Einleitung zur Serie

Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.

Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.

Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt. 

Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.


Carl Philipp Emanuel Bach: Symphonies, Concerto pour orgue et orchestre

Akademie für Alte Musik Berlin (CD erschienen bei harmonia mundi, HMC901622, 1998

Carl Philipp Emanuel Bach: Sinfonie B-Dur Wq.182/2 I. Allegro Di Molto · Link zur Aufnahme

Hamburg – Stadt der Elbphilharmonie? Seit Jahren redet die Musikwelt über ein Gebäude und nicht über Musik oder Musiker/innen. Das war einmal anders: Im späten 17. Jahrhundert entstand das erste private Opernhaus Deutschlands, in dem deutsch, italienisch und französisch gesungen wurde. Händel lernte hier sein Handwerk, und Telemann brachte es zur Meisterschaft und internationalem Ruhm als Opernkomponist. Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Sebastian Bachs zweiter Sohn, wurde 1768 Telemanns Nachfolger als städtischer Musikdirektor und entfaltete ebenfalls in Hamburg sein später weithin gerühmtes Genie zu voller Blüte. 

Seine Karriere begann er im Alter von 24 Jahren als Cembalist beim preußischen Kronprinz Friedrich in Neuruppin. Mit der Krönung Friedrichs zwei Jahre später stieg er zum festangestellten Konzertcembalisten auf, einige Jahre darauf zum Cammer-Musicus, eine Art Dienstbote, der fleißig »componieren«, aber vor allem »repetieren«, also als Begleitmusiker sein Dasein fristen musste. König Friedrich, später »der Große« genannt, ist uns als Musik und Philosophie liebender Schöngeist überliefert worden. Aber wie bei den meisten Menschen wurde sein Musikgeschmack in der Jugend geprägt und danach wenig weiterentwickelt. Die armen Musiker um Carl Philipp Emanuel Bach mussten allabendlich das Flötenspiel des Monarchen begleiten und eine Playlist nach des Königs Geschmack abliefern. Hunderte von Solokonzerten und etliche Anekdoten über diese Aufführungen sind überliefert. Denn Friedrich muss ein wackerer Flötist gewesen sein, aber sicherlich kein musikalisches Genie. Dabei war die Berliner Kapelle mit herausragenden Musikern besetzt, viele hatten wie Carl Philipp ihr Handwerk beim alten Bach gelernt. So traf man sich zu »musicalischen Academien« in privatem Rahmen, um neue Musik zu spielen. Der Output war enorm. Mit dem Wechsel in die Freie und Hansestadt Hamburg begann für Carl Philipp Emanuel ein neues Leben. War er in Berlin nicht mehr als ein königlicher Lakai gewesen, verkehrte er als städtischer Musikdirektor und angesehener Bürger in Hamburg mit Aristokraten und Diplomaten auf Augenhöhe. Die freie Hamburger Luft tat auch seinen Kompositionen gut. Er durchbricht immer mehr Muster und lässt seiner musikalischen Fantasie immer freieren Lauf. Über seine Berliner Zeit ist überliefert, dass er beim Komponieren »auf die Ausübung Rücksicht« nehmen musste – es durfte also nicht zu schwer sein, vor allem für den König. Und auch musikalisch war er an den Geschmack Friedrichs gebunden: »Weil ich meine meisten Arbeiten für gewisse Personen und fürs Publikum habe machen müssen, so bin ich dadurch allzeit mehr gebunden gewesen, als bey den Stücken, welche ich bloß für mich verfertigt habe«, lässt er etwas verklausuliert seinen Biografen wissen.

Nichts mehr davon ist in seinen Hamburger Musiken zu spüren: Sie platzen vor Ideen, emotionalen Wechseln und einer unbändigen Energie – die man nur findet, wenn sie angemessen gespielt werden. Carl Philipp Emanuel Bach, ein »Originalgenie«, wie er schon zu Lebzeiten genannt wurde. Und ein wichtiger Inspirator für die nachfolgende Komponistengeneration. Mozart schrieb über Carl Philipp: »Er ist der Vater, wir die Bub’n. Wer von uns was Rechts kann, hat von ihm gelernt; und wer das nicht eingesteht, der ist ein …« 

Diese fast 20 Jahre alte Aufnahme der Akademie für Alte Musik Berlin kommt dem Geist dieser Musik sehr nahe. Schroffe Ausbrüche, zarteste Passagen und unvermittelte Abbrüche folgen im Sekundenabstand aufeinander und werden von der Akademie hemmungslos ausgereizt.

Diese Aufnahme setzte Maßstäbe in der Interpretation der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach und wirkt bis heute nach. ¶

... gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfest ION in Nürnberg und ist Intendant der Köthener Bachfesttage. Außerdem leitet er gemeinsam mit Hans-Joachim Gögl die Montforter Zwischentöne in Feldkirch/Vorarlberg.