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Staat, Gewalt und Widerstand in der Oper

Text · Übersetzung · Titelbild François Dubois, Bartholomäusnacht · Datum 18.5.2016

Während er seine Exekution durch ein Erschießungskommando erwartet, singt der Maler Cavaradossi: »und ich sterbe verzweifelt! … Und hab das Leben niemals so sehr geliebt!« Eine Arie der Träumerei, der Klage und des verborgenen Protests gegen die, die ihn gefangenhalten. In dieser Oper, Puccinis Tosca von 1900, tauchen die Macht und das Böse nicht als Abstraktionen auf: Der Polizeichef Scarpia verhaftet und foltert Cavaradossi, als Strafe dafür, dass er einem entkommenen politischen Gefangenen geholfen hat, und um Caravadossis Geliebte, Tosca, in Schrecken zu versetzen.

Was in der Oper passiert, mag von der Willkür von Göttern, Tyrannen, Clowns oder Seeungeheuern abhängen; dennoch verbinden viele Werke das Fantastische mit den profanen Vergehen der Mächtigen. Selbst eine so rauschhafte Pralinenschachtel wie die Zauberflöte stellt instutionelle Gewalt dar: Mord, Kidnapping, Vergewaltigung, Einschüchterung und den Sturz einer Regierung. Doch dann und wann erhebt sich eine einzelne Stimme, manchmal ein Chor, und erhaben schallt es dann für den Frieden, für die Rechte der Menschen. Die Zuhörer/innen dürfen weinen, sich dem Vergnügen ergeben, nachdenken – und sich eine bessere Welt vorstellen, auf und außerhalb der Bühne.

In chronologischer Reihenfolge ihrer Uraufführungen ist diese Playlist eine Hommage an die fast 375 Jahre, in denen Opern Unterdrückung, Tyrannei, Freiheitsdrang und Protest erforscht haben. Die Auswahl hält bekannte Bedrohungen (und Spoiler) bereit, versucht aber an keiner Stelle, die politischen Überzeugungen von antiken Römern, von russisch-orthodoxen Schismatikern, Bonapartisten oder Komponisten irgendwie in Einklang zu bringen. In Sidney Lumets Film Serpico von 1973 ist der Opernliebhaber, eine an Cavaradossi angelehnte Figur, kein Maler, sondern ein Bulle, der Korruption innerhalb der New Yorker Polizei bekämpft. Frank Serpico liegt in seinem Garten, hört Giuseppe Di Stefano in einer Aufnahme von Tosca singen, ein paar Minuten später wird er von seinen Kollegen verraten und erschossen. Das soll als Warnung taugen: Wenn du gegen das System kämpfst, denk zwei mal darüber nach, E lucevan le stelle lauter zu stellen – und wenn schon, dann dreh’ es auf bis zum Anschlag.

Claudio Monteverdi, Giovanni Francesco Busenello – Die Krönung der Poppea (1643); III. Akt, Scene 8: ›Pur ti miro‹; Danielle Borst (Sopran), Guillemette Laurens (Mezzosopran), Concerto Vocale mit René Jacobs (Leitung)

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Warum sollte in dieser Liste eine Oper auftauchen, in der Nero und seine Mätresse Poppea dessen Ehefrau und alle politischen Gegner verbannen, den Senat und das Volk unterwerfen, Seneca dazu bringen, Selbstmord zu begehen und als Finale ein ergreifend zartes Liebesduett singen – eine akustische Umarmung, wenn es je eine gegeben hat –, ohne auch nur einen einzigen Rückschlag erdulden zu müssen? Nun: Weil so absolute Macht funktioniert.

Henryk Siemiradzki, Die lebenden Fackeln des Nero, 1872
Henryk Siemiradzki, Die lebenden Fackeln des Nero, 1872

Georg Friedrich Händel und Nicola Francesco Haym – Giulio Cesare in Egitto / Julius Cäsar HWV 17 (1724); I. Akt, 3. Szene: ›Empio, Dirò, Tu Sei‹; Pascal Bertin (Countertenor), Les Musiciens du Louvre mit Marc Minkowski (Leitung)

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Händels Vorliebe für die Romanze aus Staatskalkül reichte von politischen Rivalitäten in der Lombardei des 17. Jahrhunderts (Rodelinda) über die Kreuzzüge (Rinaldo) zu den Eroberungszügen der Timuriden (Tamerlano). In Giulio Cesare erblühen und vergehen Imperien allein durch die Kraft der Verführung, der Rache – und verschiedener Armeen. Ja, da ist vielleicht etwas hinterlistiges an Cäsars finaler Freiheits- und Friedenserklärung an Ägypten … wo der ägyptische König doch schon getötet ist und Kleopatra dem römischen Reich die Treue zugesagt hat. Dennoch wissen wir sie zu schätzen, seine wachsende Empörung in dieser Arie, als ein Verbündeter ihm den Kopf eines gemeinsamen Feindes schickt. Also doch ein musikalischer Protest gegen Kriegsverbrechen.

Christoph Willibald Gluck and Nicolas-François Guillard – Iphigénie en Tauride (1779): II. Akt, Air et Choeur: ›O malheureuse Iphigénie!‹; Carol Vaness (Sopran), Orchestra del Teatro alla Scala mit Riccardo Muti (Leitung)

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Der unglücklichen Iphigenie ist es beschieden, der erste Todesfall der Trojanischen Kriege zu sein, geopfert vom Vater Agamemnon … doch dann laufen die Dinge für sie noch schlechter. Die Göttin Diana errettet sie vor dem Messer, aber lässt sie im tauridischen Exil, wo der König sie zu einer schrecklichen Aufgabe zwingt: Sie muss der Göttin Diana die Schiffbrüchigen opfern. Sowohl Bestrafte als auch Henkerin, singt Iphigenie voller Würde, Verzweiflung und voller Vertrauen in die Werte des Königtums – das allerdings fehl am Platze ist. Manche Hörer/innen mögen das Stählerne an Carol Vaness’ Gesang nicht, aber man bedenke: Das hier ist eine Frau, die irgendwie versucht Mut zu fassen, angesichts der Aufgabe, öffentlich sanktionierten Mord zu begehen.

Wolfgang Amadeus Mozart und Caterino Mazzolà – La Clemenza di Tito / Die Milde des Titus (1791) K. 621, II. Akt, No. 20; ›Se All’impero, Amici Dei‹; Mark Padmore (Tenor), Freiburger Barockorchester mit René Jacobs (Leitung)

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Herrscher sollten nicht irgendwelche anderen Leute gegen deren Willen heiraten. Wer Kaiserin werden will, sollte keine Killer auf den Kaiser ansetzen. Man sollte nicht andere in Handlungsabläufe verwickeln, bei denen sie exekutiert werden. Nachdem all diese Untugenden nun einmal aufs Tablett gebracht worden sind, gibt diese Oper in immer königlicheren Koloraturen zu bedenken, dass Gnade und Großmut immer noch die beste Art der Autorität sind.

Ludwig van Beethoven mit Joseph Sonnleithner und Georg Friedrich Treitschke – Fidelio (1814); ›Gott! Welch’ Dunkel hier!‹; Jon Vickers (Tenor), Philharmonia Orchestra mit Otto Klemperer (Leitung),

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Im Spanien des 18. Jahrhunderts verkleidet sich Leonore als Kerl und erhält eine Arbeit im Gefängnis; so kann sie nach ihrem Ehemann suchen, einem vermissten politischen Gefangenen. Sie findet ihn, dem einsamen Tode nah, kurz bevor er umgebracht und in ein namenloses Grab geworfen werden soll. Leonore errettet ihn, der Minister kann noch rechtzeitig die mörderischen Pläne des Gouverneurs des Staatsgefängnisses verhindern. Vielleicht kann die Intepretationslinie »Institutionelle Gewalt geht von ein paar faulen Äpfeln aus« nicht vollständig zufriedenstellen; dafür tut das Florestans Arie in orientierungsloser, leidvoller Gefangenschaft: Vickers’ Interpretation manifestiert die totale Dunkelheit der Zelle, durch die ein dünner Strahl der Hoffnung leuchtet.

Gioachino Rossini and Andrea Leone Tottola – La Donna del Lago / Die Dame vom See (1819); I. Akt, 9. Szene: ›Cavatina: Crudele Sospetto‹; Gregory Kunde (Tenor), Carmen Giannattasio (Sopran), Patricia Bardon (Mezzosopran), Robert Gleadow (Bariton), Scottish Chamber Orchestra mit Maurizio Benini (Leitung)

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Der Bürgerkrieg tobt im Schottland des 16. Jahrhunderts, der König schickt Truppen gegen den Clan der Frau, die er liebt; ein Vater zwingt seine Tochter in eine Verlobung von politischem Vorteil. Sopran und ein Mezzosopran in einer Hosenrolle (Kilt-Rolle!) verlieben sich im Moor. Wie sich ihre Gesangslinien an- und ineinanderwinden, muss jeder/m die Ahnung dräuen, dass sich ihre Liebe der Macht von Prinzen und Vätern als überlegen erweisen wird.

Gaetano Donizetti und Giuseppe Bardari – Maria Stuarda / Maria Stuart (1835); Akt III: ›Io vi rivedo alfin… Deh! Tu di un’umile preghiera‹; Joyce DiDonato (Mezzosopran), Orchester und Chor der Opéra National de Lyon mit Riccardo Minasi (Leitung)

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Ein Motiv, das sich durch alle der sogenannten Tudor-Opern von Donizetti zieht, ist die Vergeblichkeit, nach einem glücklichen Leben (oder einer glücklichen Zeit) zu streben, in der Nähe von Menschen, die auch das eigene Todesurteil unterschreiben könnten. Wenn man so einen liebt, dann ist die einzig mögliche Freude die, wie ein Engel zu singen, während man zum Schaffott geht. Hör’ dir dieses Pianissimo an und heul’ als wärst du einer von Maria Stuarts Dienern. Dann hör’s dir noch einmal von Joan Sutherland oder Beverly Sills an: Spiel’ es den ganzen Tag, immer und immer wieder, und werde zu einem Häufchen bebenden Schluchzens.

Giacomo Meyerbeer und Eugène Scribe/Émile Deschamps – Les Huguenots / Die Hugenotten (1836), Akt V: Finale Szene – ›Par le fer et par l’incendie‹ American Symphony Orchestra mit Leon Botstein (Leitung),

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Im markerschütternden Schlusschor singen Soldaten: »Gott will es, ja, Gott will ihr Blut!« während der Bartholomäusnacht von 1572, als französische Katholiken Tausende von Hugenotten abgeschlachtet haben. (In Sowjetrussland sollte das Libretto später umgeschrieben werden, um den Dekabristen Ehre zu erweisen, die im Dezember 1825 dem russischen Zaren Nikolaus den Eid verweigerten.) Meyerbeer ist der erfolgreichste unbekannte Opernkomponist. Der deutsch-jüdische Superstar befeuerte früh Wagners Karriere, zum Beispiel, indem er Rienzi auf die Bühnen brachte – nur um dann später in einem antisemitischen Traktat Wagners aufzutauchen, das seine musikalischen Verdienste komplett ausließ.

Richard Wagner, nach dem Roman von Edward Bulwer-LyttonRienzi (1842), V. Akt: ›Allmächt’ger Vater, blick herab‹; Jonas Kaufmann (Tenor), Orchester der Deutschen Oper Berlin mit Donald Runnicles (Leitung),

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Noch eine Rienzi-Anekdote: Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Hitler das autographe Manuskript der Oper in seinem Bunker aufbewahrte, wo es zerstört wurde. (Wagner ist mein Lieblingskomponist, und sein besorgniserregendes politisches Erbe kann man nicht von der Musik trennen, es ist einfach eine nicht endende produktive Komplikation.) Was die Oper betrifft: Niemand sieht gerne, wie einer, der mit und für das Volk gekämpft und versucht hat, ein durch die Kriege von Adelssippen verheertes Land zu vereinen, wie sich so einer der Ideale unwürdig erweist, zu denen er sich selbst bekannt hat. Aber nachdem er einen Staatsstreich durchgeführt, die absolute Macht beansprucht und seine politischen Feinde beseitigt hat, wirkt sein Gebet, Gott möge ihm wieder Autorität verleihen, genauso anmaßend wie es verzweifelt und flehend ist. Es gibt einige großartige historische Aufnahmen dieser Arie; diese habe ich ausgewählt, weil sie so erstaunlich viele Schichten von Arroganz und Verletzlichkeit hat.

Francisco de Goya y Lucientes, Awwakum auf dem Scheiterhaufen, 1812-1819
Francisco de Goya y Lucientes, Awwakum auf dem Scheiterhaufen, 1812-1819

Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave – Rigoletto (1851), 2. Akt: ›Povero Rigoletto!‹; Tito Gobbi (Bariton), Orchestra Del Teatro Alla Scala mit Tullio Serafin (Leitung)

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Während ich im Jahr 2014 über den Bericht des U.S. Senate Intelligence Committee über Folter bei der CIA schrieb, hörte ich nonstop verschiedene Verdi-Opern, die Politik und Gewalt behandeln, zum Beispiel Simon Boccanegra (Verschleppung, Vertreibung von Widersachern ins Exil), Don Carlos (Spanische Inqusition, Unterdrückung der Flamen), and Aida (Eroberungskriege, Sklaverei, Todesstrafe). In Rigoletto thematisiert Verdi eine düstere Komplizenschaft: Ein Scherge feuert die Misshandlung von Menschen durch seinen Führer, nur um später den Stich einer Erfahrung aus erster Hand zu spüren. Nach diesem Titel sollte man die Aufnahme weiterlaufen lassen, um Gobbis schluchzenden Gesang einer verdammten Seele zu hören: ›Cortigiani, vil razza dannata‹.

Modest Mussorgsky mit Nikolai Rimsky-Korsakov, Igor Strawinski und Dmitri Schostakowitsch – Khovanschina (1886), I. Akt: ›Aj da! Veselo!‹; Heinz Zednik (Tenor), Orchester der Wiener Staatsoper, Slovak Philharmonic Choir, Konzertvereinigung Wiener Staatsoperncho mit Claudio Abbado (Leitung)

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Gerade erfahren die Leute von den jüngsten Abscheulichkeiten, die von der Palastgarde der Strelizen begangen wurden. Der Chor beklagt den Zustand von Mutter Russland, die zersplittert ist durch westliche Reformer, konservative Gegner der Politik- und Kirchenreform und verkommene, habgierige Kämpfer. Diese Konflikte münden im schrecklichen Spektakel der Selbstverbrennung der Altgläubigen, um der Exektution von Staats wegen zuvorzukommen.

Alexander Borodin – Fürst Igor (1890), II. Akt; Arie von Kontschak, Khan der Polowetzer, ›Wie geht es, Fürst?‹; Boris Christoff (Bass), Philharmonia Orchestra mit Issay Dobroven (Leitung),


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Borodin starb 1887, so mussten Nikolai Rimsky-Korsakov und Alexander Glazunov seine Oper in Ordnung bringen, dieser Prozess zieht sich in alle heutigen Produktionen hinein. Sei es genau diese strukturelle Flexibilität oder sei es thematische Absicht – es scheint, die Oper erforsche den Kreislauf von Verrat, Kampfhandlungen und Mord. An dieser Stelle beklagt Fürst Igor seine Kriegsgefangenschaft. Khan Kontschak bietet ihm seine Freilassung an im Tausch für einen Waffenstillstand und malt aus, was für eine tolle Zeit die beiden zusammen haben könnten, doch der Fürst lehnt ab. Ob die Oper mit einem Wiederaufleben der Feindschaft endet, oder einer andächtigen Neubewertung der Situation – das hängt ganz davon ab, was man als Schlusschor nimmt. Ob Igor dazu verdammt ist, die Geschichte zu wiederholen – immer noch offen.

Grigoriy Myasoyedov, Awwakum auf dem Scheiterhaufen, 1897
Grigoriy Myasoyedov, Awwakum auf dem Scheiterhaufen, 1897

Giacomo Puccini und Giuseppe Giacosa/Luigi Illica – Tosca (1900), II. Akt: ›Vissi d’arte, vissi d’amore‹; Leontyne Price (Sopran), Wiener Philharmoniker mit Herbert von Karajan (Leitung)

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(Neben der göttlichen Leontyne Price singt Di Stefano auf dieser Aufnahme den Cavaradossi.) Nachdem ihr sexuelle Gewalt angedroht worden und sie gezwungen war, die Folter ihres Liebsten mitanzuhören, nimmt Tosca ihre Würde, Großzügigkeit, Unschuld und Hingabe an die Kunst zusammen und will von Gott wissen, warum er sie aufgab. Dann, nach dieser allergroßartigsten, peinigenden, perfekten Arie; wenn das Publikum nicht mehr schreit, weint und Rosen wirft, da wartet Tosca nicht auf Antwort von Gott – da ersticht sie den Polizeichef.

Leoš Janáček, nach dem Roman von Fjodor Dostojewskis – Aus einem Totenhaus (1930): I. Akt: ›Never Again Will My Eyes Behold My Birthplace‹; Prague Philharmonic Choir, Czech Philharmonic Orchestra mit Václav Neumann (Leitung)

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Männer in einem sibirischen Arbeitslager lamentieren, werden verhört und gefoltert, spielen mit Vögeln, bringen sich das Lesen bei, erkennen alte Feinde wieder, kämpfen und führen Pantomimen auf. Vor allem aber singen sie Musik von himmlischer Dissonanz, erzählen sich Geschichten, mit denen sie sich ihrer Menschlichkeit – auch in den schlimmsten Aspekten – versichern, im Angesicht von mörderischen Strafen.

Richard Strauss and Joseph Gregor – Friedenstag (1938): ›Wagt es zu denken‹; Orchester der Bayerischen Staatsoper München mit Joseph Keilberth (Leitung)

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Strauss war Präsident der Reichsmusikkammer, ein Mann, dem die Nazis schmeichelten und der, sogar einigermaßen zurecht hoffte, seine Zusammenarbeit mit ihnen könnte die eigenen jüdischen Familienmitglieder schützen. Die Situation, in der er Friedenstag komponierte war verworren, und das Werk, das Deutschlands Einheit feiert, auch. Dieser Entwurf, mit den Echos aus Fidelio, kann dabei helfen, die eigenen Erwartungen an ideologische, künstlerische und ethische Reinheit wiederaufleben zu lassen, aber auch kritisch zu überprüfen. Vielleicht sollte Friedenstag Antworten wecken, die genauso kühn sind, wie die der Oper, aber mit weniger triumphalen harmonischen Schlussfolgerungen.

Benjamin Britten und E.M. Forster/Eric Crozier – Billy Budd (1951): ›We committed his body to the deep‹; Ian Bostridge (Tenor), London Symphony Orchestra mit Daniel Harding (Leitung)

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In Brittens auf Herman Melvilles Novelle basierender Oper verabschiedet sich ein junger Offizier der Handelsmarine von seinem alten Shiff, der ›Rights o’Man‹, weil er in die Royal Navy gedrängt wurde. Wo Krieg, Meuterei, Prügelstrafen und Kriegsgericht am Horizont auftauchen, scheint es nicht abwegig, dass einer nur wegen seiner Schönheit und Güte kurzerhand exekutiert wird. Eine offensichtlichere Wahl für diese Playlist wäre die Arie des nihilistischen Besessenen, der schwört, er werde Billy zerstören; ich habe mich aber für die Arie des Aufrechten entschieden, der trotz all seiner Macht entscheidet, dass er nicht eingreifen kann.

Jean Duplessis-Bertaux, Tuileriensturm
Jean Duplessis-Bertaux, Tuileriensturm

Francis Poulenc, Libretto nach Georges Bernanos – Dialogues des Carmélites / Gespräche der Karmelitinnen (1957), III. Akt, Szene 4: ›Place De La Revolution‹; Denise Duval (Sopran), Paris Opera Orchestra mit Pierre Dervaux (Leitung)

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In vielen Opern schwillt Protest, Wut und Trauer mit dem Klang von Chören an. In Poulencs Beschwörung eines Ordens von Nonnen, die in der Französischen Revolution zur Guillotine geschickt werden, hören wir ein Ensemble, das ›Salve Regina‹ singt, Stimme für Stimme weniger werdend, durch die unregelmäßigen Akzente der Schneide, bis zu einer einzelnen Sopran-Stimme, dann Stille.

Philip Glass und Constance DeJong, aus der Bhagavadgita – Satyagraha (1980): ›Evening Song‹; Douglas Perry (Tenor), New York City Opera Orchestra mit Christopher Keene (Leitung)

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Ein großer Teil von Glass’ Werk, angefangen bei In the Penal Colony (2000) bis hin zu Appomattox (2007), beschäftigt sich mit staatlicher Gewalt und Unrecht; sein Meisterwerk Satyagraha ist die sonische Entsprechung des gewaltlosen Widerstandes. Die einzelnen Szenen erinnern an Tolstoi, Tagore und King; Gandhis Schlussarie ist der Höhepunkt – der Text handelt davon, wie der Erde Hoffnung zurückgegeben wird; die Musik ist geduldig, leuchtend und herzerweichend. Überhaupt bewegt sich die ganze Oper langsam und unaufhaltsam auf die Möglichkeit von Veränderung zu … da kann jeder Versuch einer Zusammenfassung nur scheitern.

Anthony Davis und Thulani Davis – X, The Life and Times of Malcolm X (1986), I. Akt, 3. Szene / Malcolms Arie: ›You Want the Truth, But You Don’t Want to Know‹; Eugene Perry (Bariton); Orchestra of St. Luke’s mit William Henry Curry (Leitung)

Man würde nicht darauf kommen, dass es zwischen diesen beiden Kommentaren irgendeinen Berührungspunkt gibt: (1) einer Rezension in einer großen Tageszeitung von 1986, die, wenn nicht grundheraus feindselig, doch gleichgültig sowohl in Bezug auf Malcolm X’ Erbe als auch zeitgenössischer Oper und Jazz ist (2) einem Artikel von James Bynum im Magazin ›Souls‹, der auf liebevolle Art die Geschichte von Malcolm mit den musikalischen Wurzeln von Bebop, Swing, Hip-Hop, westafrikanischer Musik und ein paar Jahrhunderten klassischer Opernkultur kombiniert. Dennoch sind sich beide Artikel einig, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, dass das Leben von Malcolm X ein hervorragender Stoff für eine Oper ist.

John Adams und Alice Goodman – *The Death of Klinghoffer” (1991), II. Akt, 3. Szene, Marilyn Klinghoffer: ›You embraced them!‹; Sheila Nadler (Contralto), Kent The Orchestra de L’Opéra De Lyon mit Kent Nagano (Leitung)


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Vielleicht würde Adams’ Oper Doctor Atomic über das Manhattan-Projekt besser in diese Rubrik passen. Aber während der Produktion von ›Klinghoffer‹ an der Metropolitan Opera 2014 besetzten Protestierende die Gehewege vor dem Gebäude, drinnen gab es von den Sitzen Zwischenrufe. Jede Produktion und jede Aufführung bietet Chancen für die Neuinterpretation, ganz egal, was wir denken, bevor der Vorhang hochgeht.

Jake Heggie und Terrence McNally – Dead Man Walking (2000), I. Akt , Szene 7: ›The Pardon Board hearing: The defendant’s mother, Mrs Patrick De Rocher‹; Frederica von Stade (Mezzosopran), Orchestra of Houston Grand Opera mit Patrick Summers (Leitung)

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In Donizettis Opern sind Exekutionen Teil der Vergangenheit; in Puccinis Turandot (1926) gehören sie ins Reich orientalischer Fantasien. Diese Oper basierend auf dem Sachbuch von Schwester Helen Prejean, bringt die Todesstrafe als immer noch aktuelle Frage der Menschenrechte in den Vereinigten Staaten aufs Tablett. Eine Stärke des Buches und der Oper ist die Tatsache, dass einer im Mittelpunkt steht, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat. So wird die Debatte um die Todesstrafe furchtlos zugespitzt.

Nkeiru Okoye – Harriet Tubman: When I Crossed That Line To Freedom (2014), Lieder von Harriet Tubman: ›I Am Moses, The Liberator‹; Louise Toppin (Sopran), Dvorak Symphony Orchestra mit Julius P. Williams (Leitung)


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Jetzt, da auch die US-Regierung sich daran macht, die Abolitionistin, Militärkundschafterin und Kämpferin für die Frauenwahlrechte, Harriet Tubmann auf dem 20-Dollar-Schein abzubilden, soll noch einmal ehrenvoll erwähnt werden, was sie tat: Sie setzte ihr Leben und ihre Freiheit wiederholt aufs Spiel, in Gegenden, wo sie nicht als vollwertiger Mensch anerkannt wurde, um andere Leute zu retten. Sie unternahm subversive und radikale humanitaristische Aktionen, trotzte ungerechten Gesetzen und brachte Freiheit. ¶