Einleitung zur Serie
Die sogenannte »Alte Musik« hat großes Pech mit ihrer Etikettierung. Wer will schon alt sein? Gemeint war der Begriff ursprünglich mal als Kampfansage an das musikalische Klassik-Establishment, eine Abgrenzung, ein Ausrufezeichen des »wir-sind-anders«. Etwas subversiv-alternativ, manchmal vielleicht auch naiv. Inzwischen hat sich die Alte Musik selber ins Establishment geschlichen, in die Hochschulen, die Konzertsäle und die Medien.
Unendlich viele Aufnahmen Alter Musik sind erschienen, Dutzende mehr oder weniger stark unterschiedliche Vergleichsaufnahmen der Hauptwerke, selbst Musik von Komponisten aus der dritten Reihe ist vielfach eingespielt worden, Entdeckungen werden immer seltener.
Vielleicht ist es deshalb wichtig, im Dschungel der Vielfalt etwas Orientierung zu bieten. Dies ist die dritte Folge von FAT CREAM, einer Reihe, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder enzyklopädischen Charakter erhebt. Sie ist kompromisslos aus Lieblingsstücken, Lieblingsaufnahmen, Lieblingskünstlern oder autobiografisch gefärbten Hörerlebnissen zusammengestellt.
Musik, die glücklich machen kann, Musik die mir wichtig erscheint, für mich wichtig ist oder war. Und Klangwelten, in die man hineingezogen wird. Die spannende Frage an mich selber dabei ist: Gibt es Aufnahmen, die auch über längere Zeiträume hinweg alle Moden, sich verändernde Hörgewohnheiten, technische Errungenschaften und Geschmacksentwicklungen überdauern? Welche Aufnahmen haben das Potential eines »Klassikers«? Mit dieser Fragestellung durchforste ich jetzt neuerdings mein Gedächtnis wie meine Alte-Musik-CD-Sammlung und befrage Freunde und Kolleg/innen. Und begegne altvertrauten musikalischen Begleitern wieder, die ich fast vergessen hatte – obwohl ich ihnen viel zu verdanken habe.
Arcangelo Corelli: Sonate a Violino e Violone o Cimbalo op. V
Sigiswald Kuijken, Wieland Kuijken, Robert KohnenACCENT ACC 48433D, 1984
Heute geht es wieder um einen Klassiker im dreifachen Sinn: Die Musik selbst wurde schon zu Lebzeiten des Komponisten für unsterblich erklärt, die Einspielung durch Sigiswald Kuijken Anfang der 80er Jahre trug wesentlich zur Wiederentdeckung dieses Repertoires bei und setzte schließlich durch ihren einzigartigen Stil Maßstäbe für die Interpretation barocker Geigenliteratur.
Arcangelo (=Erzengel) Corelli veröffentlichte im Jahre 1700 seine 12 Sonate a Violino e Violone o Cimbalo, als sein Opus No. 5 – wie ein Ausrufezeichen zum Auftakt des neuen Jahrhunderts. Als Geiger hatte Corelli in Rom schon internationalen Ruhm erworben, er galt als »Orpheus unserer Tage« oder »Christoph Columbus der Musik«. Ein Entdecker neuer musikalischer Welten also.
Tatsächlich trug Corelli maßgeblich zur formalen Entwicklung der Sonate und des Concerto grosso bei, er schuf archetypische Kompositionen, die er in sorgfältig gedruckten und geordneten Sammlungen in die Welt entließ. Das Titelkupfer seiner Sonatensammlung op. 5 ziert eine langatmige, für heutige Vorstellungen unglaublich komplizierte und unterwürfige Widmung:
DEDICATE ALL ALTEZZA SERENISSIA ELETTORALE DI | SOFIA CARLOTTA | ELETTRICE DI BRANDENBVRGC | PRINCIPESSA DI BRVNSWICH ET LVNEBVRGO DVCHESSA DI | PRVSSIA E DI MAGDEBVRGO CLEVES GIVLIERS BERGA STETINO | POMERANIA CASSVBIA E DE VANDALI IN SILESIA CROSSEN | BVRGRAVIA DI NORIMBERG PRINCIPESSA DI HALBERSTATT | MINDEN E CAMIN CONTESSA DI HOHENZOLLERN E | RAVENSPVRG RAVENSTAIN LAVENBVRG E BVTTAV.
Hinter dieser Titelaufzählung verbirgt sich Sophie Charlotte von Preußen, Namensgeberin von Schloss Charlottenburg und Großmutter Friedrichs des Großen. Eine gebildete wie kunstsinnige Frau und große Mäzenin ihrer Zeit. Sie sprach neben ihrer Muttersprache fließend Italienisch, Französisch und Englisch, holte den Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz nach Berlin und korrespondierte mit vielen bedeutenden Künstlern. Am Berliner Hof unterhielt sie eine beachtliche Kapelle und bespielte ein eigenes kleines Opernhaus.
Ob Corelli mit ihr in Kontakt stand, ist nicht bekannt. Die Motivation für derlei Widmungen lag ohnehin weniger in der grenzenlosen Bewunderung der Potentatin, sondern in der Hoffnung auf finanzielle Zuwendungen und/oder prestigeträchtige Titel wie dem eines »Hofcompositeurs«.
In jedem Fall trugen die Sonaten einiges zum europäischen Kultur-Ruhm der Sophie Charlotte bei, denn die Sammlung wurde nichts weniger als ein Welterfolg. 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung gab es mindestens 40 verschiedene Druck-Ausgaben und mehr als 20 Bearbeitungen.
Der belgische Barockgeigenpionier Sigiswald Kuijken hat mit dieser und vielen anderen Aufnahmen als einer der ersten wirklich überzeugend gezeigt, wie weit die reguläre oder auch »moderne« Art, Violine zu spielen von der barocken Idee entfernt ist. Seine nach historischen Quellen rekonstruierte Technik, bei der die Geige nicht zwischen Schultern und Hals eingeklemmt, sondern einfach auf das Schlüsselbein aufgelegt wird, bringt einen völlig anderen Klang und erfordert eine ganz andere Bogenführung.
Die Virtuosität der Geiger des 18. Jahrhunderts bestand nicht nur aus einem möglichst schnellen Spiel. Auch ein möglichst langsamer und »sparsamer« Bogenstrich, bei intensiver Klangerzeugung, konnte zur Ohnmacht von entzückten Zuhörerinnen führen, denen vor Spannung der Atem stockte. Zeitgenössische Violinschulen empfehlen die intensive tägliche Übung des langsamen Bogenstrichs – auf leeren Saiten. Mindestens ebenso wichtig wie die technische Perfektion aber war auch die Improvisationsfreudigkeit des Interpreten: Die Komponisten lieferten quasi nur den Rohstoff, den die Geiger wie im Falle dieser Sonaten möglichst fantasie-, aber auch geschmackvoll, auszufüllen hatten. Der Erstdruck zeigt zwei Varianten der ersten sechs Sonaten: Die »Rohversion« der Komposition und eine Variante mit ausgedehnten, hochvirtuosen Verzierungen. Sigiswald Kuijken stellt in seiner Aufnahme sowohl einige Versionen mit den notierten Ausschmückungen als auch mit eigenen Verzierungen vor.
Für mich war diese Aufnahme damals eine Sensation – wie für viele andere auch, die das Universum dieses bis dahin kaum bekannten Geigenuniversums zu erkunden suchten. Hörenswert ist sie bis heute. ¶