Heute treffe ich ein männliches Exemplar. Eins der feinen Sorte, charmant, intelligent, feminin. Er ist irgendwo in den Dreißigern, lebt in Berlin und arbeitet als musikalischer Grenzgänger. Gut, die gibt es fast so oft wie DJs in Berlin. Er, nennen wir ihn Richy Wagner, ist aber auch Komponist, der gut auskommt mit Kompositionsaufträgen und Stipendien. Diese Spezies ist schon seltener anzutreffen, aber belassen wir es bei diesen Informationen. Wir treffen uns bei einem Vietnamesen, in der hintersten Ecke, um über die verzwickten Zustände seiner Süchte und Sehnsüchte zu sprechen.

VAN: Nicht stoffgebundene Süchte bewegen sich ja meist irgendwo zwischen Schönheit, Intensität und Leiden. Aber vorerst zeigen sie sich anhand spezifischer Verhaltensweisen. Würdest du dich als musiksüchtig beschreiben?

Richy Wagner: Das Bild des Süchtig-Seins habe ich immer in Frage gestellt. Für mich ist es eher eine Balance von Extremverhalten. Und da würde ich unterscheiden zwischen dem Komponieren und dem Musik hören. Beim Komponieren würde es mir schwer fallen, das als Sucht zu bezeichnen, obwohl das sicher von der Dynamik, der Kurve her, mit einer extremen Stimulanz analog ist. Binge-Komponieren. Sucht ist das von dem Wort ›siechen‹ abgeleitete Krankheitsbild: etwas, das in Mitleidenschaft zieht, sich und andere. Die Musikhörsucht ist bei mir aber ausgeprägt und vielleicht die schädlichste Sucht, die ich so habe. Denn mit Online-Recherche zu Musikstilen, zu irgendwelchen vergrabenen Goldstücken, hidden gems verbringe ich schon sehr viel Zeit, zuviel. Wie jetzt gerade, wo ich denke, oh scheiße, ich hab noch vier Tage um ein Streichtrio zu schreiben. Das ist ein bisschen wie Glücksspielsucht, wo du denkst, irgendwann kommt der Jackpot. Und irgendwann gewinnt man ja auch. Im Internet zum Beispiel. Ich suche nach einem niederländischen Acidfolk-Stück, das richtig toll ist. Aber 99 Prozent der Kandidaten sind Schrott. Dann hört man sich 99 Stücke an, und es sind wieder drei Stunden vergangen. Diese ständige Stimulanz durch Musik ist das Suchtbild bei mir, was auch negative Folgen hat – abgesehen von den ganzen positiven Folgen! Dadurch kenne ich viele verschiedene Musikstile, habe einen großen Überblick über verschiedene Bereiche. Und es ist körperlich nicht schädlich. Finanziell ist es auf längere Sicht vielleicht nicht so gut. Aber ich glaube, ich werde die Kurve ganz gut kriegen mit meiner Musikhörsucht. (lacht)

Foto Ride With Me Baby von Thomas Hawk (CC BY-NC 2.0)
Foto Ride With Me Baby von Thomas Hawk (CC BY-NC 2.0)

Früher hat man noch Platten oder CDs gesammelt. Das führte vielleicht etwas schneller an die Grenzen des Machbaren.

Ich kaufe auch Vinyl. Und früher war ich von Synthesizern abhängig. An denen hab ich aber das Interesse verloren. Das Komponieren scheint für Außenstehende schon extrem: Wie? Du hast doch gestern oder letzte Woche schon komponiert? Die verstehen das einfach nicht, dass man drei Monate komponiert, und dass es immer zeitintensiver wird, dass man zwei Nächte in Folge durcharbeitet.

Und was sagst du dann? Ich bin halt Komponist?

Es ist ja notwendig. Es ist ja nicht so, dass ich dabei total außer Kontrolle geraten würde. Das ist ja das, was ich machen muss, damit das Stück gut wird. Das kann ich nicht so runterarbeiten. Andere können es vielleicht.

Ist es nur die Musik, bei der du Suchtverhalten zeigst, oder kombiniert sich das auch mit anderen Suchtmitteln? Man spricht ja von Mehrfachsüchten.

Ich würde da von einer Art Anti-Sucht sprechen. Oder Gegen-Sucht. Das Komponieren erfordert totalen Rückzug, ein Eremiten-Dasein, allein am Schreibtisch, rechts und links müllt alles zu. Ein Anruf am Nachmittag macht dann schon schlechte Laune, weil es eine Unterbrechung ist. So wie bei Sheldon Cooper (Anm. d. Red.: Charakter aus der Serie Big Bang Theory). Aus dem Zustand heraus, weil ich ja doch ein sozialer Mensch bin, möchte ich dann rüberwechseln. Und das geht natürlich sehr gut mit so Beschleunigern wie Alkohol oder anderen Drogen, die im Berliner Nachtleben ja leicht erhältlich sind. Da geht es um diese Scharniermomente. Das sind Hilfsmittel, die schon mal außer Kontrolle geraten, aber die prinzipiell helfen, nach langen Phasen der Abstinenz hin und her zu springen. Da interessieren mich dann eher Drogen, die mich handlungsfähig machen. Stoffe, die mich außer Gefecht setzen oder psychoaktiv wirken, passen da nicht. Ich will dann mit den Leuten schnell ins »Geschäft« kommen, ich meine natürlich in Kontakt kommen. Es ist ja auch spannend, auf einer plötzlich ausufernden Party der Klassikszene einen ganz anderen Zugang zu den Leuten, mit denen du sonst professionell umgehst, zu kriegen. Ich geh dann da auf jeden Fall mit, und auch bis zum Schluss, weil ich will wissen, was da so passiert.

Im Rausch sind alle gleich.

Nein, nicht unbedingt. Der eine wird dann flirty, der andere hat nen Stock im Arsch. Menschen verändern sich dabei.

Wo kommt dein starker Bezug zur Musik her?

Mit drei oder vier Jahren war ich einmal sehr geflasht von einer Beatles-Platte. Das war für uns alle der Wahnsinn. Wie der Raum sich verändert hat, wie wir uns angeschaut haben! Das war etwas sehr Positives. Und vom Kindergarten war ich etwas überfordert, ich hab die Regeln nicht verstanden. Ich bin dann zuhause geblieben, stattdessen. Und vormittags hab ich dann Bilder gemalt und Schallplatten gehört. Das war dann ein ganz selbstverständlicher Teil meines Lebens. In der Grundschule fand ich das dann komisch, dass das andere nicht so empfinden. Das selbst Musikmachen ist mir schwerer gefallen. Es gibt immer Streberkinder, und dann wird das so ein Leistungsding. Das war mir fremd, es war mehr ein Spiel für mich.

Eine besondere Klangerfahrung waren für mich früher Gebläse. Wir hatten einen Nachtspeicherheizkörper, einen riesigen Metallkasten mit einem einschaltbaren Gebläse unten. Man konnte sich davor legen und er hat unglaubliche Figurationen im Klang durch die dünnen Metallwände produziert. Das war so eine Art Uterus-Ersatz. Und wenn bei uns die Treppe gestaubsaugt wurde, die mit Teppich belegt war, habe ich von unten meinen Kopf angelegt und den Staubsauger näherkommen hören. Da fühlte ich mich ganz wohl, das ging physisch bis in die Fingerspitzen. Das mag ich auch heute noch, Gebläse. Oder Gewitter.

Foto To infinity and beyond von Titoy’ (CC BY-NC-SA 2.0)
Foto To infinity and beyond von Titoy’ (CC BY-NC-SA 2.0)

Wie gestaltete sich dann der Schritt in die Professionalität?

Als Kind überlegt man, was man später mal werden könnte, und ich hab mir relativ früh gesagt, ich möchte Musik erfinden. Das Wort Komponist kannte ich noch nicht. In der Klassikschiene war ich dann aber kein Vorzeigetyp, bei Eltern-Klavierabenden hab ich abgelost. Mit dem Umzug in ein noch provinzielleres Dorf hat mich dann aber der Ehrgeiz gepackt, aus einem Mangel heraus, mich ausdrücken zu können. Und um dieses Selbstbild umzusetzen, kam unendlich viel Energie fürs Klavierspielen. Klavier ist aber natürlich auch ein sehr konkurrenzumkämpftes Gebiet, wo man sich ziemlich sicher sein kann, dass man da auch kein Star wird. Als ich dann die Aufnahmeprüfung für Komposition geschafft hatte, da war ich dann irgendwie zufrieden, hatte den perfekte Rezeptor, und das perfekte Anti-Depressivum, das mich bis heute begleitet.

Siehst du einen Zusammenhang zwischem süchtigem Verhalten und Erfolg?

Ja, zwischen Extremverhalten und Erfolg und dem Umgang mit beschleunigenden Substanzen, wo etwas ganz doll wird. Das ist ein Weg zum Erfolg. Vielleicht ist ein anderer Weg zum Erfolg, ganz konsistent zu sein und sich nicht ablenken zu lassen. Das kann ich auch, ich will halt bis zum Letzten gehen. Bei der Party bleib ich deswegen bis zum Schluss, was für den Gastgeber nervig sein kann (lacht). Oder vielleicht auch schön. Es hat etwas von Verantwortung übernehmen. Was ist das denn, wenn alle zwei Drinks nehmen, Smalltalk machen und dann nach Hause gehen? Wann sind sonst die Momente, wo man sich als Mensch mal wirklich begegnet, wo es lustig wird, wo man sich nahe kommt, wo Grenzen keine Rolle spielen? Gibt es nicht vielleicht auch eine Ethik des Exzesses?

Man kann ja ganze Welten bauen, Narrationen erfinden, um sich selbst im eigenen Tun bestärkt zu sehen. Das Wort ›Sucht‹ benutzt man meistens erst, wenn man auch leidet, wenn die Welt nicht mehr ganz konsistent ist. Kennst du das?

Wenn ich das Stück nicht fertig bekomme, muss ich 5.000 Euro zurückzahlen. Es ist auch ein Kick, es soweit kommen zu lassen, aber dann leide ich, wie jetzt. Gleichzeitig steht da diese verheißungsvolle Aussicht im Raum, dass ich es trotzdem schaffen werde. Habe ich bisher auch, es geht immer irgendwie.

So extrem wie möglich sein und trotzdem funktionieren?

Das ist mein Ding. Es gibt auch Leute im Umfeld, die das kritisch bewerten: Du reist durch gefährliche Länder, du nimmst Drogen, das wird noch böse enden. Es gehört zu meiner Aufgabe, zu zeigen, dass es nicht böse endet. Es ist eine Frage des Bewusstseins, des Umgangs damit. Wobei es natürlich manchmal gefährlich wird. Ein bis zweimal im Jahr gehe ich auf Autopilot, durch Alkohol und Drogen, und da komme ich erst am nächsten Tag zu Bewusstsein, zum Beispiel während ich mich am Brandenburger Tor einer spanischen Touristengruppe anschließe. Was war davor? Ich finde Kapseln mit weißem Pulver in meinen Taschen. Wurde ich vergewaltigt? Das war gefährlich. In einer Nacht habe ich eine Frau kennengelernt, die auf Autos stand, die nach ein paar Gin Tonics sagte: Wir fahren jetzt Auto! Sie mietete einen BMW drei Straßen weiter, und wir sind mit 100 Km/h durch Moabit gedüst. Es ist beängstigend, aber auch toll.

Gibt es Vergleichbares in der Musik?

Nein, zumindest nicht in der Weise, dass es man es im Nachhinein kritisch sieht. Solange es sich in ein Ergebnis niederschlägt, kann man es ja dann toll finden.

Komponieren ist aber auch harte Arbeit und ich glaub nicht, dass es viele Komponisten gibt, die mit harten Drogen hantieren, da man immer wieder den rationalen Abstand zu seinem Werk benötigt. Es passiert leider nicht, dass ich am nächsten Tag erwache, und da liegt ein fertiges Werk. (lacht)

Foto at cherry branch cafe, switch von Quika Brockovich (CC BY-NC-SA 2.0)
Foto at cherry branch cafe, switch von Quika Brockovich (CC BY-NC-SA 2.0)

Wie wäre das, wenn du kein Komponist sein dürftest? Wenn du erfolglos bliebtest?

Das kann man ja verschieden einordnen. Der süchtige Kriminelle, der bemitleidenswerte Kranke. ich würde es aber auch als legitim empfinden, zu sagen, es gibt Leute, die entscheiden sich einfach für einen anderen Lebensmodus, für ihren Lebensinhalt. Das ist deren freie Entscheidung, wenn es nicht grad auf Selbstzerstörung hinausläuft. Man sagt ja, dass man nicht von der Substanz abhängig wird, sondern von den Umständen. Wie bei dem Experiment mit den Ratten. Es gibt reines Wasser und Wasser mit Kokain. Die Ratte säuft solange das Wasser mit Kokain, bis sie stirbt, aber sie ist auch alleine in einem Käfig und prädestiniert, unglücklich zu sein. Und dann hat man ein Rattenparadies gebaut mit Spielzeug und mehreren Ratten, und in dem haben sie das Kokain-Wasser nicht getrunken. Deswegen mag ich die Erzählung Ich liebe den Alkohol und werde deshalb Kneipier nicht so sehr. Vielmehr werd ich Alkoholiker, weil ich keine bessere soziale Verbindung in meinem Umfeld finde.

Gibt es da ein Phänomen der Einsamkeit bei dir in Musik?

Ich bin eigentlich glücklich. Und ich wär’s wahrscheinlich auch ohne die Musik. In meinem Leben gibt es kein massives Unglück. Musik haben manche von uns in der Kindheit als Weg entdeckt, sich darüber ausdrücken zu können, was für andere Menschen im späteren Leben vielleicht nicht mehr so geht. Das habe ich. Ich hätte auch Maler werden können, aber Komponieren ist einfach das Allerallerbeste. ¶