Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Andrew Lawrence-King & The Harp Consort: Luz y Norte;

Lieblingstrack (22) des Albums: Traditional & Lucas Ruiz de Ribayaz: Tarantela, The Harp Consort & Andrew Lawrence-King

»Luz y Norte – Eine Laterne und ein Leitstern, die einen durch die Musik der spanischen Gitarre und Harfe führen« überschrieb der 1626 geborene Autor seine Sammlung spanischer, italienischer, südamerikanischer und afrikanischer Tanzmusik. Der von der Kanalinsel Guernsey stammende Harfenist Andrew Lawrence-King hat Anfang der 1990er Jahre aus dem dürren Quellenmaterial von Akkordfolgen und Tabulaturen ohne Rhythmus ein mitreißendes Album konzipiert, das in seinem Einfluss auf Interpretation und Rezeption von Alter Musik kaum zu überschätzen ist. Dem von Andrew Lawrence-King gegründeten Ensemble The Harp Consort – mit Musikern wie Hille Perl und Pedro Estevan, die schon in früheren Folgen von Fat Cream vorkamen, bescherte es jahrelang Tourneekonzerte rund um den Globus.

Das Revolutionäre an dem Programm war und ist, dass es zeigt, wie seriöse Quellenforschung und die Interpretation von Alter Musik mit historischen Instrumenten zu einem Ergebnis führen kann, das ein relativ breites Publikum begeistert. Überspitzt formuliert, hat Luz y Norte zum ersten Mal das Pop-Potential der Alten Musik aufgezeigt. Und das oder vielleicht gerade weil dieses Repertoire bis dahin nahezu unbekannt war.

Der Autor der titelgebenden Sammlung war ein Theologe und Laienmusiker mit dem wunderbar klingenden Namen Lucas Ruiz de Ribayaz y Fonseca. Und offenbar auch ein Abenteurer, denn er reiste aus unbekanntem Grund nach Südamerika. Dort sammelte er Informationen über Rhythmen, Spieltechniken, Tanzformen, Instrumente und Melodien. Vor allem die präzise Beschreibung der rhythmischen Abläufe elektrisierten Andrew Lawrence-King damals – insbesondere in Kombination mit anderen Quellen, die zum Teil sehr drastische Tanzszenen aus dieser Zeit schildern. Sprünge, gar Luftrollen mit Landung im Spagat scheinen keine Erfindung des Rock’n’Roll-Zeitalters zu sein …  

Das Album Luz y Norte ist eine Art Weltmusik, die die im 17. Jahrhundert in Südamerika aufeinandertreffenden Kulturen wieder zum Leben erweckt. Ob es der historischen Wahrheit nahe kommt oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle. Es wird ein Lebensgefühl transportiert, das alles andere als nach »Alter Musik« klingt. Auch noch mehr als 20 Jahre nach der Aufnahme. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.