Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Heinrich Schütz: Weihnachtshistorie

Gerlinde Sämann, Isabel Jantschek, Marie Luise Werneburg, Georg Poplutz, Stefan Kunath, Dresdner Kammerchor, Dresdner Barockorchester, Hans-Christoph Rademann (Leitung) (Carus, 2014)

Track 20: Rezitativ Rückkehr aus Ägypten II: »Und er stund auf und nahm das Kindelein«; Georg Poplutz (Tenor/Evangelist) • Link zur Aufnahme

»Es begab sich aber zu der selbigen Zeit …« Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit dem Bericht über die erste Volkszählung der Geschichte. König Herodes befiehlt seinen Untertanen, in die Stadt ihrer Geburt zur Registrierung zu reisen. Als er von dem Gerücht hört, dass ein neuer König geboren worden sei, befiehlt er, alle Neugeborenen abzuschlachten. Josef, Maria und das Jesuskind fliehen vor dem Morden nach Ägypten. Die Bibel ist voll mit Geschichten von Morden, Vertreibung und Flucht. Archaische Themen der Menschheit, die leider nicht an Aktualität verlieren.

Heinrich Schütz, die meiste Zeit seines Lebens Dresdner Hofkapellmeister, hat die Geschichte von Jesu Geburt als »Historia der freuden- und gnadenreichen Geburt Gottes und Marien Sohnes, Jesu Christi« meisterhaft in Musik gesetzt. Als diese 1660 im Weihnachtsgottesdienst uraufgeführt wurde, lieferte Heinrich Schütz neben der einmalig eindrücklichen Erzählung auch eine Art Leistungsschau seiner nach den Verheerungen des 30jährigen Krieges wiedererstarkten Kapelle ab, eines der besten und am reichsten ausgestatteten Ensembles Europas. Der Reichtum der Instrumentierung und deren Untauglichkeit für das moderne Instrumentarium ist bestimmt der Grund für die seltenen Aufführungen dieses Stückes, das für mich zur schönsten Weihnachtsmusik überhaupt zählt. Zum Einsatz kommen Zinken, Posaunen, Trompeten, Flöten, Streicher, Lauten, Orgel und eine ziemlich große Anzahl von Sängern. Eine wahrhaft fürstliche  Besetzung.

Die wunderbare Aufnahme des aus Dresden stammenden Dirigenten Hans-Christoph Rademann und des Dresdner Kammerchores gibt diese Pracht mustergültig wieder. Dabei legt sie größten Wert auf Textverständlichkeit, die die Basis der stark von Luther geprägten Musik von Heinrich Schütz ist – kein einziges Stück Musik ohne geistlichen Text ist uns von ihm überliefert.

Ich liebe jedes einzelne Stück Musik dieser Historie, besonders aber bewegt mich immer das letzte Rezitativ vor dem Schlusschor. Nach der Beschreibung der Flucht nach Ägypten heißt es: »Und das Kind wuchs / und ward stark im Geist / voller Weisheit / und Gottes Gnade ward auf ihm«. Hoffnung und Zuversicht als zentrale Weihnachtsbotschaft. Und seit ich selber Kinder habe, trifft mich der Satz noch viel mehr.

In der letzten Woche hatte ich eine sehr eigene Begegnung mit der Weihnachtsgeschichte: Beim gemeinsamen Anschauen einer sehr schönen Krippe kam es zwischen meinen beiden Kindern und zwei türkischstämmigen Mädchen zu einem bemerkenswerten interkulturellen Dialog: Meine Kinder erklärten sehr selbstverständlich, aber ohne Verwunderung, die Geschichte der Geburt Jesu, die den beiden Mädchen unbekannt war – obwohl sie in Deutschland geboren sind und in Kreuzberg zur Schule gehen. Die Größere wusste aus dem Koranunterricht zu berichten, dass ja Jesus auch einer der Propheten im Koran sei. Und dass alle Menschen mit gleicher Freundlichkeit zu behandeln seien ob Muslime oder Christen.

Bei aller Weihnachtsgemütlichkeit mit alten Liedern und Geschichten sollten wir nicht vergessen, dass es viel zu tun gibt. Toleranz beginnt mit Wissen. Wir sollten uns gegenseitig mehr unsere Geschichten erzählen. Nicht nur zu Weihnachten. Ganz dringend. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.