Einleitung zur Serie
Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.
Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.
Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt.
Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.
La Lira d’Espéria
Jordi Savall, Pedro EstevanAstrée, 1996
Diese CD enthält Musik aus einer fernen Zeit. Eine Zeit, deren Bauwerke wie die berückend schöne Alhambra in Granada oder die Kathedrale von Córdoba heute staunend bewundert werden. Aber nicht nur die Wiege unserer Architektur, sondern auch die Wiege unserer gern als ‘abendländisch’ bezeichneten Musik stand im Spanien des Mittelalters. Instrumente wie die Fidel oder die Laute – deren Namen von dem arabischen Oud abgeleitet wurde – tauchen erstmals in Manuskripten des späten 10. Jahrhundert im heutigen Spanien auf. Fast 700 Jahre lang waren drei Viertel der iberischen Halbinsel von aus Nordafrika kommenden Mauren und Arabern besetzt. Erstaunlicherweise war das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden lange Zeit von Toleranz geprägt. Von dieser Toleranz zu erzählen, die sich auch musikalisch niederschlug und durch eine Vielzahl von Quellen belegbar ist, gehört zu den Lebensthemen des aus Barcelona stammenden Musikers Jordi Savall (der darüber auch schon mit VAN gesprochen hat, d.Red.). Der große katalanische Gambist und unermüdliche Musikforscher hat sich in einer Vielzahl unterschiedlichster Projekte mit der gegenseitigen Beeinflussung der Mittelmeer-Kulturen beschäftigt – immer geprägt von der Neugier eines Musikers, der sich ständig weiterentwickeln möchte und nach neuen Inspirationen und Einflüssen sucht. Die CD La Lira d’Espéria ist eine Art Kondensat seiner Beschäftigung mit den iberischen Kulturen des Mittelalters. Nur begleitet von dem inzwischen auch legendären Perkussionisten Pedro Estevan stellt Jordi Savall auf verschiedenen Streichinstrumenten Musik der drei Kulturen vor. Teils basierend auf mittelalterlichen Quellen wie der berühmten Cantigas de Santa Maria von König Alfons des Weisen aus dem 13. Jahrhundert, aber auch auf Sammlungen volksmusikalischer Melodien, die erst im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurden. Diese Musik ist nichts für den hektischen Alltag. Aber wenn man sich in Ruhe darauf einlässt, wird man entführt. Schon in der arabischen Literatur des Mittelalters finden sich Hinweise darauf, dass die Rebab, in Spanien rabel morisco oder auch maurische Hirtengeige genannt, das Instrument sei, was der menschlichen Stimme am nächsten komme. Und aus dem 14. Jahrhundert hat sich ein Zitat erhalten, was den Zauber dieser frühen Streichinstrumente sehr poetisch beschreibt:
Die Fidel mit ihren süßen Balladen / Mal verträumt, mal jubilierend, / zarte Noten, köstlich, klar, wohlklingend / Lassen die Leute froh und heiter sein.
Spätestens 1492 endete die Zeit des friedlichen Miteinanders der Kulturen in Spanien. Die letzte muslimische Hochburg auf spanischem Boden wurde besiegt. Königin Isabella von Kastilien und ihr Mann Ferdinand verfügten, dass sämtliche spanische Juden zum Christentum zu konvertieren oder das Land zu verlassen haben. Ein gigantischer Exodus begann. Zwei Jahre später wurde dem Königspaar von Papst Alexander VI. für seine »Verdienste« der Titel reyes católicos (Katholische Könige) verliehen. 1504 wurden die noch verbliebenen Muslime ausgewiesen. ¶