibt da so gut wie keine Beziehungen zu den eigenen Traditionen. Hin und wieder steht etwas von Antônio Carlos Gomes oder Villa-Lobos auf dem Spielplan. Aber das war’s dann schon. Bei zeitgenössischen Werken aus Brasilien tendiert die Offenheit in der heimischen Klassikszene erst recht gegen Null. Mário de Andrade war der erste Intellektuelle, der das ändern wollte.« Für Senna heißt das vor allem: die Gräben zwischen Avantgarde und populärer Musik zu überbrücken. »Nach 1945 hörte man auch bei uns eher auf Neues aus Darmstadt, Donaueschingen oder Paris als auf heimische Klänge, etwa die choros, eine hoch interessante Mischform europäischer Tanzmuster und afrikanischer Rhythmen.«

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Kaum ein halbes Jahr hatten Senna und der für Dramaturgie und Inszenierung engagierte Regisseur Sérgio de Carvalho, Mastermind des durch Brechts epische und Hans-Thies Lehmanns postdramatische Theatertheorie inspirierten freien Ensembles Companhia do Latão, um die komplexe Aufgabe zu stemmen. Das Ziel: die schillernde Polyphonie des Café-Librettos zu exponieren und zugleich dessen appellativ-politische Botschaft ins Heute zu verlängern. »Das Thema des Stücks«, erklärt Sérgio de Carvalho, »die Kaffee-Krise nach dem New Yorker Börsen-Crash 1929, hat in Andrades Text eine mythische Schicht. Kaffee ist für ihn nicht bloß ein Handelsgut, sondern ein Element, das entsteht und vergeht, eine Materie von geradezu schicksalhafter Bedeutung für das Land. Die Diktion spielt manchmal auf den Stil antiker Dramentexte an. Auch in der von einer Radiostimme verkündeten Revolution, die im letzten Aufzug eine wichtige Rolle spielt, schwingt ein ethisch-religiös konnotiertes Bild mit – die Sehnsucht nach Erlösung, Versöhnung, Überwindung der durch die Krise verschärften sozialen Verwerfungen.«

An der Idee eines aktuellen politischen Theaters, das für die Verlierer der auf Gewinnmaximierung und Ressourcenverschwendung basierenden Ökonomie des entfesselten Kapitalismus Partei ergreift, hält Sérgio de Carvalho freilich fest. Und die Notwendigkeit eines solchen Theaters – wie überhaupt einer kritisch-aufklärerischen Kulturpraxis – scheint in der heillos zerrissenen, ideologisch polarisierten Gegenwart Brasiliens offenkundig. Die Auseinandersetzung mit Café organisierte er – im Schulterschluss mit dem Komponisten – als einen Prozess, in den alle Mitwirkenden aktiv einbezogen waren. So entstand eine auf zwei Akte reduzierte Fassung, in der zum abgewandelten Finale Frauen auf die Barrikaden gehen und Aktivisten des Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, einer Bewegung, die seit den 1980er-Jahren gegen die selbst vor Mord nicht zurückschreckenden Verheerungen der Agrarindustrie kämpft, Auditorium und Bühne »besetzen«. 

Kampf dem Landraub: Mitglieder des Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST) ›besetzen‹ während des ›Café‹-Finale sParkett, Galerien und Bühne des Theatro Municipal • Foto © Marcel Uyeta

Doch statt grimmiger Agitprop-Verbissenheit erfüllt eine ausgelassene Stimmung den Raum, die Freude über das kurze Glück, Teil eines kollektiven Aufbruchs zu sein. Lediglich fünf Mai-Abende waren der Sängerin Juçara Marçal (Mãe), dem Schauspieler Leo Negro in der Rolle des Rhapsoden, neun weiteren Gastperformern, den Choristen des Coral Paulistano, Akrobaten, Clowns und Tänzerinnen sowie dem von Luís Gustavo Petri geleiteten Orquestra Sinfônica Municipal vergönnt, um die unverbrauchte Relevanz von Café zu demonstrieren.

Eine fundamentale Wende, daran lassen Felipe Senna und Sérgio de Carvalho nicht den geringsten Zweifel, braucht Brasilien dringlicher denn je. Ein Ende der vierjährigen Regentschaft des Rechtsextremisten Jair Bolsonaro und dessen Gefolgschaft wäre ein Anfang. Die Chance, ein Umdenken auf den Weg zu bringen, das Recht und Freiheit für alle stärkt, das Verantwortung für die einzigartige kulturelle und natürliche Vielfalt Brasiliens übernimmt. Eine Vielfalt, für die Mário de Andrade nicht nur mit seinem einzigen Werk für die Opernbühne einstand. ¶

schreibt seit den frühen 1990ern über Musik und anverwandte Themen. Als Schüler schlug er sich mit Latein und Altgriechisch herum, sonntags saß er auf der Orgelbank. Seine arg limitierten Tastenkünste mutet er heute nur noch sich selber zu. Drei Jahre lebte er in den USA, zwei Jahre in England. An der Freien Universität Berlin und State University of New York at Buffalo studierte er Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Philosophie. Von 1993 bis 2004 war er der für Musik, Medien und Kunst...