Einleitung zur Serie
Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.
Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.
Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt.
Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.
De Profundis – Kantaten des deutschen Barock
Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel (Deutsche Grammophon, 1986)
Mit dieser CD gelangen Reinhard Goebel (hier im VAN-Interview) und seinem Ensemble Musica Antiqua Köln 1986 eine der besten Aufnahmen Alter Musik überhaupt: Eine herausragende Mischung aus höchster musikalischer Intensität und Perfektion mit einem bis dahin quasi unbekannten Repertoire und einer Emotionalität, die fast physisch greifbar zu sein scheint. Es gibt keine andere CD mit Alter Musik, die ich häufiger gehört habe, und die mir bei jedem Hören immer noch etwas gibt. Seit 1986.
Das Repertoire schlägt einen Bogen mit der Musik deutschsprachiger Komponisten über ein Jahrhundert und drei Generationen hinweg, ohne die die Kunst Johann Sebastian Bachs undenkbar gewesen wäre.
Die CD bietet eine knappe Stunde voller Klagegesänge und flehentlicher Anrufungen:
Aus der Tiefe schrei ich Herr zu Dir … An Wasserflüssen Babylons / da weinten wir von Herzen … Herr / erbarme dich … Ach Herr / lass Deine lieben Engelein / am letzten Ende / die Seele mein / in Abrahams Schoss tragen … Ich ruf zu Dir Herr Jesus Christ … Wie liegt die Stadt so wüste / die voll Volkes war.
Die meisten Texte sind Psalmvertonungen, deren Wurzeln Jahrtausende alt sind, wie die Klage über das zerstörte Jerusalem. Die Komponisten, unter denen Heinrich Schütz der Älteste ist, kommen allesamt aus dem norddeutschen Raum und man kann sich unschwer vorstellen, wie die Menschen dieser Zeit regelmäßig von Verzweiflung und Trauer geplagt wurden: Erst der Dreißigjährige Krieg, begleitet von Hunger, Seuchen und Verheerungen, dann eine Reihe von Naturkatastrophen wie die große »Petriflut« von 1651, die an den Küsten der norddeutschen Bucht über 15.000 Menschenleben forderte und Tausenden ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage raubte – zu einer Zeit, in der die Großstadt Hamburg gerade mal auf 50.000 Einwohner kam.
Diese Musik wurde vor Jahrhunderten geschrieben, um Trost zu spenden und Verzweiflung in Bahnen zu lenken. Eine Musik, die – jedenfalls für mich – immer noch genauso zu wirken vermag. Die Texte sind von archaischer Wucht, auch jenseits von Religiosität. Und aus der Düsternis der Musik leuchtet eine Schönheit, die vielleicht nur jene Zeit als Kontrast zum Elend der Gegenwart hervorbringen konnte.
Die Musiker müssen bei der Einspielung mit jedem einzelnen Akkord gerungen haben. Selten hört man eine Aufnahme wie diese, bei der sich das Gefühl einstellt, dass jeder einzelne Ton und jeder Akzent genau am richtigen Ort ist, ohne dass eine vordergründige Perfektion die Intensität wegpoliert hat.
Ein einzigartiges Erlebnis mit Alter Musik, deren Emotionalität ganz frisch wirkt – wenn man sich in Ruhe darauf einlässt. Am besten an einem grauen, kalten Novemberabend. ¶