Lydia Steier realisiert den Donnerstag aus Stockhausens Licht-Zyklus
Also gut: Sechs Stunden Heiligenvita im christophil-esoterischen Kosmos eines Karlheinz Stockhausen? Selbst mit Sepia-geschwärzten Galaktika-Burgern in der Pause – eine harte Prüfung. Sabine Weber feiert Regisseurin Lydia Steier dafür, dass sich das alles so gelohnt hat.
ZUR EINORDNUNG DES GANZEN – INTRO VON TITUS ENGEL (MUSIKALISCHE LEITUNG)
Die Kürtener Wahrungsanstalt für aufführungspraktisch korrekte Stockhausen-Klangregie sitzt natürlich auch im Boot, in Person einer der letzten Wegbegleiterinnen des Meisters. Kathinka Pasveer hat meist die Finger mit im Spiel, sobald »Stockhausen« auf dem Zettel steht. Bereits Monate vor dem großen Donnerstag sind die zentralen Protagonisten in den Räumen der Stockhausen-Stiftung bei ihr aufgelaufen – vor den Toren Kölns für die Basler Mission. Der Trompeter Paul Hübner ist Michael. Der in New York lebende Tenor Peter Tantsits ist auch Michael. Eine Tänzerin ebenfalls.
Peter Tantsits ist ein exzellenter Hineindenker in knifflige Neue-Musik-Partituren, mit extrem heller Tessitur und einer ungehemmten Spielwut. In der fulminanten Regie von Lydia Steier ist er in einer der besten Produktionen der vorletzten Saison, der Mainzer Produktion von Pascal Dusapins Perelà, uomo di fumo, zur Hochform aufgelaufen! Natürlich ist eine bis ins letzte Detail ausnotierte Stockhausen-Partitur zu verlebendigen auch für ihn eine große Herausforderung!
»THIS MUSIC MAKES YOU A BETTER MUSICIAN.« PETER TANTSITS FEIERT STOCKHAUSEN UND DIE INSZENIERUNG AUF MEHR ALS EINER EBENE AB.

»THE ZEITGEIST OF MUSICAL THEATRE RIGHT NOW.« PETER TANTSITS ÜBER DEN SPIRIT DER INSZENIERUNG.
Und der Ruf des Namens der in Berlin lebenden US-amerikanischen Regisseurin Lydia Steier lockt auch die Stockhausen-Misstrauischen. Weihrauchfallen auszuschalten; wenn nicht ihr, wem dann ist das zuzutrauen? Donnerstag ist der Michaelstag in dem nach Tagen geordneten Licht-Opernzyklus, dem Welttheater. Er handelt davon, wie Michael aufwächst, Prüfungen besteht, auf Reisen geht und nach einer Kreuzigung als Lichtgestalt im Himmel ankommt. Das klingt ja so naiv. Ist es aber in der aktuellen Basler Produktion nicht: Den ersten Akt inszeniert Steier als Trauma zwischen hilfloser Mutter im grellgelben Dirndl (Anu Komsi mit wahnsinnigen Spitzentönen) und strengem Oberlehrer-Vater in ledernen Reithosen und Stiefel (Michael Leibundgut, dauerabonniert in Stockhausen-Opern). Die Mutter landet in der Psychiatrie. Und sind die Ärzte einmal auf dem Plan, bleiben sie es auch für ›Michaels Prüfung‹ – eine Gesangsszene mit OP-Schwester am Klavier und Michael auf dem Behandlungsstuhl. Diesen Akt stemmen die Musikerinnen und Sänger übrigens ohne Dirigenten. Und die Synchronizität der dreigeteilten Persönlichkeiten ist eine ungewohnte Erfahrung, die Stockhausens Partitur aber verlangt.

»THE TENOR; THE TRUMPET AND THE DANCER« PETER TANTSITS ÜBER DIE AUFSPALTUNG DER PARTITUR BIS INS VISUELLE HINEIN.
Dirigent Titus Engel kommt erst zum zweiten Akt in den Graben. Und der spielt in der geschlossenen Anstalt. ›Michaels Reise‹ läuft in einer witzigen Filmpräsentation für sedierte Insassen ab. Das Entkommen dann wie in Einer flog übers Kuckucksnest: Michael begehrt auf und befreit sich und die Insassen. Die Sängerakteure bleiben in diesem Akt übrigens alle stumm. Ein Trompetenkonzert mit Elektronik, mit im Graben und auf der Bühne verteilten Musikern.

TITUS ENGEL ÜBER DIE VERRÄUMLICHUNG DES KLANGES ALS STATE-OF-THE-ART BEI STOCKHAUSEN.
Der Trompeter ist Michaels zweite Stimme, er jongliert mit kegelförmigen Dämpfern, die er spielend aus der Tasche zieht oder die ihm von der Michael-Tänzerin wie Wasser und Weingefäße bei der Wandlung gereicht werden, Tempeltänzergesten inklusive. Alles ziemlich durchgeknallt. Aber sogar das von Stockhausen vorgeschriebene Schwalben-Duett mit den beiden Klarinettenspielern fügt sich prima in die Klapse. Jeden Stockhausen-Einfall macht Lydia Steier schlüssig. Virtuos entwickelt sie eine Szene aus der nächsten. Und fegt den Abstraktionsanspruch aus den Noten. Sie spielt sogar mit Musikakzenten, die sie in Gesten umsetzt. Auch die von Stockhausen den Hauptpersonen zugeordneten Instrumentalist/innen macht sie zu unverzichtbaren Akteuren im Bild. Die Bassetthornspielerin Merve Kazokoglu gehört zur Mutterfigur. Die Posaune ist die Klangfarbe des Vaters (Stephen Menotti). Trompetenspieler Paul Hübner ist Michaels virtuoser Solistenpartner.

NOCHMAL ZURÜCK ZU WAGNER: TITUS ENGEL ÜBER THINKING BIG.
Übrigens ist auch das Bühnenbild von einem Detail geprägt, das auf die Trompete verweist. Aus der Mitte ragt ein nach oben breiter werdender verglaster Hohlkörper auf, der die Form des Trompetendämpfers aufgreift. In ihm wiederholt sich unentwegt eine traumatische Mutter-Kind-Vater-Szene mit grell-pinker Geburtstagstorte, gespielt von Personen mit Riesenpappmaché-Köpfen.
Die pinke Torte spielt noch einmal im oratorienhaften letzten Akt mit Chor, ›Michaels Heimkehr‹, eine Rolle. Michael kommt als Jesus Christ Superstar im weißen Langrock im Himmel an und wird von hysterischen Chorfans auf der Showtreppe links und rechts des Zylinders begrüßt. Doch dann fährt die grell rosa Torte hinein. Luzifer steigt mit Posaune, jetzt sein Instrument, und Tänzer heraus. Und mischt die Himmlischen auf. Das ist noch amüsant. Aber Michaels anschließender verquaster Monolog über die Macht der Musik zwischen Himmel und Erde wirkt ermüdend. Dagegen ist auch Lydia Steier machtlos. Nur gut, dass sie diesen Jesus-Michael von Peter Tantsits Verkörperung abspaltet und vom Basler Ensemble-Tenor Ralf Romei singen und verkörpern lässt. Dieser Michael ist ein anderer als der, mit dem wir zuvor mitgegangen sind. Im Schlussbild sitzen alle fünf Michael-Verkörperungen vereint wie Jünger auf der Treppe. Klanglich gelingt diese Produktion großartig, perfekte Verräumlichung, und das in einem Repertoiretheater! Es ist nicht auszumachen, welches Instrument vom Band kommt, welches live erklingt. Überzeugend auch die Instrumentalisten des Sinfonieorchester Basels, die bereits zum Willkommensgruß als Pop-Kombo im Beatles-Look im Foyer aufgespielt haben, mit Titus Engel als Bandleader im grellroten Kord-Anzug. So unterhaltsam hat man eine Stockhausen-Oper jedenfalls noch nie erlebt. Lydia Steier bringt Stockhausen auf Augenhöhe und stellt ihn unter Repertoire-Verdacht. Schon allein dafür hat es sich gelohnt, nach Basel zu fahren. Unmittelbar auf den schwarzen Brexit-Donnerstag – letzten Donnerstag – folgend, ist dieser sich am Samstag entfaltende Donnerstag lichtvoll, auch wenn die Schweizer Nationalelf zeitgleich aus der EM gekickt wurde. Die aus aller Welt angereisten Stockhausen-Fans hat das nicht berührt. Und während die Trompeten noch zum Abschied von Basler Balkonen und Dächern auf dem Theaterplatz blasen, rauscht Kathinka Pasveer mit Rollkoffer bereits zum nächsten Einsatz. Im blauen Kleid, nach Stockhausen der Farbe des Donnerstags. ¶
