Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Händel, Orgelkonzerte, Op. 4 (L’Oiseau-Lyre, 2009)

Accademia Bizantina & Ottavio Dantone

Georg Friedrich Händel:  Orgelkonzert No. 1 g-Moll, Op. 4, No. 1, HWV 289: I. Larghetto e staccato • Link zum Album

Die zehnte Folge FAT CREAM, ein Mini-Jubiläum. Deshalb sollte die Musik diesmal etwas festlicher sein und noch dazu vielleicht zu den letzten spätsommerlichen Sonnenstrahlen passen. Und am besten noch etwas Mut für den unweigerlich kommenden Herbst machen.

»Festlich, also Händel«, so viel war schnell klar. Zumal es spätestens in der 10. Folge auch mal um Händel gehen musste, der bislang sträflich von mir vernachlässigt wurde. Zuerst hatte ich eine eine alte Kammermusik-CD in der Hand, Trio-Sonaten. Sehr schön. Aber nicht festlich genug. Dann kam mir meine Lieblingsaufnahme des Messias in den Sinn, mit Knabenchor und Christopher Hogwood – zu festlich, später vielleicht mal. Einige Arien-CDs sind mir auch noch eingefallen. Ohrwürmer konnte Händel wie kein Zweiter im 18. Jahrhundert schreiben.

Aber dann kam mir diese etwas exotisch anmutende CD in die Hände: Musik, die Händel für sich selber geschrieben hat. Orgelkonzerte! Hier konnte er sich in Personalunion als Komponist wie als Interpret zeigen. Und sein Publikum mit seinem Improvisationstalent in den Bann schlagen.

Händel, geboren in Halle an der Saale, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in England. Er war nicht nur Komponist, sondern auch Cembalist und Organist. Und eben auch ein Musikunternehmer – heute würde man sagen: Kulturmanager. Er mietete Theater, engagierte Sänger und komponierte unentwegt – und musste Tickets verkaufen, um alles bezahlen zu können. Die bewegte Biografie dieses außergewöhnlichen Mannes sprengt diesen Rahmen bei weitem, nur so viel: Diese Orgelkonzerte waren als musikalische Pausenunterhaltung für seine Oratorienaufführungen in London gedacht, quasi als eine Art Zusatzspektakel, im Eintrittspreis inklusive. Die Zuhörer waren nach zeitgenössischen Augenzeugenberichten begeistert, zumal Händel seine Konzerte nie zweimal auf die gleiche Weise spielte, sondern mit beständig neuen Improvisationen zu glänzen wusste.

Diese Orgelkonzerte waren keinesfalls für eine Kirche geschrieben, sondern für die Londoner Theater. Dementsprechend spielte Händel eine transportable Orgel, die er auch für die Begleitung seiner Sänger benutzte. Sein Instrument verfügte zwar über mehrere Register, hatte aber kein Pedal und sicherlich keinen allzu lauten Klang. Der italienische Cembalist und Organist Ottavio Dantone hat für seine Einspielung genau so eine Orgel benutzt, dazu passend ist sein Ensemble Accademia Bizantina mit nur jeweils drei ersten und drei zweiten Geigen besetzt. Diese Aufnahme ist so brillant, dass ich sie nach der Wiederentdeckung in meinem CD-Regal sofort dreimal hintereinander gehört habe. So viel Klangreichtum, Frische, Improvisationskunst und mitreißenden Elan findet man selten digital gebannt. Eine große Aufnahme großer Musik.

Händel war übrigens in jeder Beziehung ein »großer« Mann. Seine Freunde bezeichneten ihn liebevoll als »Mannberg«, weniger wohlmeinende Zeitgenossen freuten sich über Karikaturen wie diese hier, auf der er auf einem Weinfass sitzend mit demnächst zu bratendem Geflügel als Schweinchen an der Orgel gezeigt wird:

Ach ja: Händel hat mit diesen Stücken übrigens das Orgelkonzert erfunden. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.